VwGH vom 30.01.1996, 95/11/0151

VwGH vom 30.01.1996, 95/11/0151

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Leukauf und die Hofräte Dr. Waldner, Dr. Bernard, Dr. Graf und Dr. Gall als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Neumeister, über die Beschwerde des W in G, vertreten durch Dr. A, Rechtsanwalt in S, gegen den Bescheid des Landeshauptmannes von Niederösterreich vom , Zl. I/7-St-W-951, betreffend Antrag auf Bescheidzustellung und Wiedereinsetzung in Angelegenheit Entziehung der Lenkerberechtigung, zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird, soweit der Antrag auf Zustellung des Bescheides der Bezirkshauptmannschaft Korneuburg vom zurückgewiesen wird, wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Im übrigen wird die Beschwerde als unbegründet abgewiesen.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von S 12.890,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren wird abgewiesen.

Begründung

1. Mit Beschluß des Bezirksgerichtes Amstetten vom wurde die weitere Anhaltung des Beschwerdeführers in einer geschlossenen Anstalt für zulässig erklärt und ausgesprochen, daß die Wirksamkeit dieses Beschlusses mit Ablauf von drei Monaten erlösche.

In der Begründung dieses Beschlusses wurde ausgeführt, daß nach dem Gutachten des gerichtsärztlichen Sachverständigen, das mit der Diagnose des Anstaltsarztes und mit den richterlichen Wahrnehmungen übereinstimme, beim Beschwerdeführer eine paranoide Psychose bestehe. Er erscheine nicht geistesgesund, weshalb eine Entlassung aus der Anstalt nicht verfügt werden könne.

2. Gestützt auf diesen Gerichtsbeschluß vertrat der ärztliche Sachverständige der Bezirkshauptmannschaft Korneuburg in seinem Gutachten vom die Auffassung, der Beschwerdeführer sei aufgrund der Erkrankung zum Lenken von Kraftfahrzeugen derzeit nicht geeignet.

3. Mit Schreiben vom setzte diese Behörde den Beschwerdeführer vom Inhalt des genannten Gerichtsbeschlusses und des ärztlichen Sachverständigengutachtens sowie von ihrer Absicht, die Lenkerberechtigung zu entziehen, in Kenntnis und räumte ihm die Gelegenheit ein, zum Ergebnis der Beweisaufnahme binnen zwei Wochen Stellung zu nehmen. Dieses Schreiben wurde vom Beschwerdeführer im Niederösterreichischen Landeskrankenhaus für Psychiatrie und Neurologie in Mauer am übernommen.

4. Mit Bescheid vom entzog die Bezirkshauptmannschaft Korneuburg dem Beschwerdeführer die Lenkerberechtigung für Kraftfahrzeuge der Gruppen B, C, E, F und G "bis zur behördlichen Feststellung der Wiedererlangung der körperlichen bzw. geistigen Eignung zum Lenken von Kraftfahrzeugen".

Auf das Ersuchen um Zustellung dieses Bescheides antwortete die Direktion des genannten Krankenhauses, daß der Beschwerdeführer am aus der Anstalt entwichen sei.

Nach vergeblichen Versuchen, die Anschrift des Beschwerdeführers zu ermitteln, ersuchte die Behörde das Postamt Mauer-Öhling um Zustellung des Bescheides durch Hinterlegung ohne vorausgehenden Zustellversuch gemäß § 8 Abs. 2 Zustellgesetz. Diese Hinterlegung wurde am vorgenommen.

5. Mit Schriftsatz vom beantragte der (nunmehr durch einen Rechtsanwalt vertretene) Beschwerdeführer die Zustellung des Bescheides vom und die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist und erhob gleichzeitig Berufung.

Den Antrag auf Bescheidzustellung begründete er damit, daß ihm der Bescheid nie zugestellt worden sei. Erst durch die von seinem Vertreter vorgenommene Akteneinsicht habe er von dem Bescheid Kenntnis erlangt. Dies ersetze jedoch nicht die Bescheidzustellung.

Für den Fall, daß zum Zwecke der Zustellung des Bescheides für ihn ein Zustellkurator bestellt worden sein sollte, habe dieser treuwidrig kein Rechtsmittel erhoben. Dies sei für den Beschwerdeführer ein unabwendbares und unvorhersehbares Ereignis.

6. Mit dem im Instanzenzug ergangenen Bescheid der belangten Behörde vom wurde dem Antrag auf Bescheidzustellung nicht stattgegeben und der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand abgewiesen.

In der Begründung dieses Bescheides vertritt die belangte Behörde die Auffassung, die Erstbehörde sei zur Zeit der Verständigung vom Ergebnis der Beweisaufnahme vom zu Recht davon ausgegangen, daß die "Rechtspersönlichkeit" des Beschwerdeführers in diesem Zeitpunkt "nicht beschränkt war". Wer zwar prozeßfähig, jedoch infolge eines Gebrechens nicht in der Lage sei, erforderliche Verfahrenshandlungen zu setzen, sei nicht postulationsfähig und könne sich eines gewillkürten Vertreters bedienen. Im Zeitpunkt der Gewährung des Parteiengehörs sei kein Grund zur Annahme vorgelegen, daß die Handlungsfähigkeit des Beschwerdeführers nicht gegeben sei. Er habe daher Kenntnis von der Absicht der Behörde, ihm die Lenkerberechtigung zu entziehen, erlangt und gewußt, daß ein behördliches Verfahren gegen ihn anhängig sei. Da er es unterlassen habe, die Änderung der Abgabestelle der Behörde mitzuteilen, seien die Voraussetzungen für die Zustellung nach § 8 Abs. 2 Zustellgesetz gegeben gewesen.

Der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand sei abzuweisen gewesen, weil der Beschwerdeführer schuldhaft die Änderung der Abgabestelle nicht mitgeteilt habe. Infolge dieser Unterlassung sei es dazu gekommen, daß er die Berufungsfrist nicht habe einhalten können. Aufgrund dieses Verschuldens lägen die Voraussetzungen für die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht vor.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof erwogen hat:

7.1. Insoweit die persönliche Rechts- und Handlungsfähigkeit von Beteiligten in Frage kommt, ist sie zufolge § 9 AVG von der Behörde, wenn in den Verwaltungsvorschriften nicht anderes bestimmt ist, nach den Vorschriften des bürgerlichen Rechts zu beurteilen.

Gemäß § 865 ABGB sind Personen, die den Gebrauch der Vernunft nicht haben, geschäftsunfähig.

7.2. Zu der im angefochtenen Bescheid geäußerten Auffassung, im Zeitpunkt der Gewährung des Parteiengehörs sei kein Grund für die Annahme vorgelegen, dem Beschwerdeführer fehle die Handlungsfähigkeit, wird in der Gegenschrift ausgeführt, daß im Akt kein Gutachten betreffend die Handlungsunfähigkeit vorhanden gewesen sei. Das amtsärztliche Gutachten vom betreffe lediglich die Eignung zum Lenken von Kraftfahrzeugen. Der Beschwerdeführer hätte im Verfahren zur Entziehung der Lenkerberechtigung den Nachweis erbringen müssen, daß er am die "Rechts- und Handlungsfähigkeit" nicht besessen habe.

7.3. Der belangten Behörde ist entgegenzuhalten, daß das Verfahren zur Entziehung der Lenkerberechtigung aufgrund des unter Pkt. 1. genannten Gerichtsbeschlusses eingeleitet wurde, nach dessen Inhalt beim Beschwerdeführer eine paranoide Psychose bestehe und er nicht geistesgesund erscheine. Bei einer Person, die aufgrund einer gerichtlichen Entscheidung nach der Entmündigungsordnung wegen einer Geisteskrankheit oder einer dieser gleichzuhaltenden vorübergehenden geistigen Störung in einer geschlossenen Anstalt angehalten wurde (vgl. nunmehr die Bestimmungen der §§ 3 und 8 ff des Unterbringungsgesetzes), durfte die Behörde nicht ohne weiteres davon ausgehen, daß sie prozeßfähig ist, d.h. daß sie in der Lage ist, Bedeutung und Tragweite des Verfahrens und der sich in ihm ereignenden prozessualen Vorgänge zu erkennen, zu verstehen und sich den Anforderungen eines derartigen Verfahrens entsprechend zu verhalten (siehe das hg. Erkenntnis vom , Slg. Nr. 11.410/A). Aufgrund des Inhaltes des Anhaltungsbeschlusses mußten bei der Behörde vielmehr gravierende Bedenken bestehen, ob der Beschwerdeführer im Sinne des Gesagten prozeßfähig ist. Da der Mangel der Prozeßfähigkeit von der Behörde in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen wahrzunehmen ist (siehe die bei Hauer-Leukauf, Handbuch des österreichischen Verwaltungsverfahrens4, unter E. Nr. 14a zu § 9 AVG zitierte hg. Rechtsprechung), hätte die Behörde prüfen müssen, ob der Beschwerdeführer - trotz seiner Anhaltung in einer geschlossenen Anstalt wegen einer geistigen Störung - prozeßfähig ist, und - je nach dem Ergebnis dieser Prüfung - nach § 11 AVG vorgehen müssen oder das Verfahren mit dem Beschwerdeführer selbst durchführen können.

Die Frage, ob die Behörde zu Recht von § 8 Abs. 2 Zustellgesetz Gebrauch gemacht hat, hängt entscheidend davon ab, ob der Beschwerdeführer zur Zeit der Zustellung des Schreibens vom und des Entweichens aus der Anstalt, also im Oktober 1986, prozeßfähig war. Diese Prüfung hat die belangte Behörde unterlassen, weil sie - wie ihre Ausführungen in der Gegenschrift zeigen - die unrichtige Rechtsansicht vertreten hat, der Beschwerdeführer hätte im Verfahren zur Entziehung der Lenkerberechtigung das Fehlen seiner Handlungsfähigkeit nachweisen müssen, mangels eines solchen Nachweises sei davon auszugehen gewesen, daß er handlungsfähig gewesen sei. Die belangte Behörde hat daher ihren Bescheid, soweit er den Antrag des Beschwerdeführers auf Bescheidzustellung betrifft, mit Rechtswidrigkeit seines Inhaltes belastet. Der angefochtene Bescheid war demnach insoweit gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG aufzuheben.

8. Der Beschwerdeführer hat seinen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist damit begründet, daß (allenfalls) ein für ihn bestellter Kurator kein Rechtsmittel erhoben habe. Allein dieses Vorbringen war Gegenstand der Prüfung durch die Behörde (siehe die bei Hauer-Leukauf, aaO. unter E. Nr. 3 zu § 71 Abs. 2 AVG zitierte hg. Rechtsprechung). Da sich herausgestellt hat, daß ein Kurator für den Beschwerdeführer nicht bestellt wurde, hat die belangte Behörde den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand schon deshalb im Ergebnis zu Recht abgewiesen. Auf die von der belangten Behörde gegebene Begründung, in der von einem die Wiedereinsetzung ausschließenden Verschulden des Beschwerdeführers ausgegangen wird, brauchte daher nicht näher eingegangen zu werden.

Soweit der angefochtene Bescheid den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand betrifft, war die dagegen erhobene Beschwerde gemäß § 42 Abs. 1 VwGG als unbegründet abzuweisen.

9. Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff, insbesondere § 50 VwGG, in Verbindung mit der Verordnung BGBl. Nr. 416/1994. Das Mehrbegehren war abzuweisen, weil an Stempelgebührenersatz nur S 390,-- (S 360,-- Eingabengebühr für die Beschwerde und S 30,-- Beilagengebühr für eine Ausfertigung des angefochtenen Bescheides) als zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendig zuerkannt werden konnten.