VwGH vom 24.11.1992, 88/08/0286
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Liska und die Hofräte Dr. Knell und Dr. Puck als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Schwächter, über die Beschwerde des Bundesministers für Arbeit und Soziales in 1010 Wien, gegen den Bescheid des Landeshauptmannes von Niederösterreich vom , Zl. VII/1-V-503/97/1-88, betreffend Einstellung eines Strafverfahrens nach dem Arbeitnehmerschutzgesetz (mitbeteiligte Partei: W in N, vertreten durch Dr. K, Rechtsanwalt in N), zu Recht erkannt:
Spruch
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
Der Bund (Bundesminister für Arbeit und Soziales) hat der mitbeteiligten Partei Aufwendungen in der Höhe von S 11.480,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1.1. Mit Straferkenntnis vom verhängte die Bezirkshauptmannschaft über den Mitbeteiligten eine Geldstrafe in der Höhe von insgesamt S 2.000,-- (Ersatzarrest von 72 Stunden), weil er am als zur Vertretung nach außen berufenes Organ einer namentlich bezeichneten Aktiengesellschaft mit dem Sitz in N in einer Filiale in A die Vorschriften der Allgemeinen Arbeitnehmerschutzverordnung, BGBl. Nr. 218/1983, insofern nicht eingehalten habe, als
1. der Verkaufsraum (ca. 240 m2) keine ins Freie führenden Lichteintrittsflächen wie Fenster, Oberlichten oder Lichtkuppeln, deren Summe mindestens ein Zehntel der Fußbodenfläche des Raumes betragen müsse, besessen habe (die Oberlichten seien verklebt und im Ein- bzw. Ausgangsbereich seien die direkt ins Freie führenden Lichteintrittsflächen durch den Windfang vom Verkaufsraum getrennt gewesen),
2. der Notausgang vom Lagerraum ... teilweise verstellt und in seiner gesamten Breite nicht benützbar gewesen sei; der Gehflügel mit einer Gehbreite von einem Meter sei bis zur Hälfte mit fahrbaren Gittertransportwagen verlagert gewesen.
Der Mitbeteiligte erhob Berufung und machte unter anderem die Bestellung der Filialleiterin zur verantwortlichen Beauftragten im Sinne des § 9 Abs. 2 und 4 VStG geltend. Die vom Beschwerdeführer vorgelegte Bestellungsurkunde, die von der Filialleiterin am unterfertigt wurde, hat auszugsweise folgenden Wortlaut:
"Wir bestellen Sie gem. § 9 VStG zum verantwortlichen Beauftragten für folgende Bereiche:
1. Sie sind für die Einhaltung von Verwaltungsvorschriften im Sinne der folgenden Bestimmungen verantwortlich.
2. Ihre Verantwortung umfaßt räumlich die von Ihnen geleitete Filiale in ... A ... und erstreckt sich auf alle zur Anwendung gelangenden Vorschriften, insbesondere auf Einhaltung der Bestimmungen des Lebensmittelgesetzes, der Lebensmittelkennzeichnungsverordnung, des Bazillenausscheidergesetzes, des Maß- und Eichgesetzes, des Qualitätsklassengesetzes, des Preisgesetzes, ferner der Einhaltung von Dienstnehmerschutzbestimmungen, sowie auch des Arbeitszeitgesetzes und der Einhaltung der Auflagen des Betriebsanlagengenehmigungsbescheides.
3. Sie sind berechtigt, zur Erfüllung Ihrer Obliegenheiten und in Ergänzung allgemein ergangener Dienstanweisungen spezielle Anweisungen für Ihren Verantwortungsbereich zu erlassen. Davon ist Ihr zuständiger Filialinspektor zu unterrichten.
4. Mit Ihrer Unterschrift bestätigen Sie, daß Sie Ihre Bestellung zum verantwortlichen Beauftragten zur Kenntnis genommen und dieser zugestimmt haben."
1.2. Mit Bescheid vom gab der Landeshauptmann von Niederösterreich dieser Berufung Folge und behob das erstinstanzliche Straferkenntnis gemäß § 45 Abs. 1 lit. b VStG. Nach der Begründung dieses Bescheides sei bei der Beurteilung der beiden Sachverhalte maßgebend gewesen, daß der Lichteinfall nicht durch bauliche Unzulänglichkeiten, sondern durch Verhängen der Lichteintrittsflächen mit Werbeplakaten erfolgt sei und der Notausgang durch Gitterkörbe im Zusammenhang mit einer Lieferung verstellt gewesen sei. Es liege in der Natur der Sache, daß für solche Vorgänge in erster Linie die Filialleiter, allenfalls auch die Filialinspektoren, als verantwortlich anzusehen seien. Da die Filialleiterin laut der vorliegenden Urkunde vom zur verantwortlichen Beauftragten gemäß § 9 VStG bestellt worden und unter anderem für die Einhaltung der Dienstnehmerschutzbestimmungen verantwortlich sei, seien auch die gegenständlichen Verwaltungsübertretungen vom ihr vorzuwerfen und nicht dem Mitbeteiligten.
1.3. Gegen diesen Bescheid wendet sich die vorliegende Beschwerde des Bundesministers für Arbeit und Soziales, in der Rechtswidrigkeit des Inhaltes sowie Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften geltend gemacht werden. Nach der Beschwerdebegründung mangle der Bestellung der Filialleiterin zur verantwortlichen Beauftragten das Erfordernis der entsprechenden Anordnungsbefugnis nach § 9 Abs. 4 VStG. Die vorliegende eingeschränkte Anordnungsbefugnis genüge dieser Bestimmung nicht. Diese setze voraus, daß die dem Arbeitgeber zustehende Anordnungsbefugnis in vollem Umfang auch an den verantwortlichen Beauftragten übertragen werde, sodaß der verantwortliche Beauftragte gleichsam an die Stelle des Arbeitgebers trete. Der Filialleiterin sei es lediglich ermöglicht worden, in Ergänzung zu bestehenden zentralen Dienstanordnungen und Weisungen spezielle Anordnungen zu erlassen, wovon jedenfalls der zuständige Filialinspektor zu unterrichten sei. Nach der Organisationsstruktur des Unternehmens sei die Filialleiterin in ein betriebsinternes Kontrollsystem eingebunden, durch welches ihre Anordnungsbefugnis ebenfalls wesentlich eingeschränkt werde. Daraus ergebe sich, daß der Filialleiterin wohl für den Bereich der Filiale die gesamte Verantwortung hinsichtlich der Einhaltung der in der Bestellungsurkunde angeführten Verwaltungsvorschriften übertragen sei, dieser Verantwortung jedoch keine "entsprechende Anordnungsbefugnis" gegenüberstehe. Auch habe die belangte Behörde den Grundsatz der amtswegigen Wahrheitsermittlung verletzt, weil sie sich mit der Frage nicht auseinandergesetzt habe, ob eine entsprechende Anordnungsbefugnis vorliege.
In der Folge wird in der Beschwerde die Ansicht vertreten, daß die Filialleiterin als Bevollmächtigte im Sinne des § 31 Abs. 2 ASchG anzusehen sei. Eine Bevollmächtigung dieser Art befreie allerdings den Arbeitgeber - anders als die Bestellung eines verantwortlichen Beauftragten nach § 9 VStG - nicht von seiner grundsätzlichen Verantwortlichkeit.
1.4. Die belangte Behörde legte die Verwaltungsakten vor und erstattete ebenso wie der Mitbeteiligte eine Gegenschrift.
2.0. Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
2.1. Im Beschwerdefall ist strittig, ob die strafrechtliche Verantwortung des Mitbeteiligten für die ihm angelasteten Verwaltungsübertretungen infolge der Bestellung eines verantwortlichen Beauftragten (in der Person der Filialleiterin) gemäß § 9 Abs. 2 und 4 VStG 1950 ausgeschlossen ist.
§ 9 Abs. 2 und 4 VStG 1950 lauten auszugsweise:
"(2) Die zur Vertretung nach außen Berufenen sind berechtigt ..., aus ihrem Kreis eine oder mehrere Personen als verantwortliche Beauftragte zu bestellen, denen für das ganze Unternehmen oder für bestimmte räumlich oder sachlich abgegrenzte Bereiche des Unternehmens die Verantwortung für die Einhaltung der Verwaltungsvorschriften obliegt. Für bestimmte räumlich oder sachlich abgegrenzte Bereiche des Unternehmens können aber auch andere Personen zu verantwortlichen Beauftragten bestellt werden.
... (4) Verantwortlicher Beauftragter kann nur eine Person mit Wohnsitz im Inland sein, die strafrechtlich verfolgt werden kann, ihrer Bestellung nachweislich zugestimmt hat und der für den ihrer Verantwortung unterliegenden klar abzugrenzenden Bereich eine entsprechende Anordnungsbefugnis zugewiesen ist."
In den Erläuterungen zur Regierungsvorlage
(161 BlgNR 15. GP) heißt es zu § 9 Abs. 2 und 4 VStG, wer immer die verwaltungsstrafrechtliche Verantwortlichkeit als Beauftragter trage, könne eine solche Verantwortlichkeit aber auch nur dann übernehmen, wenn er eine entsprechende Anordnungsbefugnis habe, um die Einhaltung der Verwaltungsvorschriften sicherzustellen. Die Bestimmung des § 9 Abs. 4 VStG ist also dahingehend zu verstehen, daß die Anordnungsbefugnis dem Umfang der Verantwortlichkeit entsprechen muß, d.h. daß sie es dem Beauftragten ermöglichen muß, das Verhalten der Mitarbeiter insoweit nachhaltig zu beeinflussen, als er es zu verantworten hat (vgl. Ringhofer,
Die österreichischen Verwaltungsverfahrensgesetze, II, 124, Anm. 16).
2.2. Nach dem oben wiedergegebenen Wortlaut der von der Filialleiterin unterfertigten Urkunde über ihre Bestellung zum verantwortlichen Beauftragten nach § 9 VStG besteht kein Zweifel, daß dieser Filialleiterin für einen bestimmten sachlich und räumlich abgegrenzten Bereich des Unternehmens die Verantwortlichkeit für die "Einhaltung von Verwaltungsvorschriften" übertragen wurde. Danach erstreckt sich ihr Verantwortungsbereich ausdrücklich "auf alle zur Anwendung gelangenden Vorschriften, insbesondere auf die Einhaltung der Bestimmungen ..., ferner der Einhaltung von Dienstnehmerschutzbestimmungen, so auch des Arbeitszeitgesetzes und der Einhaltung der Auflagen des Betriebsanlagengenehmigungsbescheides".
Wie der Verwaltungsgerichtshof im Erkenntnis vom , Zl. 88/08/0212 = ZfVB 1990/5/2368, ausgeführt hat, ist es bei einer Bestellung zum verantwortlichen Beauftragten im Sinne des § 9 Abs. 2 letzter Satz VStG 1950 nicht erforderlich, jede einzelne Anordnungsbefugnis anzuführen; wenn anläßlich der Einräumung der Anordnungsbefugnis sogar noch ausgeführt werde, daß der verantwortliche Beauftragte ermächtigt sei, die zur Einhaltung der Arbeitnehmerschutzbestimmungen erforderlichen Anordnungen zu treffen, sei damit auch die erforderliche Überwachung der getroffenen Anordnungen umfaßt.
Im Gegensatz zu dieser seinerzeitigen Fallgestaltung vermeint nun der beschwerdeführende Bundesminister, in der vorliegenden Übertragung von Anordnungsbefugnissen eine zu starke Einschränkung dieser Befugnisse zu erkennen, sodaß die Abwälzung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Mitbeteiligten auf die Filialleiterin als solche als mißlungen angesehen werden müsse. Der Verwaltungsgerichtshof vermag diese Auffassung nicht zu teilen. Zum einen bedeutet die Verpflichtung der Filialleiterin, den zuständigen Filialinspektor über die von ihr getroffenen Anweisungen "zu unterrichten", eine bloße Informationspflicht, die keine Pflicht, eine vorhergehende Genehmigung des Filialinspektors einzuholen, in sich schließt. Zum anderen enthält die Wendung "Sie sind berechtigt, zur Erfüllung Ihrer Obliegenheiten und in Ergänzung allgemein ergangener Dienstanweisungen spezielle Anweisungen für Ihren Verantwortungsbereich zu erlassen" zwar die Einschränkung, daß sich die Anordnungen der Filialleiterin nicht zu allgemein ergangenen Dienstanweisungen in Widerspruch setzen dürfen, behält ihr aber ausdrücklich das spezielle (ergänzende und erforderliche) Anordnungsrecht für ihren Verantwortungsbereich sowie - nach der eben zitierten Rechtsprechung - die damit zusammenhängenden Überwachungs- und Kontrollrechte vor.
Daß nun eine "allgemein ergangene Dienstanweisung" im Unternehmen des Mitbeteiligten bestanden hätte, die es der Filialleiterin praktisch unmöglich gemacht hätte, ihre speziellen Befugnisse im Rahmen der Filiale eigenverantwortlich auszuüben, also die ihr übertragenen Anordnungsrechte wiederum zur Gänze ausgehöhlt hätte, wurde von den am Verwaltungsverfahren beteiligten Organen des Arbeitsinspektorates, denen die im Akt erliegende Bestellungsurkunde bekannt war, nicht behauptet und ist auch nicht hervorgekommen. Zu Recht wurde von der belangten Behörde in der Gegenschrift auch darauf hingewiesen, daß es durchaus mit der Lebenserfahrung und den Branchenusancen übereinstimmt, daß Filialleitern auf jenen Gebieten, denen die hier in Rede stehenden Straftaten zugehören, eine entsprechende Anordnungsbefugnis delegiert zu werden pflegt, sodaß kein Anlaß für die belangte Behörde bestand, weitere Ermittlungsschritte zu setzen.
Es kann somit davon ausgegangen werden, daß der Filialleiterin eine "entsprechende" Anordnungsbefugnis übertragen war, also eine solche, die es ihr in den in Rede stehenden Sachmaterien ermöglicht hätte, das Verhalten der Mitarbeiter insoweit nachhaltig zu beeinflussen, als sie es zu verantworten hatte.
Bemerkt sei schließlich, daß der beschwerdeführende Bundesminister zu Unrecht die Auffassung vertritt, seine Meinung werde auch dadurch bestätigt, daß der Mitbeteiligte angegeben habe, Filialinspektoren kontrollierten laufend die unterstellten Filialen hinsichtlich der Einhaltung von Vorschriften und Weisungen und hätten festgestellte Beanstandungen auf Filialebene abzustellen. Der Aufbau eines wirksamen Kontrollsystems dieser Art steht nicht von vornherein im Widerspruch zur Einräumung von Anordnungsbefugnissen an verantwortliche Beauftragte im Zusammenhang mit der ihnen delegierten Obsorge für die Einhaltung von Verwaltungsvorschriften. Unzutreffend wäre der Schluß, nur ein Arbeitgeber, der auf entsprechende Kontrollmaßnahmen (Filialinspektoren) verzichte, könne sich seiner strafrechtlichen Verantwortlichkeit durch die Bestellung eines verantwortlichen Beauftragten entziehen.
2.3. Aus diesen Erwägungen folgt, daß der angefochtene Bescheid nicht mit der ihm vom beschwerdeführenden Bundesminister für Arbeit und Soziales zur Last gelegten Rechtswidrigkeit belastet ist.
Die Beschwerde war somit gemäß § 42 Abs. 1 VwGG als unbegründet abzuweisen.
2.4. Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 und 48 Abs. 3 Z. 1 und 2 VwGG in Verbindung mit Art. I Z. 7 und Art. III Abs. 2 der Verordnung des Bundeskanzlers BGBl. Nr. 104/1991.
2.5. Da die Schriftsätze der Parteien des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens und die dem Verwaltungsgerichtshof vorgelegten Akten erkennen lassen, daß die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten läßt, konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z. 6 VwGG von der vom Mitbeteiligten beantragten Verhandlung abgesehen werden.
2.6. Soweit Entscheidungen des Verwaltungsgerichtshofes zitiert wurden, die in der Amtlichen Sammlung der Erkenntnisse und Beschlüsse dieses Gerichtshofes nicht veröffentlicht sind, wird auf Art. 14 Abs. 4 der Geschäftsordnung des Verwaltungsgerichtshofes, BGBl. Nr. 45/1965, hingewiesen.