VwGH vom 24.10.1989, 88/08/0264

VwGH vom 24.10.1989, 88/08/0264

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Liska und die Hofräte Dr. Knell, Dr. Puck, Dr. Sauberer und Dr. Giendl als Richter, im Beisein der Schriftführerin Kommissär Dr. Schnizer-Blaschka , über die Beschwerde der C S in L, vertreten durch Dr. Norbert Nagele, Rechtsanwalt in Linz, Promenade 9, gegen den Bescheid des Landeshauptmannes von Oberösterreich vom , Zl. SV- 538/1-1988, betreffend Zurückweisung eines Einspruches in einer Angelegenheit nach § 67 Abs. 10 ASVG (mitbeteiligte Partei: Oberösterreichische Gebietskrankenkasse in Linz, Gruberstraße 77), zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund (Bundesminister für Arbeit und Soziales) hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von S 10.110,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Das Begehren auf Ersatz von Stempelgebühren wird abgewiesen.

Begründung

Mit Bescheid vom sprach die mitbeteiligte Oberösterreichische Gebietskrankenkasse aus, dass die Beschwerdeführerin gemäß § 67 Abs. 10 ASVG zur Bezahlung von Sozialversicherungsbeiträgen und Verzugszinsen in näher genannter Höhe verpflichtet sei. Der eine Ausfertigung dieses Bescheides enthaltende, an die Wohnadresse der Beschwerdeführerin adressierte RSb-Brief wurde nach dem im Akt erliegenden Rückschein am von einem "Mitbewohner der Abgabestelle" übernommen.

Am langte ein mit datierter, am zur Post gegebener Einspruch der Beschwerdeführerin bei der mitbeteiligten Gebietskrankenkasse ein, in dem sie ausführlich darlegt, warum ihrer Auffassung nach die Voraussetzungen einer Inanspruchnahme nach § 67 Abs. 10 ASVG nicht vorlägen. Angaben darüber, wann ihr der bekämpfte Bescheid zugestellt worden sei, oder sonstige Ausführungen zur Rechtzeitigkeit des Einspruches enthält der Einspruch nicht.

Mit dem angefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde den Einspruch gemäß § 66 Abs. 4 AVG 1950 als verspätet zurück. Nach der Bescheidbegründung sei der bekämpfte Bescheid der Beschwerdeführerin laut Rückschein am zugestellt worden. Gemäß § 412 Abs. 1 ASVG könnten Bescheide der Versicherungsträger binnen einem Monat nach Zustellung durch Einspruch an den zuständigen Landeshauptmann angefochten werden. Die Frist für die Einbringung eines Einspruches gegen den genannten Bescheid habe demnach am geendet. Das Einspruchsschreiben vom sei jedoch laut Poststempel am aufgegeben und am bei der mitbeteiligten Gebietskrankenkasse eingelangt. Somit sei die Frist zur Einbringung des Einspruches überschritten worden. Es bestehe für die belangte Behörde keine Möglichkeit, den verspätet eingebrachten Einspruch in meritorische Behandlung zu nehmen.

In der gegen diesen Bescheid wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften erhobenen Beschwerde bringt die Beschwerdeführerin vor, es sei der Bescheid der mitbeteiligten Gebietskrankenkasse vom Sohn der Beschwerdeführerin am übernommen worden, da sie vom 15. bis bei ihren Eltern in Seewalchen Urlaub gemacht habe. Am Tag ihrer Rückkehr vom Urlaub sei ihr der gegenständliche Bescheid von ihrem Sohn ausgehändigt worden. Nach herrschender Ansicht werde eine Zustellung erst an dem der Rückkehr des Empfängers an die Abgabestelle folgenden Tag wirksam, wenn der Zustellempfänger zum Zeitpunkt der Ersatzzustellung vorübergehend abwesend gewesen sei. Eine vorübergehende Abwesenheit im Sinne des § 16 Abs. 5 Zustellgesetz sei nach bisheriger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes dann anzunehmen, wenn der Empfänger dadurch gehindert sei, Zustellvorgänge im Bereich des Zustellortes wahrzunehmen, wie z.B. im Fall einer Reise, eines Urlaubes oder eines Krankenhausaufenthaltes. Im vorliegenden Fall sei die Zustellung daher am wirksam geworden. Die belangte Behörde wäre zur Überprüfung verpflichtet gewesen, ob bei der Zustellung Mängel unterlaufen seien. Im Zuge dieser Überprüfung hätte sie der Beschwerdeführerin den Sachverhalt, auf Grund dessen sich der Einspruch angeblich als verspätet erwiesen habe, vorhalten müssen. Da sie dieser Verpflichtung nicht nachgekommen sei, sei die Beschwerdeführerin in dem ihr aus den §§ 37 ff AVG 1950 erwachsenden Rechten auf Parteiengehör verletzt worden. Hätte ihr die belangte Behörde Gelegenheit zur Stellungnahme zum Ergebnis des Ermittlungsverfahrens gegeben, so wäre der Behörde die Tatsache ihrer vorübergehenden urlaubsbedingten Abwesenheit bekannt geworden.

Die belangte Behörde legte die Akten des Verwaltungsverfahrens vor und erstattete ebenso wie die mitbeteiligte Gebietskrankenkasse eine Gegenschrift.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

Gemäß § 412 Abs. 1 ASVG können Bescheide der Versicherungsträger in Verwaltungssachen binnen einem Monat nach der Zustellung durch Einspruch an den zuständigen Landeshauptmann angefochten werden. Der Einspruch hat den Bescheid zu bezeichnen, gegen den er sich richtet, und einen begründeten Entscheidungsantrag zu enthalten. Der Einspruch ist beim Versicherungsträger, der den Bescheid erlassen hat, einzubringen.

Die gemäß § 357 ASVG in Verbindung mit § 21 AVG 1950 auch im Verfahren vor den Versicherungsträgern anwendbaren Bestimmungen der Absätze 1 und 5 des Zustellgesetzes lauten:

"(1) Kann die Sendung nicht dem Empfänger zugestellt werden und ist an der Abgabestelle ein Ersatzempfänger anwesend, so darf an diesen zugestellt werden (Ersatzzustellung), sofern der Zusteller Grund zur Annahme hat, dass sich der Empfänger oder ein Vertreter im Sinne des § 13 Abs. 3 regelmäßig an der Abgabestelle aufhält.

(5) Eine Ersatzzustellung gilt als nicht bewirkt, wenn sich ergibt, dass der Empfänger oder dessen Vertreter im Sinne des § 13 Abs. 3 wegen Abwesenheit von der Abgabestelle nicht rechtzeitig vom Zustellvorgang Kenntnis erlangen konnte, doch wird die Zustellung mit dem der Rückkehr an die Abgabestelle folgenden Tag wirksam."

Ausgehend von dem von der Beschwerdeführerin in der Beschwerde vorgebrachten (und von der mitbeteiligten Gebietskrankenkasse in ihrer Gegenschrift zugestandenen) Sachverhalt, dass die Beschwerdeführerin vom 15. bis wegen Urlaubs von der Abgabestelle abwesend war und ihr der die Ausfertigung des Bescheides der mitbeteiligten Gebietskrankenkasse enthaltende RSb-Brief von ihrem Sohn, der den Brief am in Empfang genommen hatte, erst am Tage ihrer Rückkehr vom Urlaub übergeben wurde, kann selbst dann, wenn eine nach § 16 Abs. 1 Zustellgesetz zulässige Ersatzzustellung vorliegen sollte (vgl. zur unterschiedlichen Interpretation dieser Bestimmung Wiederin, Zustellung bei Abwesenheit des Empfängers, ZfV 1988, 375 ff), diese Ersatzzustellung nach § 16 Abs. 5 Zustellgesetz nicht als bewirkt angesehen werden.

Denn der Empfänger einer Sendung, deren Zustellung einen Fristenlauf auslöst, konnte im Sinne des § 16 Abs. 5 Zustellgesetz dann wegen seiner Abwesenheit von der Abgabestelle nicht rechtzeitig von (dem eine zulässige Zustellung bewirkenden) Zustellvorgang nach § 16 Abs. 1 Zustellgesetz Kenntnis erlangen, wenn ihm wegen seiner Abwesenheit von der Abgabestelle am Tag der vorgenommenen Ersatzzustellung die wahrzunehmende Frist nicht mehr ungekürzt (oder zumindest nahezu ungekürzt) zur Verfügung stand (vgl. die Erkenntnisse des Verwaltungsgerichtshofes vom , Zl. 86/07/0212, und vom , Zlen. 88/06/0140, AW 88/06/0035). Das traf im Beschwerdefall zu, da der Beschwerdeführerin - die Wirksamkeit der Zustellung vom vorausgesetzt - am Tage der Übergabe des genannten RSb-Briefes nur mehr die Hälfte der Einspruchsfrist zur Verfügung stand. Die Zustellwirkung trat daher - bei Zugrundelegung des von der Beschwerdeführerin behaupteten Sachverhaltes - bei Unwirksamkeit der Ersatzzustellung nach § 16 Abs. 1 Zustellgesetz gemäß § 7 leg. cit. am , bei Zulässigkeit der Ersatzzustellung nach § 16 Abs. 1 leg. cit. nach § 16 Abs. 5 leg. cit. am ein.

Die von der belangten Behörde und der mitbeteiligten Gebietskrankenkasse in ihren Gegenschriften der Sache nach vertretene Auffassung, es sei § 16 Abs. 5 Zustellgesetz dann nicht anwendbar, wenn eine wirksame Ersatzzustellung nach § 16 Abs. 1 leg. cit. vorliege, ist unzutreffend. Entgegen der Meinung der mitbeteiligten Gebietskrankenkasse ist es für die Anwendbarkeit des § 16 Abs. 5 Zustellgesetz auch ohne Bedeutung, ob der Sohn der Beschwerdeführerin, wie sie in ihrem inzwischen gestellten Wiedereinsetzungsantrag behauptet, im Falle ihrer Abwesenheit üblicherweise "gewissenhaft alles Notwendige" regelt und "exakt ihm mitgeteilte Termine oder Nachrichten und Poststücke weitergibt, ohne dass es jemals zu einem Missverständnis oder einer unrichtigen Angabe gekommen wäre", ob die Beschwerdeführerin die Möglichkeit gehabt hätte, sich die Post während ihres Urlaubsaufenthaltes gemäß § 18 Abs. 1 Zustellgesetz nachsenden zu lassen, und ob der Sohn der Beschwerdeführerin ihr am die Post mit der - hinsichtlich des strittigen RSb-Briefes unrichtigen - Bemerkung übergeben habe, es handle sich "um die Post des heutigen Tages". Denn wenn auch nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. u.a. den Beschluss vom , Zl. 86/01/0088) im Falle der Ersatzzustellung eines Bescheides dessen verspätete Übergabe an den Adressaten diesem zur Last fällt, vermögen die Unterlassung sonst üblicher Mitteilungen über Inhalte von Postsendungen durch einen Ersatzempfänger an den Empfänger während dessen Abwesenheit oder unrichtige Mitteilungen des Ersatzempfängers über den Tag der Ersatzzustellung nach Rückkehr des Empfängers an die Abgabestelle nicht einen Ausschluss der Anordnung des § 16 Abs. 5 Zustellgesetz dergestalt herbeizuführen, dass die Zustellung schon vor dem der Rückkehr an die Abgabestelle folgenden Tag wirksam würde.

Wie der Verwaltungsgerichtshof schon mehrfach zum Ausdruck gebracht hat (vgl. das schon zitierte Erkenntnis vom , Zl. 86/07/0212, mit weiteren Judikaturhinweisen), ist die Frage, ob ein Rechtsmittel rechtzeitig oder verspätet eingebracht wurde, eine Rechtsfrage, die die Behörde auf Grund der von ihr festgestellten Tatsachen zu entscheiden hat. Demgemäß hat die Behörde, bevor sie die Zurückweisung eines Rechtsmittels als verspätet ausspricht, zu prüfen, ob die Zustellung des mit Rechtsmittel angefochtenen Bescheides ordnungsgemäß erfolgt ist. Wurde der eine Ausfertigung des bekämpften Bescheides enthaltende RSb-Brief nach dem im Akt erliegenden Rückschein - so wie im Beschwerdefall - von einem "Mitbewohner der Abgabestelle" übernommen und geht die Behörde auf Grund dieses Zustellnachweises von einer zulässigen Ersatzzustellung nach § 16 Abs. 1 Zustellgesetz aus, so hat sie dem Rechtsmittelwerber, der ein ( - ausgehend von einer Zustellung am Tag der vorgenommenen Ersatzzustellung - objektiv) verspätetes Rechtsmittel einbringt, auch dann Parteiengehör zur Frage der Rechtzeitigkeit des Rechtsmittels zu gewähren, wenn das Rechtsmittel keine Darlegungen zur Rechtzeitigkeit enthält und die in Betracht kommenden Verfahrensvorschriften nicht ausdrücklich (so wie etwa § 28 Abs. 1 Z. 7 VwGG) entsprechende Ausführungen zur Rechtzeitigkeit des Rechtsmittels vorschreiben. Denn der Zustellnachweis ist zwar eine öffentliche Urkunde, die den Beweis dafür erbringt, dass die Zustellung vorschriftsgemäß erfolgt ist, doch ist der Gegenbeweis gemäß § 292 Abs. 2 ZPO zulässig (vgl. u.a. Erkenntnis vom , Zl. 86/08/0141), den die Behörde dem Rechtsmittelwerber, der ihrer Auffassung nach ein objektiv verspätetes Rechtsmittel einbringt, dessen Rechtzeitigkeit aber nicht von vornherein ausgeschlossen werden kann, durch Gewährung des Parteiengehörs ermöglichen muss.

Bezogen auf den Beschwerdefall bedeutet dies, dass die belangte Behörde dadurch, dass sie der Beschwerdeführerin vor der Erlassung des angefochtenen Bescheides nicht die Möglichkeit eingeräumt hat, zu der von der belangten Behörde angenommenen Verspätung des Einspruches Stellung zu nehmen, Verfahrensvorschriften verletzt hat, bei deren Einhaltung sie nach den obigen Darlegungen zu einem anderen Bescheid hätte kommen können.

Der angefochtene Bescheid war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung BGBl. Nr. 206/1989. Der Ersatz der Stempelgebühren war im Hinblick auf die sachliche Abgabenfreiheit nach § 110 ASVG nicht zuzusprechen; das gilt auch für die Vollmachtstempel, da eine auf diese Sozialversicherungsangelegenheit eingeschränkte Vollmacht ausgereicht hätte.

Hinsichtlich der zitierten, nicht in der Amtlichen Sammlung veröffentlichten Entscheidungen des Verwaltungsgerichtshofes wird auf Art. 14 Abs. 4 der Geschäftsordnung des Verwaltungsgerichtshofes, BGBl. Nr. 45/1965, verwiesen.

Wien, am