VwGH vom 13.11.2001, 2001/05/0930

VwGH vom 13.11.2001, 2001/05/0930

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Degischer und die Hofräte Dr. Giendl, Dr. Kail, Dr. Pallitsch und Dr. Waldstätten als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Enzlberger-Heis, über die Beschwerde des Bürgermeisters der Bundeshauptstadt Wien gegen den Bescheid des Bundesministers für Inneres vom , Zl. 600.344/7-II/13/00, betreffend Reklamationsverfahren nach § 17 Abs. 2. Z. 2 Meldegesetz (mitbeteiligte Parteien: 1. Bürgermeister der Marktgemeinde Pasching, 2. EF in P), zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Antrag des Beschwerdeführers auf Zuspruch von Kosten wird abgewiesen.

Begründung

Die am in Linz geborene, ledige Zweitmitbeteiligte war im Zeitraum vom bis sowie vom bis mit Hauptwohnsitz (siehe § 23 Abs. 1 des im Beschwerdefall anzuwendenden Meldegesetzes 1991, BGBl. Nr. 9/1992 in der Fassung des Hauptwohnsitzgesetzes, BGBl. Nr. 505/1994; in der Folge kurz:

MeldeG) in Wien XVII., Kainzgasse 2/2/7, gemeldet. Am meldete die Zweitmitbeteiligte ihren bisherigen weiteren Wohnsitz in Pasching, Poststraße 34, als Hauptwohnsitz und den bisherigen Hauptwohnsitz in Wien als weiteren Wohnsitz.

Die Zweitmitbeteiligte ist in Wien berufstätig (nähere Angaben über Art und Umfang der beruflichen Tätigkeit fehlen) und bewohnt am gemeldeten weiteren Wohnsitz in Wien eine Eigentumswohnung (nähere Angaben über Größe und Ausstattung der Wohnung fehlen). In der Wohnung in Pasching leben als Mitbewohner die Eltern der Zweitmitbeteiligten und deren Schwester, geb. 1970 (nähere Angaben zur Wohnung am Hauptwohnsitz fehlen). Pasching ist von Wien rund 200 km entfernt. Auf Grund der Angaben der Zweitmitbeteiligten nahm die belangte Behörde als erwiesen an, dass die Zweitmitbeteiligte ca. 160 Tage berufsbedingt in Wien verbringe und den Weg zum Arbeitsplatz in Wien IX. (vermutlich: AKH) überwiegend von Pasching aus antrete. Ihre "gesellschaftlichen Betätigungen" in Pasching seien "sehr intensiv", in Wien hingegen "kaum vorhanden".

Der beschwerdeführende Bürgermeister beantragte mit Eingabe vom gemäß § 17 Abs. 2 Z. 2 MeldeG die Einleitung eines Reklamationsverfahrens zur Entscheidung darüber, ob die Zweitmitbeteiligte, die in der Gemeinde des erstmitbeteiligten Bürgermeisters mit Hauptwohnsitz angemeldet ist, dort weiterhin den Hauptwohnsitz hat. Begründet wurde dieser Antrag im Wesentlichen damit, dass im Hinblick auf die qualifizierte (berufliche) Anwesenheit der Zweitmitbeteiligten in Wien, zu welcher keine familiären Bindungen hinzuträten, dieser Wohnsitz als Mittelpunkt der Lebensbeziehungen betrachtet werden müsse, zumal im Hinblick auf die relativ große Entfernung der überwiegende Antritt des Arbeitsweges von Pasching aus nicht der Realität entsprechen dürfte. Wenn man im Übrigen auch noch mit ins Kalkül ziehe, dass die Stadt Wien mit all ihren zahlreichen kulturellen, wirtschaftlichen und sozialen Angeboten mit Sicherheit der Zweitmitbeteiligten schon bisher dienlich gewesen sei und weiterin sein werde, sei Wien als Hauptwohnsitz zu betrachten.

Die Zweitmitbeteiligte führte in ihrer Stellungnahme aus, ihre Familie und Freunde in Oberösterreich seien für sie der Mittelpunkt ihrer Lebensbeziehungen, diese Tatsache sei alleine schon Grund genug, Oberösterreich als Hauptwohnsitz zu wählen.

Die belangte Behörde holte eine Stellungnahme des Österreichischen Statistischen Zentralamtes "gemäß § 17 Abs. 3 MeldeG" ein.

Mit dem angefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde den Antrag des beschwerdeführenden Bürgermeisters auf Aufhebung des Hauptwohnsitzes der Zweitmitbeteiligten an der gemeldeten Adresse in Pasching ab. Das Ermittlungsverfahren habe gezeigt, dass der Schwerpunkt der beruflichen Lebensbeziehungen der Zweitmitbeteiligten in Wien, der "Familienwohnsitz" und somit der gesellschaftliche Schwerpunkt der Lebensbeziehungen hingegen in Pasching liege. Das soziale Umfeld der Zweitmitbeteiligten sei am letztgenannten Ort konzentriert. Die Zweitmitbeteiligte habe in ihrer Stellungnahme ihr "überwiegendes Naheverhältnis" eindeutig dargelegt. Auf Grund des Ergebnisses des Ermittlungsverfahrens und einer Gesamtbetrachtung der Lebensbeziehungen der Zweitmitbeteiligten reiche der Arbeitsplatz und der zeitweilige Aufenthalt in Wien - somit lediglich der "Schwerpunkt" der Berufstätigkeit - allein nicht aus, um ihren Hauptwohnsitz in Pasching, der den Mittelpunk der familiären und gesellschaftlichen Lebensbeziehungen darstelle, aufzuheben.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, in welcher Rechtswidrigkeit des Inhaltes und Rechtswidrigkeit infolge Verletzung der Verfahrensvorschriften geltend gemacht wird.

Die belangte Behörde legte die Akten des Verwaltungsverfahrens vor und erstattete eine Gegenschrift mit dem Antrag, die Beschwerde kostenpflichtig abzuweisen. Die mitbeteiligten Parteien erstatteten ebenfalls Gegenschriften und beantragten wie die belangte Behörde. Der erstmitbeteiligte Bürgermeister beantragte Kostenzuspruch.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

Im Erkenntnis vom heutigen Tag, Zl. 2001/05/0935, auf welches gemäß § 43 Abs. 2 VwGG verwiesen wird, hat der Verwaltungsgerichtshof im Geltungsbereich der auch im Beschwerdefall anzuwendenden Rechtslage des Meldegesetzes 1991, BGBl. Nr. 9/1992, in der Fassung BGBl. Nr. 352/1995, ausgeführt, dass im zulässigerweise eingeleiteten Reklamationsverfahren die bis dahin für den Hauptwohnsitz des Betroffenen ausschließlich maßgebliche "Erklärung" des Meldepflichtigen dahingehend "hinterfragt (wird), ob der erklärte Hauptwohnsitz den in Art. 6 Abs. 3 B-VG (§ 1 Abs. 7 MeldeG 1991) normierten objektiven Merkmalen entspricht" (siehe das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom , G 139/00-10, u. a.). Die Lösung der im Reklamationsverfahren maßgeblichen Rechtsfrage des Hauptwohnsitzes des Betroffenen hängt an dem materiell-rechtlichen Kriterium "Mittelpunkt seiner Lebensbeziehungen". Bei der Beurteilung dieses Tatbestandsmerkmales kommt es auf eine Gesamtschau an, bei welcher - wie auch den Erläuterungen der Regierungsvorlage zur Meldegesetznovelle, BGBl. Nr. 505/1994 (GP XVIII RV 1334), zu entnehmen ist - vor allem folgende Bestimmungskriterien maßgeblich sind: Aufenthaltsdauer, Lage des Arbeitsplatzes und der Ausbildungsstätte, Wohnsitz der übrigen, insbesondere der minderjährigen Familienangehörigen und der Ort, an dem sie ihrer Erwerbstätigkeit nachgehen, ausgebildet werden oder die Schule oder den Kindergarten besuchen, Funktionen in öffentlichen und privaten Körperschaften. Durchaus möglich ist, dass am Hauptwohnsitz - und damit beim Mittelpunkt der Lebensbeziehungen - wenige oder gar keine beruflichen Lebensbeziehungen bestehen (vgl. das bereits zitierte hg. Erkenntnis vom , Zl. 99/05/0076). Diese Regelung hat auch durch die Anfügung des Abs. 8 im § 1 MeldeG mit der Novelle vom , BGBl. I Nr. 28/2001, keine inhaltliche Änderung erfahren, weil damit nur die in der vorzitierten Regierungsvorlage angeführten Kriterien in Gesetzesform gegossen worden sind.

Für das vom Verfassungsgerichtshof in seinem obzitierten Erkenntnis vom als verfassungskonform bewertete Reklamationsverfahren gilt daher, dassnur die im § 17 Abs. 3 MeldeG angeführten Beweismittel zulässig sind; die Parteien trifft eine besondere Mitwirkungspflicht. Die am Reklamationsverfahren beteiligten Bürgermeister dürfen nur Tatsachen geltend machen, die sie in Vollziehung eines Bundes- oder Landesgesetzes ermittelt haben und die keinem Übermittlungsverbot unterliegen.

Um dem Ziel des Reklamationsverfahrens gemäß § 17 Abs. 3 MeldeG - "die Richtigkeit einer von einem Meldepflichtigen vorgenommenen Erklärung seines Hauptwohnsitzes im öffentlichen Interesse zu hinterfragen" (siehe das bereits zitierte Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom ) - nachkommen zu können, hat sohin die Behörde (§ 17 Abs. 1 MeldeG) in ihrer Entscheidung für die Beurteilung des Mittelpunktes der Lebensbeziehungen des Betroffenen als wesentliches Tatbestandsmerkmal seines Hauptwohnsitzes gemäß § 1 Abs. 7 MeldeG eine Gesamtbetrachtung seiner beruflichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebensbeziehungen vorzunehmen. Diesen Anforderungen wird das Ermittlungsverfahren nur dann entsprechen, wenn die Behörde jedenfalls die oben wiedergegebenen, nunmehr im § 1 Abs. 8 MeldeG, BGBl. Nr. 28/2001, für den Mittelpunkt der Lebensbeziehungen eines Menschen angeführten Kriterien berücksichtigt hat. Hiefür stehen der Behörde die im § 17 Abs. 3 MeldeG (abschließend) aufgezählten Beweismittel zur Verfügung. Der Verwaltungsgerichtshof schließt sich in diesem Zusammenhang der vom Verfassungsgerichtshof in dessen Erkenntnis vom vertretenen Auffassung an, dass die dort normierte besondere Mitwirkungspflicht der Parteien, insbesondere des Betroffenen, deren Verpflichtung einschließt, zu strittigen Umständen in Form verbindlicher und nachvollziehbarer Erklärungen und Erläuterungen Stellung zu nehmen. Die belangte Behörde hat daher in diesem Rahmen den maßgebenden Sachverhalt (§ 37 AVG) zu ermitteln und die vorliegenden Beweise auch zu würdigen (§ 45 Abs. 2 AVG). In diesem Zusammenhang weist der Verwaltungsgerichtshof darauf hin, dass das subjektive Kriterium des "überwiegenden Naheverhältnisses" nur dann entscheidend ist, wenn ausnahmsweise zwei oder mehrere Wohnsitze des Betroffenen Mittelpunkte der Lebensbeziehungen darstellen (siehe das hg. Erkenntnis vom heutigen Tag, Zl. 2001/05/0935), die vom Betroffenen vorgenommene Bezeichnung des Hauptwohnsitzes allein also nicht jedenfalls maßgeblich ist.

Der Verfassungsgerichtshof hat in diesem Zusammenhang auch klargelegt, dass eine "absolute Sicherheit" über die Lebenssituation des Meldepflichtigen für die Evaluierung des zu beurteilenden Sachverhaltes nicht notwendig ist; der Gesetzgeber hat durch die Regelung des § 17 Abs. 3 MeldeG bewusst die in Rede stehenden Unschärfen in Kauf genommen, um im gegebenen Zusammenhang bestimmte behördliche Vorgangsweisen hintanzuhalten, die bei Geltung des Prinzips der Unbeschränktheit der Beweismittel nach § 46 AVG denkbar oder möglicherweise sogar geboten wären.

Ausgehend davon steht im Beschwerdefall fest, dass die 28- jährige Zweitmitbeteiligte in Wien einer Beschäftigung nachgeht und in Wien in ihrer Eigentumswohnung wohnt; sie macht gesellschaftliche, insbesondere familiäre Beziehungen zu Pasching geltend, die in Wien nicht bestünden. Durch die mit der Anschaffung einer Eigentumswohnung erfolgte Kapitalbindung wurde jedenfalls eine massive wirtschaftliche Beziehung geschaffen, zumal die Eigentumswohnung am Ort der Berufsausübung und nicht etwa an einem Freizeitwohnsitz erworben wurde. Die erforderliche Gesamtbetrachtung verleiht der beruflichen und der wirtschaftlichen Lebensbeziehung ein deutliches Übergewicht. Demgegenüber tritt bei der im Reklamationsverfahren gebotenen generalisierenden Betrachtungsweise die familiäre Bindung einer ledigen Person umso mehr in den Hintergrund, je mehr sich ihr Alter vom Erreichen der Volljährigkeit entfernt hat und je länger sie am Ort der Berufsausübung Aufenthalt genommen hat.

Feststellungen über den Wohnsitz der Beschwerdeführerin vor dem liegen zwar nicht vor; in Anbetracht des Alters der Beschwerdeführerin und des Umstandes, dass vor der aktuellen Meldung durch 2 Jahre hindurch an derselben Adresse eine Meldung sogar als Hauptwohnsitz vorlag, kann auch ohne Feststellung der Gesamtaufenthaltsdauer in Wien eine derartige Reduktion der gesellschaftlichen Beziehungen zum Heimatort angenommen werden, dass eine Mittelpunktqualität des dortigen Wohnsitzes nicht mehr vorliegt.

Ausgehend davon hat im vorliegenden Fall die Zweitmitbeteiligte ohne Rechtsgrundlage eine Wahl nach § 1 Abs. 7 letzter Satz MeldeG getroffen, sodass die Reklamation durch den Beschwerdeführer zu Recht erfolgte. Da die belangte Behörde die Rechtslage verkannt hat, belastete sie den angefochtenen Bescheid mit einer Rechtswidrigkeit des Inhaltes. Dieser Bescheid war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG aufzuheben.

Die Kostenentscheidung stützt sich auf die § 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung BGBl. Nr. 416/1994. Ein Anwendungsfall des § 47 Abs. 4 VwGG liegt nicht vor (vgl. hiezu den hg. Beschluss vom , Zl. 2001/05/0255). Das Kostenersatzbegehren des Beschwerdeführers war abzuweisen (angesprochen wird Schriftsatzaufwand), weil er nicht durch einen Rechtsanwalt vertreten war (§ 49 Abs. 1 VwGG idF der Novelle BGBl. I Nr. 88/1997)

Wien, am