VwGH vom 23.04.1996, 95/08/0006
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Hnatek sowie den Senatspräsidenten Dr. Knell und die Hofräte Dr. Müller, Dr. Novak und Dr. Sulyok als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Hackl, über die Beschwerde des G in T, vertreten durch Dr. H, Rechtsanwalt, gegen den Bescheid des Landeshauptmannes von Niederösterreich vom , Zl. VII/2-5320/5-1992, betreffend Herstellung des gesetzlichen Zustandes gemäß § 101 ASVG (mitbeteiligte Partei: Allgemeine Unfallversicherungsanstalt, Wien XX, Adalbert-Stifter-Straße 65), zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund (Bundesminister für Arbeit und Soziales) hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von S 12.500,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Das Kostenmehrbegehren wird abgewiesen.
Begründung
Mit rechtskräftigem Bescheid vom anerkannte die mitbeteiligte Partei den Unfall, den der Beschwerdeführer am im Betrieb seines (damaligen) Dienstgebers, eines Viehhändlers, erlitt, als Arbeitsunfall gemäß § 175 Abs. 1 AlVG und stellte fest, daß er durch diesen Unfall nachstehende Verletzungen erlitten habe: "Geschlossener Bruch mit Eindellung des linken äußeren Schienbeinkopfes, Verletzung des inneren Seitenbandes des linken Kniegelenkes". Gemäß den §§ 195, 203 bis 207 in Verbindung mit § 252 ASVG gebühre ihm vom bis auf weiteres eine Versehrtenrente in der Höhe von 20 % der Vollrente, das seien monatlich S 1.247,90. Nach der Bescheidbegründung seien für die Entschädigung nachstehende, ärztlich festgestellte Verletzungsfolgen des Arbeitsunfalles maßgebend: "Geringe Innenbandlockerung, Verschmächtigung der Beinmuskulatur, geringe Kraftverminderung des Beines sowie Gangbehinderung und subjektive Beschwerden."
Am beantragte der Beschwerdeführer gemäß § 101 ASVG die Gewährung einer höheren Versehrtenrente mit folgender Begründung: Infolge ständiger Schmerzen in der Hüfte sei am sein Becken geröntgt und dabei festgestellt worden, daß "die Hüfte abgestorben" sei, weil die Durchblutung nicht funktioniert habe. Am sei daher die notwendige Operation der Hüfte vorgenommen worden. Sein Krankenhausaufenthalt habe bis gedauert. Er könne nur mit Krücken gehen und müsse laufend zur Nachkontrolle. Aufgrund dieses Sachverhaltes ersuche er um Abänderung des ursprünglichen Bescheides und Richtigstellung unter Berücksichtigung des tatsächlichen Ausmaßes der Minderung der Erwerbsfähigkeit. Dem Antrag legte er die Fotokopie einer Ambulanz-Karte des Krankenhauses Zwettl bei, in der als Diagnose "idiopathische Hüftkopfnekrose links (Stadium III)" angeführt ist.
Die mitbeteiligte Partei ersuchte daraufhin das Krankenhaus Zwettl um die Übermittlung der Krankengeschichte. Zugleich mit ihr wurde vom Krankenhaus Zwettl auch die Fotokopie eines Briefes des Primarius Dr. W an den behandelnden Arzt des Beschwerdeführers Dr. Y vom übermittelt. Darin wird die Dauer des stationären Aufenthaltes des Beschwerdeführers mit "1.3. bis und 10.3. bis " und als Diagnose die schon in der genannten Ambulanz-Karte aufscheinende angeführt. Unter der Überschrift "Befunde" findet sich der Satz: "Der erhobene Befund entspricht einer älteren Hüftkopfnekrose mit Infraktion".
Dr. K von der chefärztlichen Station der mitbeteiligten Partei äußerte sich am zu der ihm gestellten Frage, ob die idiopathische Hüftkopfnekrose links Stadium III auf den Arbeitsunfall zurückzuführen sei oder ob es sich dabei um ein anlagebedingtes, schon länger bestehendes Leiden handle, dahin, daß "die idiopathische Hüftkopfnekrose ... ein schicksalhaftes, länger vorbestehendes Leiden" darstelle.
Daraufhin lehnte die mitbeteiligte Partei den Antrag des Beschwerdeführers vom mit Bescheid vom mit der Begründung ab, daß, ausgehend von der ärztlichen Stellungnahme vom , die Voraussetzungen des § 101 ASVG nicht vorlägen.
Dagegen erhob der Beschwerdeführer Einspruch. Darin und in weiteren Schriftsätzen während des Einspruchsverfahrens brachte er (soweit dies im vorliegenden Beschwerdeverfahren noch von Bedeutung ist) Nachstehendes vor: Da er seit seinem Arbeitsunfall ständig Schmerzen in der Hüfte verspürt habe, sei sein Becken am geröntgt und dabei festgestellt worden, daß infolge mangelnder Durchblutung eine idiopathische Hüftkopfnekrose aufgetreten sei. Deshalb habe er sich am einer Operation der Hüfte unterziehen müssen und könne seitdem nur mehr mit Krücken gehen. Die Hüftkopfnekrose und deren Folgen seien eine Folge seines Arbeitsunfalles vom . Da ihm dieser Umstand vor der Rechtskraft des Bescheides vom nicht bekannt gewesen sei, habe er einen Antrag nach § 101 ASVG gestellt. Bei Anerkennung der idiopathischen Hüftkopfnekrose und deren Folgen als Unfallfolgen wäre seine Versehrtenrente wesentlich höher zu bemessen. Daß die mitbeteiligte Partei das Leiden nicht als Unfallfolge anerkenne, sondern auf ein anlagebedingtes Leiden zurückführe und dies als Grundlage für die Ablehnung seines Antrages heranziehe, beruhe auf einem neuerlichen Irrtum. Die mitbeteiligte Partei hätte im Hinblick auf die Verwendung der Bezeichnung "ältere Hüftkopfnekrose" im obgenannten Schreiben zumindest Dr. W dahingehend befragen müssen, was er unter einer älteren Hüftkopfnekrose verstehe und ob dies eine Folge des Arbeitsunfalles vom sein könne. Ohne diese erforderliche Abklärung liege jedenfalls eine Mangelhaftigkeit des Verfahrens vor. Zum Beweis dafür, daß die idiopathische Hüftkopfnekrose und deren Folgen Folgen seines Arbeitsunfalles vom seien und somit sein Antrag zu Unrecht abgelehnt worden sei, beantrage er die Erstellung eines Gutachtens aus dem Fach der Unfallchirurgie.
Mit dem angefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde den Einspruch gemäß § 66 Abs. 4 AVG ab und bestätigte den bekämpften Bescheid. Begründet wurde dieser Bescheid letztlich damit, daß die Unrichtigkeit der ärztlichen Beurteilung vom "später nicht - insbesondere auch nicht im gegenständlichen Verfahren - nachgewiesen" worden sei.
Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende, primär Rechtswidrigkeit infolge Unzuständigkeit der belangten Behörde, in eventu Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften geltend machende Beschwerde.
Die belangte Behörde legte die Akten des Verwaltungsverfahrens vor und erstattete ebenso wie die mitbeteiligte Partei eine Gegenschrift.
Mit Erkenntnis vom , Zl. 93/08/0018, hob der Verwaltungsgerichtshof den angefochtenen Bescheid wegen Rechtswidrigkeit infolge Unzuständigkeit der belangten Behörde mit der Begründung auf, daß die belangte Behörde im vorliegenden Fall über eine Leistungssache im Sinne des § 354 ASVG entschieden habe, zu der sie nicht zuständig gewesen sei.
Daraufhin wies die belangte Behörde mit Bescheid vom den Einspruch gemäß § 66 Abs. 4 AVG als unzulässig zurück.
Mit Erkenntnis vom , K I-7/93-12, sprach der Verfassungsgerichtshof über den Antrag des Beschwerdeführers auf Entscheidung eines verneinenden Kompetenzkonfliktes zwischen dem Obersten Gerichtshof als Rekursgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen (Beschluß vom , Zl. 10 Ob S 279/92) und dem Landeshauptmann von Niederösterreich (Bescheid vom ) gemäß Art. 138 Abs. 1 lit. a B-VG und § 46 Abs. 1 VerfGG 1953 (unter Hinweis auf sein Erkenntnis vom , K I-5/93-8, in dem die Zuständigkeit des Landeshauptmannes zur Entscheidung über den Einspruch gegen einen Bescheid nach § 101 ASVG bejaht wurde) aus, daß die belangte Behörde zur Entscheidung über den Einspruch des Beschwerdeführers gegen den Bescheid der mitbeteiligten Partei zuständig sei, und hob den entgegenstehenden Bescheid der belangten Behörde vom und das ihm zugrundeliegende Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom auf.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
Gemäß § 101 ASVG ist dann, wenn sich nachträglich ergibt, daß eine Geldleistung bescheidmäßig infolge eines wesentlichen Irrtums über den Sachverhalt oder eines offenkundigen Versehens zu Unrecht abgelehnt, entzogen, eingestellt, zu niedrig bemessen oder zum Ruhen gebracht wurde, mit Wirkung vom Tage der Auswirkung des Irrtums oder Versehens der gesetzliche Zustand herzustellen.
Nach dem zitierten Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom ist die Entscheidung, daß der gesetzliche Zustand wegen eines wesentlichen Irrtums über den Sachverhalt oder eines offenkundigen Versehens herzustellen ist, eine Verwaltungssache, die Herstellung dieses Zustandes selbst hingegen eine Leistungssache. Demgemäß hat sich der mit Einspruch angerufene Landeshauptmann auf die Frage der Zulässigkeit der Herstellung des gesetzlichen Zustandes (die auch dann zu verneinen sei, wenn kein wesentlicher Irrtum über den Sachverhalt und kein offenkundiges Versehen vorliege) zu beschränken und dem Sozialversicherungsträger bejahendenfalls die Herstellung, und das heißt, die Erlassung eines neuen Leistungsbescheides, aufzutragen.
Ob die mitbeteiligte Partei, wie der Beschwerdeführer schon im Verwaltungsverfahren behauptete, die Versehrtenrente infolge eines wesentlichen Irrtums über den Sachverhalt zu niedrig bemessen hat, hängt - sachverhaltsbezogen - davon ab, ob die erstmals im Februar 1992 festgestellte idiopathische Hüftkopfnekrose eine Folge des Arbeitsunfalles des Beschwerdeführers vom ist und - bejahendenfalls - ob sie zumindest schon im Zeitpunkt der Erlassung des Bescheides der mitbeteiligten Partei vom bestand und hätte festgestellt werden können.
Die belangte Behörde hat - ebenso wie die mitbeteiligte Partei - schon die erste Frage unter Hinweis auf die Stellungnahme der chefärztlichen Station der mitbeteiligten Partei, deren Unrichtigkeit (offenbar vom Beschwerdeführer) "später nicht ... nachgewiesen" worden sei, verneint. Dabei verkennt sie aber, daß auch im gegenständlichen Verfahren keine (über die aus den §§ 37, 39 Abs. 2 AVG abgeleitete Mitwirkungspflicht hinausgehende) Beweislast des Versicherten besteht (vgl. allgemein zur Abgrenzung der Mitwirkungspflicht von der "Nachweispflicht" das Erkenntnis vom Zl. 93/08/0098, mit weiteren Judikaturhinweisen). Die belangte Behörde hätte daher - entsprechend ihrer amtswegigen Ermittlungspflicht - unter Bedachtnahme darauf, daß die Stellungnahme der chefärztlichen Station der mitbeteiligten Partei nicht den Anforderungen entsprochen hat, die an Sachverständigengutachten zu stellen sind (vgl. zuletzt das Erkenntnis vom , Zl. 94/08/0015, mit weiteren Judikaturhinweisen), zur Ermöglichung einer Klärung der obgenannten Fragen ein (vom Beschwerdeführer im übrigen ausdrücklich beantragtes) Sachverständigengutachten einholen müssen.
Der angefochtene Bescheid war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung des Bundeskanzlers, BGBl. Nr. 416/1994. Das Kostenmehrbegehren war im Hinblick auf die bestehende sachliche Abgabenfreiheit (§ 110 Abs. 1 Z. 2 ASVG) abzuweisen.