VwGH vom 23.02.1993, 92/08/0193
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Liska und die Hofräte Dr. Knell, Dr. Müller, Dr. Novak und Dr. Händschke als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Schwächter, über die Beschwerde der O in B, vertreten durch Dr. L, Rechtsanwalt, I, gegen den Bescheid des Landeshauptmannes von Tirol vom , Zl. Vd-3995/3, betreffend Zurückweisung eines Einspruches in einer Haftungsangelegenheit nach § 67 Abs. 10 ASVG (mitbeteiligte Partei: Tiroler Gebietskrankenkasse, Innsbruck, Klara-Pölt-Weg 2), zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund (Bundesminister für Arbeit und Soziales) hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von S 11.120,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Das Kostenmehrbegehren wird abgewiesen
Begründung
Mit Bescheid vom sprach die mitbeteiligte Tiroler Gebietskrankenkasse aus, daß die Beschwerdeführerin gemäß § 67 Abs. 10 ASVG zur Zahlung von S 682.414,49 innerhalb von acht Tagen nach Zustellung dieses Bescheides verpflichtet sei. Begründet wurde dieser Bescheid damit, daß eine näher genannte GesmbH. der mitbeteiligten Partei aufgrund von Beitragsprüfungen für die Zeit vom Februar 1991 bis einschließlich Dezember 1991 die im Spruch genannten Sozialversicherungsbeiträge schulde. Die Einbringlichmachung dieser Forderung sei nicht möglich gewesen, weil über das Vermögen der Gesellschaft mit der Anschlußkonkurs eröffnet worden sei. Die Beschwerdeführerin sei als Geschäftsführerin der genannten Gesellschaft zu deren Vertretung und auch zur ordnungsgemäßen Abwicklung ihrer Obliegenheiten als Dienstgeberin gegenüber der mitbeteiligten Partei berufen gewesen. Zu ihren Pflichten als Geschäftsführerin habe es gehört, dafür zu sorgen, daß die Beiträge bei Fälligkeit entrichtet würden. Da die Einbringlichmachung der Beiträge durch die schuldhafte Verletzung der der Beschwerdeführerin als Geschäftsführerin auferlegten Pflichten nicht möglich gewesen sei, habe ihre Haftung nach § 67 Abs. 10 ASVG ausgesprochen werden müssen. In der Rechtsmittelbelehrung wurde die Beschwerdeführerin unter anderem darauf hingewiesen, daß der innerhalb eines Monates nach Zustellung des Bescheides zu erhebende Einspruch einen begründeten Entscheidungsantrag zu enthalten habe.
Gegen diesen Bescheid erhob die Beschwerdeführerin einen Einspruch mit nachstehendem Inhalt:
"Betrifft: Bescheid vom Beiträge in Höhe von S 682.414,49 DG Kto.Nr. L 05/8604 und L 75/8436
Sehr geehrte Herren
Bezugnehmend auf obigen Bescheid möchte ich das Rechtsmittel des Einspruches anwenden.
Da der hauptsächliche Teil des oben angeführten Saldos auf die Nachrechnungen die auf Grund von Schätzungen durchgeführt wurden, welche von mir nicht anerkannt werden, entspricht der Saldo keinesfalls dieser Höhe.
Außerdem stelle ich den Antrag auf aufschiebende Wirkung, da durch eine vorzeitige Vollstreckung ein nicht wieder gutzumachender Schaden einträte.
In Erwartung, daß Sie meinem Einspruch Folge leisten, bedanke ich mich im voraus und verbleibe ... "
Mit dem angefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde den Einspruch als unzulässig zurück. Begründend wurde ausgeführt, eine Berufung (im gegenständlichen Verfahren: der Einspruch) habe gemäß § 63 Abs. 3 AVG den Bescheid zu bezeichnen, gegen den sie (er) sich richte und einen begründeten Berufungsantrag (Einspruchsantrag) zu enthalten. Der wesentliche Inhalt der Berufung bestehe also aus der Berufungserklärung, das sei die Bezeichnung des Bescheides, gegen den sie sich richte, und zwar auch dahin, ob dieser Bescheid zur Gänze oder nur zum Teil angefochten werde, aus der Berufungsbegründung, das seien die Gründe, die den Berufungsantrag rechtfertigten, wie z.B. materielle Rechtswidrigkeit, wesentliche Verfahrensmängel oder unrichtige Beweiswürdigung, sowie schließlich aus dem Berufungsantrag. Aus dem Antrag müsse deutlich zutage treten, was der Berufungswerber begehre, z.B. ob der Bescheid ersatzlos beseitigt oder in bestimmter Weise abgeändert werden solle. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes liege ein begründeter Berufungsantrag dann vor, wenn die Eingabe erkennen lasse, welchen Zweck der Einschreiter anstrebe und womit er seinen Standpunkt vertreten zu können glaube. Die Beschwerdeführerin habe in ihrem Einspruch als Begründung lediglich angeführt, daß die Nachrechnungen aufgrund von Schätzungen durchgeführt worden seien, welche von ihr nicht anerkannt würden, und der Saldo keinesfalls dieser Höhe entspreche. Selbst wenn man der Ansicht der Höchstgerichte folge, daß bei der Auslegung des Merkmales eines "begründeten" Berufungsantrages kein strenger Maßstab angelegt werden solle, so müsse das Rechtsmittel aber wenigstens erkennen lassen, was die Partei anstrebe und womit sie ihren Standpunkt vertreten zu können glaube. Der vorliegende Einspruch lasse zwar erkennen, welcher Bescheid der mitbeteiligten Partei angefochten werde, er lasse jedoch nicht erkennen, aus welchen Erwägungen und in welchem Umfang der Bescheid bekämpft werde. Das Fehlen eines der inhaltlichen Bestandteile der Berufung stelle einen inhaltlichen Fehler dar, der zur Zurückweisung führen müsse. Das gelte nicht, wenn in der Rechtsmittelbelehrung nicht auf das Erfordernis eines begründeten Rechtsmittelantrages hingewiesen worden sei. Der bekämpfte Bescheid enthalte jedoch eine ausreichende Rechtsmittelbelehrung, weshalb der Einspruch als unzulässig zurückzuweisen gewesen sei.
Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, nach der sich die Beschwerdeführerin in ihrem Recht auf eine Sachentscheidung nach § 66 Abs. 4 AVG verletzt erachtet. In Ausführung dieses Beschwerdepunktes macht die Beschwerdeführerin geltend, daß ihr Einspruch - entgegen der Bescheidbegründung - einen begründeten Entscheidungsantrag enthalten habe. Sie habe nämlich im Einspruch ausgeführt, daß sie ausdrücklich das Rechtsmittel des Einspruches erhebe und erwarte, daß ihrem Einspruch Folge geleistet werde. Auch habe sie ihren Einspruch damit begründet, daß der hauptsächliche Teil des geltend gemachten Saldos auf die Nachrechnungen, die aufgrund von Schätzungen durchgeführt worden seien, zurückzuführen sei, die von der Beschwerdeführerin nicht anerkannt würden. Damit habe sie aber eindeutig zum Ausdruck gebracht, worin sie die Unrichtigkeit des erstinstanzlichen Bescheides erblicke. Dies genüge, weil es nach der Rechtsprechung bei der Beurteilung eines begründeten Berufungsantrages nicht auf eine formell und inhaltlich vollendete Darstellung durch den Berufungswerber ankomme; es müsse lediglich mit Sicherheit zu erkennen sein, was die Partei anstrebe und womit sie ihren Standpunkt vertreten zu können glaube. Keineswegs solle aber in der Voraussetzung für die Begründung ein dem Geist des AVG fremder, übertriebener Formalismus in das Verwaltungsverfahren eingeführt werden.
Die belangte Behörde legte die Akten des Verwaltungsverfahrens vor und beantragte in der Gegenschrift die Abweisung der Beschwerde. Die mitbeteiligte Partei nahm von der Erstattung einer Gegenschrift Abstand.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
Gemäß § 412 Abs. 1 ASVG können Bescheide der Versicherungsträger in Verwaltungssachen binnen einem Monat nach der Zustellung durch Einspruch an den zuständigen Landeshauptmann angefochten werden. Der Einspruch hat den Bescheid zu bezeichnen, gegen den er sich richtet, und einen begründeten Entscheidungsantrag zu enthalten.
Nach der gemäß § 357 Abs. 1 ASVG unter anderem für das Verfahren vor den Versicherungsträgern in Verwaltungssachen geltenden Bestimmung des § 61 Abs. 1 AVG ist in der Rechtsmittelbelehrung unter anderem auf das Erfordernis eines begründeten Rechtsmittelantrages hinzuweisen. Enthält der Bescheid keine oder eine unrichtige Angabe über das Erfordernis eines begründeten Rechtsmittelantrages, so gilt nach § 61 Abs. 5 AVG das Fehlen eines solchen als Formgebrechen (§ 13 Abs. 3). Daraus ergibt sich, daß das Fehlen eines begründeten Rechtsmittelantrages im Einspruch nur dann als Formgebrechen im Sinne des § 13 Abs. 3 AVG mit der Rechtsfolge einer Verpflichtung der Behörde, dem Einschreiter die Behebung der Formgebrechen aufzutragen, gilt, wenn der Bescheid keine oder eine unrichtige Angabe über das Erfordernis eines begründeten Rechtsmittelantrages enthält; trifft letzteres - so wie im Beschwerdefall - nicht zu, so stellt ein solches Fehlen einen Inhaltsmangel des Einspruches dar, der seine Zurückweisung als unzulässig zur Folge hat (vgl. dazu unter anderem das Erkenntnis vom , Zl. 85/11/0229, und das Erkenntnis eines verstärkten Senates vom , Zl. 88/18/0361).
Bei der Beurteilung der Frage, ob eine als Einspruch zu wertende Eingabe einen begründeten Entscheidungsantrag enthält, sind nach ständiger Rechtsprechung im Hinblick auf die Gleichartigkeit dieser Regelung mit jener des § 63 Abs. 3 AVG, wonach die Berufung unter anderem einen begründeten Berufungsantrag zu enthalten hat, die zu dieser Bestimmung von der Rechtsprechung entwickelten Auslegungsgesichtspunkte heranzuziehen (vgl. schon das Erkenntnis vom , Slg. Nr. 4509/A, und zuletzt das Erkenntnis vom , Zl. 91/08/0080). Danach ist zwar bei der Beurteilung einer Berufung daraufhin, ob sie die für ihre meritorische Behandlung unverzichtbaren Voraussetzungen eines Berufungsantrages und einer Berufungsbegründung (vgl. Erkenntnis vom , Zl. 92/06/0080, mit weiteren Judikaturhinweisen) erfüllt, keine streng formalistische Auslegung vorzunehmen; es müssen demnach Antrag und Begründung nicht als solche bezeichnet und entsprechend getrennt sein (vgl. Erkenntnis vom , Zl. 86/04/0123); es kommt auch nicht auf eine formell und inhaltlich vollendete Darstellung des begründeten Berufungsantrages an (vgl. unter anderem Erkenntnis vom , Zl. 1554/78). Das bedeutet aber nicht, daß schon die bloße Erkennbarkeit des mangelnden Einverständnisses mit einem Bescheid einen begründeten Berufungsantrag darstellt (vgl. Erkenntnis vom , Zl. 89/01/0275). Dies ist ja eine Voraussetzung dafür, daß eine Eingabe überhaupt als Rechtsmittel gewertet werden kann. Für die Erfüllung der Voraussetzung eines begründeten Berufungsantrages ist vielmehr erforderlich (aber auch ausreichend), daß aus einer als Berufung zu wertenden Eingabe einerseits - unter dem Gesichtspunkt des Berufungsantrages - erkennbar ist, was der Berufungswerber mit seinem Rechtsmittel anstrebt, das heißt ob er eine gänzliche oder nur teilweise (und diesfalls welche) Abänderung oder Behebung des bekämpften Bescheides bezweckt (vgl. unter anderem die Erkenntnisse vom , Zl. 2834/79, und vom , Zl. 91/11/0149), und daß die Berufung andererseits - unter dem Gesichtspunkt der Begründung des Berufungsantrages - erkennen läßt, womit (d.h. mit welchen - wenn auch vielleicht nicht stichhältigen - Gründen) der Berufungswerber seinen Standpunkt vertreten zu können glaubt (vgl. unter anderem die Erkenntnisse vom , ZL. 85/08/0006, vom , Zl. 85/11/0229, vom , Zl. 92/06/0080, und vom , Zl. 91/08/0080). Wenn der Eingabe nicht einmal eine Andeutung darüber zu entnehmen ist, worin die Unrichtigkeit des bekämpften Bescheides nach Auffassung des Berufungswerbers gelegen sein soll, so fehlt es jedenfalls am Erfordernis der Begründung des Berufungsantrages (vgl. das Erkenntnis vom , Zl. 89/08/0133, und zu den Fällen der bloßen "Berufungsanmeldung" u.a. die Erkenntnisse vom , Zl. 2834/79, und vom , Zl. 92/08/0043).
Diesen an einen "begründeten Entscheidungsantrag" im Sinne des § 412 Abs. 1 zweiter Satz ASVG zu stellenden Anforderungen entspricht der oben wiedergegebene Einspruch der Beschwerdeführerin zunächst insofern, als sich ihm entnehmen läßt, daß sie damit den erstinstanzlichen Bescheid (nur) insoweit bekämpft hat, als ihre Haftung für jenen Teil des "Saldos" in der Höhe von S 682.414,49 ausgesprochen wurde, der auf "Nachrechnungen" von Sozialversicherungsbeiträgen zurückzuführen sei, "die aufgrund von Schätzungen durchgeführt wurden", und sie eine diesbezügliche Abänderung des bekämpften Bescheides begehrt hat. Daß sie diese Teilanfechtung nicht ziffernmäßig präzisiert hat und deshalb aus dem Einspruch selbst nicht erkennbar ist, ob und wenn ja inwieweit der bekämpfte Bescheid in Teilrechtskraft erwachsen ist, benimmt dem Entscheidungsantrag - entgegen der Auffassung der belangten Behörde und der mitbeteiligten Partei in der Stellungnahme zum Einspruch - unter Bedachtnahme darauf, daß auch der erstinstanzliche Bescheid jeglicher ziffernmäßiger Aufschlüsselungen des Haftungsbetrages und Angaben über seine Zusammensetzung und die Art seiner Ermittlung entbehrt, nicht die im obgenannten Sinn erforderliche Bestimmbarkeit. Die ziffernmäßig nicht präzisierte Teilbekämpfung des erstinstanzlichen Bescheides hätte die belangte Behörde vielmehr zum Anlaß nehmen müssen, sie (und damit eine allfällige Teilrechtskraft des Bescheides) unter Mitwirkung der Parteien des Einspruchsverfahrens klarzustellen. Der Einspruch enthält aber auch eine im obigen Sinn noch zureichende Begründung des Entscheidungsantrages. Denn - entgegen der Auffassung der belangten Behörde - läßt er sehr wohl erkennen, aus welchen Erwägungen die Beschwerdeführerin den Bescheid der mitbeteiligten Partei im genannten Umfang bekämpft hat. Durch die Verknüpfung der Wendung "welche von mir nicht anerkannt werden" mit dem oben gedeuteten Entscheidungsantrag brachte sie nämlich erkennbar zum Ausdruck, daß sie den Bescheid deshalb (und insofern) für unrichtig erachte, weil (und als) die dem Haftungsbetrag zugrundeliegenden "Nachrechnungen" auf Schätzungen beruhten, die von ihr nicht anerkannt würden. Ob sie damit meinte, sie dürfe - schon aus rechtlichen Gründen - deshalb nicht zu einer Haftung nach § 67 Abs. 10 ASVG herangezogen werden, weil sie diese Schätzungen, unabhängig von ihrer Zulässigkeit, Mängelfreiheit und inhaltlichen Richtigkeit, nicht anerkenne, oder ob sie, was näher liegt, aus den zuletzt genannten Gründen ihre Eignung, eine taugliche Grundlage für die genannten "Nachrechnungen" zu sein, in Abrede stellen wollte, und ob zumindest eine dieser Begründungsvarianten den begehrten Sacherfolg herbeiführen konnte, benahm der genannten Wendung in Verbindung mit dem Entscheidungsantrag nicht die Eigenschaft einer noch ausreichenden Begründung im obgenannten Sinn. Die eben angesprochene Unklarheit dieser Wendung hätte vielmehr die belangte Behörde (im Falle der Bejahung der Relevanz zumindest einer dieser Begründungsvarianten) dazu veranlassen müssen, auf eine entsprechende Klärung durch die Beschwerdeführerin zu dringen.
Aus diesen Erwägungen folgt, daß die belangte Behörde nicht mit einer Zurückweisung des Einspruches mangels eines begründeten Entscheidungsantrages hätte vorgehen dürfen, sondern daß eine Sacherledigung hätte getroffen werden müssen. Der angefochtene Bescheid war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung des Bundeskanzlers BGBl. Nr. 104/1991. Das Mehrbegehren auf "Barauslagen" (gemeint: Stempelgebührenersatz) war im Hinblick auf die bestehende sachliche Abgabenfreiheit (§ 110 Abs. 1 Z. 2 ASVG) abzuweisen.
Zu dem zur hg. Zl. AW 92/08/0022 protokollierten Antrag, der eingebrachten Beschwerde aufschiebende Wirkung zuzuerkennen, wird bemerkt, daß die Beendigung des Beschwerdeverfahrens, für dessen Dauer die Zuerkennung beantragt wurde, einen Abspruch über diesen Antrag entbehrlich macht.