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VwGH vom 21.09.1993, 92/08/0142

VwGH vom 21.09.1993, 92/08/0142

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Liska und die Hofräte Dr. Knell, Dr. Müller, Dr. Novak und Dr. Sulyok als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Schwächter, über die Beschwerde der V in P (Jugoslawien - Serbien), vertreten durch Dr. G, Rechtsanwalt in W, gegen den Bescheid des Landeshauptmannes von Wien vom , Zl. MA 14-B 10/92, betreffend Herstellung des gesetzlichen Zustandes gemäß § 101 ASVG (mitbeteiligte Partei: Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter, Wien IX, Roßauer Lände 3) zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Unzuständigkeit der belangten Behörde aufgehoben.

Der Bund (Bundesminister für Arbeit und Soziales) hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von S 11.120,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Das Kostenmehrbegehren wird abgewiesen.

Begründung

Die Beschwerdeführerin stellte am bei der mitbeteiligten Partei den Antrag auf Zuerkennung einer Invaliditätspension. Mit Bescheid der mitbeteiligten Partei vom wurde dieser Antrag abgelehnt, weil die Wartezeit nicht erfüllt sei. Begründend wurde ausgeführt, daß der Anspruch auf eine Pensionsleistung an die allgemeine Voraussetzung geknüpft sei, daß am Stichtag die Wartezeit erfüllt sei. Zum Stichtag würde die Wartezeit dann erfüllt sein, wenn die Beschwerdeführerin im Zeitraum vom bis mindestens

96 Versicherungsmonate oder bis zum Stichtag insgesamt 240 Versicherungsmonate, davon mindestens 180 Beitragsmonate, erworben hätte. Sie habe ab 86 Beitragsmonate erworben und daher die erforderlichen Voraussetzungen zum Stichtag nicht erfüllt. Dieser Bescheid erwuchs nach der Aktenlage unangefochten in Rechtskraft.

Mit der am bei der mitbeteiligten Partei eingelangten Eingabe beantragte die Beschwerdeführerin die rückwirkende Herstellung des gesetzlichen Zustandes nach § 101 ASVG und die Zuerkennung der Invaliditätspension basierend auf dem Antrag vom . Die mitbeteiligte Partei habe es verabsäumt, die Beschwerdeführerin auf die Möglichkeit der Weiterversicherung hinzuweisen, das heiße, sie damit bekannt zu machen, daß mit der Weiterversicherung die Wartezeit erfüllt werde. Zur Weiterversicherung sei sie berechtigt und seien damit die allgemeinen Voraussetzungen für die Zuerkennung der Invaliditätspension zum Stichtag erfüllt. Die freiwillige Weiterversicherung beginne mit dem Tage, den der Versicherte wähle. Die Weiterversicherung werde daher so beantragt, daß die Wartezeit zum Stichtag erfüllt sei. Es würden auch Mindestbeiträge beantragt, da die Versicherte nicht im Stande sei, diese Kosten ohne wesentliche Beeinträchtigung ihres Lebensunterhaltes zu tragen.

Mit Bescheid der mitbeteiligten Partei vom wurde dieser Antrag der Beschwerdeführerin abgelehnt. Begründend wurde ausgeführt, daß sich gegenüber der seinerzeitigen Entscheidungsgrundlage keine Änderung ergeben habe und ein wesentlicher Irrtum über den Sachverhalt oder ein offenkundiges Versehen nicht vorliege. Dieser Bescheid enthielt die Rechtsmittelbelehrung, daß innerhalb von drei Monaten ab Zustellung Klage beim zuständigen Landes-, Kreis- bzw. Arbeits- und Sozialgericht erhoben werden könne.

Die Beschwerdeführerin bekämpfte diesen Bescheid mit einer als Widerspruch bezeichneten, beim Arbeits- und Sozialgericht Wien eingebrachten Klage. Das Arbeits- und Sozialgericht Wien wies mit Beschluß vom , AZ 11 Cgs 48/91, die Klage wegen Unzulässigkeit des Rechtsweges zurück. Dieser Beschluß erwuchs nach der Aktenlage unangefochten in Rechtskraft.

Mit dem am bei der mitbeteiligten Partei eingelangten Schreiben (ohne Datum) der Beschwerdeführerin gab sie dieser bekannt, daß es sich laut Mitteilung des Verfahrenshelfers um eine Verwaltungssache handle und eine Klage nicht zulässig sei. Aus diesem Grunde bitte sie um dringende Prüfung unter Zugrundelegung der angeschlossenen Eingabe vom (an das Arbeits- und Sozialgericht Wien), gegebenfalls um unverzügliche Weiterleitung an die zuständige Widerspruchs- Klagestelle.

Die mitbeteiligte Partei legte dieses Schreiben samt der Kopie des Schreibens vom mit einer Stellungnahme der belangten Behörde vor.

Die belangte Behörde wies mit dem angefochtenen Bescheid diesen "Einspruch" der Beschwerdeführerin als unbegründet gemäß § 66 Abs. 4 AVG ab. Begründend führte die belangte Behörde aus, daß im vorliegenden Fall feststehe, daß zum Zeitpunkt des Stichtages die Wartezeit für eine Invaliditätspension nicht erfüllt gewesen sei. Da zum Zeitpunkt der Entscheidung der mitbeteiligten Partei weder ein Irrtum unterlaufen sei noch ein Versehen stattgefunden habe, sei der Antrag auf rückwirkende Herstellung des gesetzlichen Zustandes zu Recht abzulehnen gewesen.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende, Rechtwidrigkeit des Inhaltes und Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften geltend machende Beschwerde.

Die belangte Behörde legte die Verwaltungsakten vor und erstattete eine Gegenschrift, in der sie die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde beantragte.

Die mitbeteiligte Partei beantragte in ihrer Gegenschrift

der Beschwerde keine Folge zu geben.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

§ 101 ASVG lautet:

"Ergibt sich nachträglich, daß eine Geldleistung bescheidmäßig infolge eines wesentlichen Irrtums über den Sachverhalt oder eines offenkundigen Versehens zu Unrecht abgelehnt, entzogen, eingestellt, zu niedrig bemessen oder zum Ruhen gebracht wurde, so ist mit Wirkung vom Tage der Auswirkung des Irrtums oder Versehens der gesetzliche Zustand herzustellen."

Sozialversicherungsrechtssachen werden im 7. Teil (Verfahren) Abschnitt I, erster Unterabschnitt des ASVG entweder den Leistungs- oder den Verwaltungssachen zugeordnet, wobei der Rechtsschutz gegen Bescheide der Versicherungsträger im erstgenannten Fall den (Arbeits- und Sozial-) Gerichten, im zweitgenannten Fall den Verwaltungsbehörden (unter der nachprüfenden Kontrolle des Verwaltungsgerichtshofes und Verfassungsgerichtshofes) übertragen ist.

Gemäß § 354 Z. 1 ASVG sind (unter anderen) Leistungssachen jene Angelegenheiten, in denen es sich um die Feststellung des Bestandes, des Umfangens oder des Ruhens eines Anspruches auf eine Versicherungsleistung einschließlich einer Feststellung nach § 367 Abs. 1, soweit nicht hiebei die Versicherungszugehörigkeit (§§ 13 bis 15), die Versicherungszuständigkeit (§§ 26 bis 30), die Leistungszugehörigkeit (§ 245) oder die Leistungszuständigkeit (§ 246) in Frage steht, handelt.

Gemäß § 355 ASVG sind alle nicht gemäß § 354 als Leistungssachen geltende Angelegenheiten, für die nach § 352 die Bestimmungen dieses Teiles gelten, Verwaltungssachen.

Die Herstellung des gesetzlichen Zustandes gemäß § 101 ASVG wurde von der Rechtsprechung grundsätzlich als ein Begehren auf "Feststellung des Bestandes, des Umfanges oder des Ruhens eines Anspruches auf eine Versicherungsleistung" angesehen und damit den Leistungssachen im Sinne des § 354 ASVG zugeordnet, und zwar unabhängig davon, ob eine stattgebende oder eine den Anspruch auf Richtigstellung verneinende Entscheidung getroffen wurde. Für eine solche Anwendbarkeit des § 101 ASVG wird vorausgesetzt, daß es sich um eine Geldleistung handelt, die bescheidmäßig abgelehnt, entzogen, eingestellt, zu niedrig bemessen oder zum Ruhen gebracht wurde und schließlich, daß die Geltendmachung der rückwirkenden Herstellung nachträglich erfolgte. Liegen diese drei Voraussetzungen (Geldleistung, bescheidmäßig, nachträglich) vor, handelt es sich um einen zulässigen Antrag. Die meritorische Entscheidung darüber ist eine Leistungssache.

Der Verwaltungsgerichtshof hat für den Fall, als ein Antrag nach § 101 ASVG mangels Vorliegens eines Leistungsbescheides, auf den er sich beziehen könnte, nicht zulässig ist, diese Frage den Verwaltungssachen zugeordnet (Erkenntnis vom , Zl. 89/08/0264, mit weiteren Nachweisen). Das Vorliegen einer Verwaltungssache wurde dann bejaht, wenn die Zulässigkeit des Antrages nach § 101 ASVG verneint wurde und somit über eine der eigentlichen Leistungssache vorgelagerte verfahrensrechtliche Hauptfrage entschieden wurde, die den Verwaltungssachen im Sinne des § 355 ASVG zuzurechnen ist. Liegt also eine der genannten Voraussetzungen (Geldleistung, bescheidmäßig, nachträglich) nicht vor, so handelt es sich um einen unzulässigen Antrag, über den mit einem nicht klagefähigen Bescheid abzusprechen ist. Ein solcher Bescheid erkennt über eine reine verfahrensrechtliche Angelegenheit und nicht über eine Leistungssache im Sinne des § 354 ASVG.

Dem gegenüber handelt es sich bei der - auch im Beschwerdefall vorliegenden - Frage der Begründetheit des Antrages um die Frage des "ob" des Anspruches und damit um eine Leistungssache im Sinne des § 354 ASVG. Die Frage, ob ein wesentlicher Sachverhaltsirrtum oder ein offenkundiges Versehen vorliegt, berührt nicht die Anwendbarkeit des § 101 ASVG, sondern die Frage der Zulässigkeit bzw. Unzulässigkeit der rückwirkenden Wiederherstellung und liegt - im Falle einer meritorischen Entscheidung - eine Leistungssache vor.

Wie der Verwaltungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom , Zl. 89/08/0264, ausführlich dargelegt hat, hält er an seiner Rechtsauffassung fest, daß zwar gegen Bescheide des Versicherungsträgers, mit denen die Unzulässigkeit eines Antrages nach § 101 ASVG ausgesprochen wurde, gemäß § 355 ASVG in Verbindung mit § 412 ASVG der Verwaltungsweg durch Einspruch an den Landeshauptmann eröffnet ist, Bescheide hingegen, mit denen im Sinne der Unbegründetheit des Antrages erkannt wird, zu den Leistungssachen im Sinne des § 354 Z. 1 ASVG gehören, gegen die Klage gemäß § 65 Abs. 1 ASGG zu erheben ist (vgl. auch die beiden Erkenntnisse vom , Zl. 91/08/0062 und Zl. 91/08/0079, sowie das Erkenntnis vom , Zl. 93/08/0018.

Im vorliegenden Fall sind die Voraussetzungen für die Anwendbarkeit des § 101 ASVG gegeben. Bei der beantragten Invaliditätspension handelt es sich um eine Geldleistung, die bescheidmäßig (Bescheid vom ) abgelehnt wurde und für die nachträglich (eingelangter Antrag vom ) die rückwirkende Herstellung geltend gemacht wurde; über den diesbezüglichen Antrag wurde auch meritorisch entschieden.

Aufgrund dieser Erwägungen ergibt sich, daß die belangte Behörde im vorliegenden Fall über eine Leistungssache entschieden hat, zu der sie nicht zuständig war.

Der angefochtene Bescheid war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z. 2 VwGG aufzuheben.

Die Beschwerdeführerin wird auf die Möglichkeit einer Anrufung des Verfassungsgerichtshofes gemäß Art. 138 Abs. 1 B-VG verwiesen.

Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung des Bundeskanzlers BGBl. Nr. 104/1991. Das Kostenmehrbegehren war abzuweisen, weil mit dem Pauschalbetrag der gesamte Beschwerdeaufwand abgegolten wird und nicht zusätzlich ein "Schriftsatzaufwand" begehrt werden kann.