VwGH vom 16.06.1994, 94/19/0295
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Herberth und die Hofräte Dr. Kremla, Dr. Stöberl, Dr. Holeschofsky und Dr. Blaschek als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Klebel, über die Beschwerde des S in G, vertreten durch Dr. W, Rechtsanwalt in G, gegen den Bescheid des Bundesministers für Inneres vom , Zl. 4.291.217/3-III/13/91, betreffend Asylgewährung, zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in Höhe von S 12.860,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Der Beschwerdeführer, ein irakischer Staatsangehöriger kurdischer Nationalität, ist am aus Ungarn kommend in das österreichische Bundesgebiet eingereist und hat am einen Asylantrag gestellt.
Bei seiner von der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Steiermark am durchgeführten niederschriftlichen Erstbefragung gab er hinsichtlich seiner Fluchtgründe an, er habe bis 1975 in Sahila gewohnt. Dieser Ort sei 1975 von Bulldozern auf Anordnung der irakischen Regierung dem Erdboden gleichgemacht worden; der Beschwerdeführer habe ebenso wie die Ortsbewohner nach Halabja in die Berge flüchten müssen. 1985 sei der Beschwerdeführer beim Militär gewesen. In diesem Jahr seien zwei seiner Brüder von der irakischen Regierung hingerichtet worden und zwar nur aus dem Grund, weil sie so wie der Beschwerdeführer Kurden gewesen seien. Der Beschwerdeführer habe Angst gehabt, ebenfalls mit der Regierung Schwierigkeiten zu bekommen; er sei deshalb vom Militär geflüchtet. Er habe sich drei Jahre lang in den Bergen von Kurdistan versteckt gehalten; er habe dort auf einer Hochebene bei Kurden gelebt. Im Jahr 1988 seien die Ortschaften Bahdinan und Halabja, wo der Beschwerdeführer sich aufgehalten habe, von der irakischen Regierung mit Giftgasbomben beworfen worden, wobei tausende Kurden den Tod gefunden hätten. Zum Zeitpunkt dieser Bombenabwürfe sei der Beschwerdeführer mit einer Gruppe außerhalb der Ortschaft in den Bergen gewesen; er habe sich mit dieser Gruppe während des Angriffes in einer Höhle versteckt gehalten, sodaß die gesamte Gruppe unverletzt geblieben sei. Die Europäer würden gar nicht merken, daß die irakische Regierung "offiziell" an den Kurden Völkermord begehe. Der Beschwerdeführer habe einfach Glück gehabt, diesem Völkermord zu entkommen. Er habe um sein Leben gefürchtet und ständig auf der Flucht gelebt, um nicht den irakischen Behörden in die Hände zu fallen; er habe nämlich nicht dasselbe Schicksal wie seine Brüder erleiden wollen.
Mit Bescheid der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Steiermark vom wurde festgestellt, daß beim Beschwerdeführer die Voraussetzungen für seine Anerkennung als Flüchtling im Sinne des Asylgesetzes (1968) nicht vorlägen.
Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer am Berufung und erstattete darin weiteres Vorbringen hinsichtlich seiner Flüchtgründe und seines Fluchtweges.
Mit dem im Instanzenzug ergangenen Bescheid vom wies die belangte Behörde die Berufung gemäß § 66 Abs. 4 AVG ab. Begründend vertrat die belangte Behörde nach Darlegung der Rechtslage im wesentlichen die Auffassung, dem Beschwerdeführer sei die Glaubhaftmachung einer Verfolgung aus Konventionsgründen mißlungen, weil er in seiner Erstbefragung und in seiner Berufung miteinander nicht in Einklang zu bringende Angaben gemacht habe. Die generelle Lage der Kurden im Irak - die der belangten Behörde durchaus bekannt sei - könne nicht als eine gegen den Beschwerdeführer gerichtete Verfolgungshandlung gewertet werden. Aus diesem Grunde sei der behauptete Tod der Brüder des Beschwerdeführers unbeachtlich. Der Beschwerdeführer habe nicht angegeben, daß die irakischen Behörden von seiner politischen Haltung Kenntnis erlangt hätten, sondern er habe unter Punkt 7 der erstinstanzlichen Niederschrift die Fragen nach Vorstrafen, Begehung strafbarer Handlungen vor der Flucht und Nachforschungen nach seiner Person in seinem Heimatland verneint.
Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes und wegen Rechtswidrigkeit infolge von Verletzung von Verfahrensvorschriften. Der Beschwerdeführer erachtet sich erkennbar in seinem Recht auf Anerkennung als Flüchtling (bzw. Asylgewährung) verletzt.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
Im Hinblick auf die am gegen den erstinstanzlichen Bescheid erhobene Berufung hatte die belangte Behörde - wie sie auch selbst zutreffend ausgeführt hat - im vorliegenden Fall gemäß § 25 Abs. 2 Asylgesetz 1991 dieses Gesetz anzuwenden hatte.
Die belangte Behörde übersieht jedoch, daß sie gemäß § 20 Abs. 1 Asylgesetz 1991 daher ihrer Entscheidung das Ergebnis des Ermittlungsverfahrens erster Instanz zugrunde zu legen hatte. Da dieses Ermittlungsverfahren aber lediglich in der niederschriftlichen Erstbefragung des Beschwerdeführers vom bestanden hat, liegen weder die im angefochtenen Bescheid angezogenen Widersprüche in den allein maßgeblichen erstinstanzlichen Angaben des Beschwerdeführers vor, noch durfte sich die belangte Behörde von diesen erstinstanzlichen Ermittlungsergebnissen entfernen und das Berufungsvorbringen zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit des Beschwerdeführers heranziehen. Damit sind die negativen Aussagen über die Glaubwürdigkeit des Beschwerdeführers auf gesetzwidrigem Weg zustandegekommen (vgl. das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom ,
Zlen. 93/01/0234 und 0499).
Der Beschwerdeführer macht im Ergebnis mit Recht geltend, daß die belangte Behörde seinen erstinstanzlichen Angaben aus unzutreffenden Erwägungen die asylrechtliche Relevanz abgesprochen hat. Die belangte Behörde hat dieses Vorbringen nämlich ausschließlich aus dem Blickwinkel von individuell gegen den Beschwerdeführer gerichteten Einzelverfolgungsmaßnahmen betrachtet, dabei aber übersehen, daß der Flüchtlingsbegriff bzw. die asylrechtlich relevante Verfolgung ebenso wohlbegründete Furcht vor systematischer Gruppenverfolgung umfaßt. Asylrechtlich relevante Verfolgungshandlungen müssen nämlich auch darin erblickt werden, daß einem Asylwerber aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen objektiv drohende Gefahr bzw. wohlbegründete Furcht erwächst, weil diese Personen wegen eines asylrechtlich erheblichen Merkmals, welches er mit ihnen teilt, verfolgt werden, der Asylwerber sich ebenso wie diese Personen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsgeneigtheit vergleichbaren Lage befindet und seine bisherige Verschonung bloß als zufällig angesehen werden muß. In einem solchen Fall wäre ein Asylwerber durch systematische Gruppenverfolgung unmittelbar betroffen und - entgegen der Ansicht der belangten Behörde - auch berechtigt, aus fremdem Schicksal ihm drohende eigene Verfolgung abzuleiten (vgl. die hg. Erkenntnisse vom , Zl. 92/01/0982, vom , Zl. 93/01/0034, und vom , Zl. 93/01/0487).
In seiner Erstbefragung hat der Beschwerdeführer konkret angegeben, daß seine beiden Brüder von der irakischen Regierung bloß deshalb hingerichtet worden seien, "weil sie wie ich Kurden waren". Ferner hat der Beschwerdeführer vorgebracht, daß seine jeweiligen Aufenthaltsorte im Jahr 1988 irakischen Giftgasbombenangriffen ausgesetzt gewesen seien, und daß die irakische Regierung an den Kurden "einen Völkermord begehe". Der Beschwerdeführer führt seine Verschonung daher auch nur darauf zurück, daß er "einfach Glück hatte". Dem erstinstanzlichen Vorbringen des Beschwerdeführers können daher konkrete Hinweise auf gezielte, gruppengerichtete Verfolgungshandlungen von erheblicher Intensität - die sich als umso unkalkulierbarer und damit gefahrenträchtiger erweisen, je weniger sie von individuellen Momenten abhängen - nicht abgesprochen werden. Daß alle Bewohner des Irak bzw. auch Personen, die der kurdischen Volksgruppe im Irak nicht angehören, in gleicher Weise von diesen Maßnahmen betroffen gewesen wären, ist dem Vorbringen des Beschwerdeführers ebensowenig zu entnehmen, wie auch insoweit keine Ermittlungsergebnisse aus den Verwaltungsakten zu erkennen sind.
Die im angefochtenen Bescheid gegebene Begründung, der Tod (richtig wohl: die Hinrichtung) der Brüder des Beschwerdeführers sei "für das gegenständliche Verfahren nicht beachtlich" ist daher ebenso unzutreffend, wie auch die gegen die Furcht des Beschwerdeführers, das Schicksal seiner Brüder zu erleiden, geäußerten Zweifel von der belangten Behörde nicht schlüssig und nachvollziehbar begründet wurden. Insoweit die belangte Behörde ein zeitliches Naheverhältnis der Fluchtgründe und der Ausreise sowie die vom Beschwerdeführer dargelegte Fluchtroute bezweifelt, ist zu erwidern, daß die Asylbehörde - soferne das Vorbringen eines Asylwerbers (wie dies im Beschwerdefall zu bejahen ist) einen hinreichend deutlichen Hinweis auf einen asylrechtlich relevanten Sachverhalt enthält - ihrer gemäß § 16 Abs. 1 Asylgesetz 1991 obliegenden Verpflichtung, den für die Erledigung einer Verwaltungssache maßgeblichen Sachverhalt festzustellen und den Parteien Gelegenheit zur Geltendmachung ihrer Rechte und rechtlichen Interessen zu geben, nur dann entspricht, wenn sie allenfalls vorhandene Zweifel über Inhalt und Bedeutung des Vorbringens des Asylwerbers durch entsprechende Erhebungen, insbesonders ergänzende Befragung beseitigt (vgl. das hg. Erkenntnis vom , Zl. 91/01/0216).
Da die belangte Behörde somit ihren Bescheid mit Verfahrensfehlern und Begründungsmängeln belastete, bei deren Vermeidung sie zu einem anderen Bescheid hätte kommen können, war der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.
Von der beantragten Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z. 3 VwGG abgesehen werden.
Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Pauschalierungsverordnung BGBl. Nr. 416/1994, insbesondere deren Art. III.