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VfGH vom 28.09.2000, WI-7/97

VfGH vom 28.09.2000, WI-7/97

Sammlungsnummer

15942

Leitsatz

Aufhebung des Verfahrens zur Volksbefragung betreffend die Verlängerung einer Straßenbahnlinie in Graz nach Feststellung der Gesetzwidrigkeit der Verordnung über die Anordnung der Volksbefragung durch den Verfassungsgerichtshof

Spruch

I. Der Anfechtung wird stattgegeben.

Das Verfahren zur Volksbefragung betreffend die Verlängerung der Straßenbahnlinie 6 im VIII. Bezirk, Graz, St. Peter, vom wird beginnend mit der Entscheidung des Gemeinderates vom aufgehoben.

II. Kosten werden nicht zugesprochen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

1. Die im vorliegenden Fall vor allem maßgeblichen §§155 bis 159 im XI. Abschn. des Steiermärkischen VolksrechteG, LGBl. 1986/87 idF 1995/75 - Stmk. VRG lauten wie folgt:

"XI. Abschnitt

Volksbefragung

§155

Volksbefragung

(1) Volksbefragungen dienen der Erforschung des Willens der Gemeindebürger hinsichtlich künftiger, die Gemeinde betreffende politische Entscheidungen und Planungen sowie Fragen der Vollziehung aus dem eigenen Wirkungsbereich der Gemeinde.

(2) Volksbefragungen können für die gesamte Gemeinde oder für Teile der Gemeinde (Ortschaften, Stadtbezirke) durchgeführt werden.

(3) Volksbefragungen über konkrete Personalfragen, Wahlen und Entscheidungen, die bestimmte Personen betreffen, sind ausgeschlossen.

(4) Eine Volksbefragung ist durchzuführen, wenn sie

a) von mindestens 10 v.H. oder 10.000 der für die Wahl zum Gemeinderat Stimmberechtigten,

b) für einen Teil der Gemeinde von mindestens 10 v.H., jedoch nicht weniger als 30 der für die Wahl zum Gemeinderat Stimmberechtigten, die im betroffenen Teil der Gemeinde ihren Hauptwohnsitz haben,

c) vom Gemeinderat

verlangt wird.

§156

Antrag von Gemeindebürgern

(1) Der Antrag auf Durchführung einer Volksbefragung hat den Gegenstand der Volksbefragung zu bezeichnen und eine Begründung zu enthalten.

(2) Der Gegenstand der Volksbefragung ist als Frage möglichst kurz und eindeutig zu formulieren. Eine Gliederung der Frage in mehrere Unterfragen ist zulässig. Die Fragen müssen mit ja oder nein oder durch Zustimmung zu einer von mehreren Entscheidungsmöglichkeiten beantwortet werden können.

(3) Der Antrag ist an den Gemeinderat zu richten.

(4) Der Antrag auf Durchführung einer Volksbefragung muß von mindestens 10 v.H. oder 10.000 der für die Wahl zum Gemeinderat Stimmberechtigten unterzeichnet sein.

(5) Der Antrag auf Durchführung einer Volksbefragung für einen Teil der Gemeinde hat den Teil der Gemeinde zu bezeichnen. Er muß von mindestens 10 v.H., jedoch nicht weniger als 30 der für die Wahl zum Gemeinderat Stimmberechtigten, die im betroffenen Teil der Gemeinde ihren Hauptwohnsitz haben, unterzeichnet sein.

(6) Im Antrag sind ein Stimmberechtigter als Zustellungsbevollmächtigter, der die Unterzeichner des Antrages vertritt, und ein weiterer als sein Stellvertreter namhaft zu machen.

§157

Antragslisten

(1) Die Antragsteller haben in die Antragslisten ihre eigenhändige Unterschrift und ihren Vor- und Familiennamen, ihr Geburtsdatum und die Adresse ihres Hauptwohnsitzes in leserlicher Schrift einzutragen.

(2) Jeder Antragsteller darf sich nur einmal in die Antragslisten eintragen. Mehrfacheintragungen gelten als eine Eintragung.

(3) Die Antragslisten haben vor der ersten Eintragung

a) den als Frage formulierten Gegenstand der Volksbefragung,

b) die Erklärung, daß über den Gegenstand die Durchführung einer Volksbefragung verlangt wird,

c) eine Begründung

zu enthalten. Auf den weiteren angeschlossenen Blättern genügt der Hinweis auf den Gegenstand der Volksbefragung. Die Antragslisten sind fortlaufend zu numerieren.

(4) Auf Verlangen hat die Gemeinde geeignete Formulare für Antragslisten kostenlos zur Verfügung zu stellen.

§158

Entscheidung über den Antrag

(1) Der Gemeinderat hat mit Bescheid innerhalb von vier Wochen zu entscheiden, ob der Antrag den Voraussetzungen der §§155 Abs 1 und 3, 156 und 157 entspricht.

(2) Die Entscheidung des Gemeinderates ist dem Zustellungsbevollmächtigten nachweislich zuzustellen. Überdies ist die Entscheidung durch Anschlag an der Amtstafel der Gemeinde zu verlautbaren.

(3) Einleitungsanträge, denen aus formalen Gründen nicht genügend Unterstützungserklärungen zugrundeliegen, können durch weitere Unterstützungen ergänzt und vom Zustellungsbevollmächtigten innerhalb von sechs Wochen nochmals eingebracht werden.

§159

Verordnung über die Durchführung der Volksbefragung

(1) Hat der Gemeinderat gemäß § 158 entschieden, daß eine Volksbefragung durchzuführen ist, oder hat er die Durchführung einer Volksbefragung verlangt, hat der Gemeinderat mit Verordnung unverzüglich eine Volksbefragung anzuordnen.

(2) Die Verordnung hat

a) den als Frage formulierten Gegenstand der Volksbefragung,

b) das Befragungsgebiet,

c) den Tag der Volksbefragung,

d) den Stichtag, der jedoch nicht vor dem Tag der Anordnung der Volksbefragung liegen darf,

zu enthalten.

(3) Die Verordnung ist durch Anschlag an der Amtstafel der Gemeinde zu verlautbaren sowie ortsüblich bekanntzumachen."

2.1.1. Mit einem beim Bürgermeister der Stadt Graz am eingelangten Antrag begehrte eine bestimmte Anzahl von in Graz - St. Peter wahlberechtigten Gemeindebürgern die Durchführung einer Volksbefragung über die folgende Frage:

"Treten Sie dafür ein, daß die von der Stadt Graz geplante Verlängerung der Linie 6, die in dieser Form nicht zur Lösung der bestehenden Verkehrsprobleme beiträgt, nicht zur Ausführung gelangt?"

2.1.2. Mit Entscheidung des Gemeinderates vom wurde diesem Antrag mit der Begründung stattgegeben, dieser entspreche den Bestimmungen der §§155 Abs 1 und 3, 156 und 157 Stmk.

VRG.

2.1.3. Sodann wurde gemäß § 159 Stmk. VRG mit Verordnung des Gemeinderates der Landeshauptstadt Graz vom für den eine Volksbefragung betreffend die Verlängerung der Straßenbahnlinie 6 im VIII. Bezirk, Graz, St. Peter, angeordnet.

2.1.4. Schließlich fand die angeordnete Volksbefragung am statt. Ihr Ergebnis (etwa 55 % der abgegebenen gültigen Stimmen lauteten auf "Ja") wurde iSd. § 173 Stmk. VRG durch Anschlag an der Amtstafel am verlautbart und im Amtsblatt der Landeshauptstadt Graz Nr. 4 vom kundgemacht.

2.2.1. Innerhalb der gemäß § 174 Abs 1 Stmk. VRG festgelegten Frist von vier Wochen erhoben 26 Personen - darunter die Einschreiter in diesem verfassungsgerichtlichen Verfahren - gegen das Ergebnis Einspruch.

2.2.2. Der Gemeinderat behandelte diesen Einspruch und erließ mit Datum vom , berichtigt mit Datum vom , einen Bescheid, mit dem dem Einspruch keine Folge gegeben und das am verlautbarte Ergebnis der Volksbefragung bestätigt wurde.

2.2.3. Gegen diesen Bescheid erhoben 20 der 26 Einspruchswerber eine auf Art 144 B-VG gestützte Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, in der die Verletzung näher bezeichneter verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte sowie die Verletzung in Rechten wegen Anwendung als verfassungswidrig erachteter Gesetzesbestimmungen behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Bescheides beantragt wird. In der Sache wird insbesondere vorgebracht, dass die Fragestellung (bei der Volksbefragung) dem Bestimmtheitsgebot iSd. § 156 Abs 2 Stmk. VRG nicht entsprochen habe.

3.1.1. Der Verfassungsgerichtshof leitete in der Folge mit Beschluss vom , WI-7/97, gemäß Art 139 Abs 1 B-VG von Amts wegen ein Verfahren zur Prüfung der Gesetzmäßigkeit der Verordnung des Gemeinderates der Landeshauptstadt Graz vom , mit der die Durchführung der Volksbefragung angeordnet worden war, ein (protokolliert zu V103/99).

3.1.2.1. In seinem in diesem Verordnungsprüfungsverfahren ergangenen Erkenntnis vom stellte der Verfassungsgerichtshof zunächst fest, dass die Eingabe, die Anlass zu diesem Verfahren gab, als Anfechtung des Ergebnisses einer Volksbefragung im Sinne des Art 141 Abs 3 B-VG zu werten sei und sämtliche Prozessvoraussetzungen (für ein Verfahren nach Art 141 B-VG) erfülle. Im genannten Erkenntnis sprach der Verfassungsgerichtshof aus, dass die in Prüfung genommene Verordnung des Gemeinderates der Landeshauptstadt Graz gesetzwidrig war.

3.1.2.2. Begründend führte der Verfassungsgerichtshof in diesem Erkenntnis u.a. aus:

"Gerade Einrichtungen der direkten Demokratie erfordern es, daß das Substrat dessen, was den Wahlberechtigten zur Entscheidung vorgelegt wird (sei es nun ein Gesetzesantrag, ein Gesetzesbeschluß oder eine Frage), klar und eindeutig ist, damit Manipulationen hintangehalten und Mißverständnisse soweit wie möglich ausgeschlossen werden können. Diese auch hinter der Bestimmung des § 156 Abs 2 Stmk. VRG stehende ratio verkennt der Gemeinderat, wenn er der Auffassung anhängt, an die Klarheit der einer Volksbefragung zu unterziehenden Frage dürften keine strengen Maßstäbe angelegt werden. Vielmehr ist bei Volksbefragungen die Klarheit der Fragestellung essentiell, und zwar unabhängig davon, wie intensiv eine Frage vor einer Volksbefragung diskutiert wurde.

...

Zu der im Prüfungsbeschluß vom Verfassungsgerichtshof vorläufig geäußerten Auffassung, daß der in die Frage eingebaute Relativsatz 'die in dieser Form nicht zur Lösung der bestehenden Verkehrsprobleme beiträgt' geeignet sein dürfte, die Frage zu einer unzulässigen Suggestivfrage zu machen, weist der Gemeinderat darauf hin, daß Fragestellungen nicht wertneutral sein müßten, was sich insbesondere daran zeige, daß diesfalls 'komparative ... Fragestellungen' ausschieden und es nicht zulässig sei, zu fragen, ob die Befragten 'für mehr', 'für weniger', 'für bessere' seien.

Dem ist zu erwidern, daß nur im Zusammenhang mit einer konkreten Problemstellung und einer dazu formulierten Frage beurteilt werden kann, ob die Fragestellung den gesetzlichen Anforderungen entspricht und geeignet ist, der Erforschung des Willens der Gemeindebürger zu dienen (§155 Abs 1 Stmk. VRG). Dieses verfassungsgerichtliche Verfahren ist indes nicht der Ort, allgemeine Erwägungen darüber anzustellen, welche Arten von Fragestellungen in welchen Konstellationen zulässig sein könnten; es ist ausschließlich zu beurteilen, ob die konkret gewählte Fragestellung den gesetzlichen Anforderungen entspricht. Dies ist zu verneinen. Denn nach § 155 Abs 1 Stmk. VRG haben Volksbefragungen 'der Erforschung des Willens der Gemeindebürger' zu dienen und es besteht kein Zweifel daran, daß jede Verfälschung und Manipulation diesem Ziel entgegensteht; Fragestellungen, mit denen versucht wird, die Antwort in eine bestimmte Richtung zu lenken, widersprechen daher der Anordnung des § 155 Abs 1 leg.cit., und auch die Erfüllung der in dieser Bestimmung festgelegten Voraussetzung ist durch den Gemeinderat im Verfahren nach § 158 Abs 1 leg.cit. zu prüfen. Fragestellungen wie die konkret gewählte entsprechen diesen Anforderungen jedenfalls nicht.

Insgesamt erweist sich somit die in Prüfung gezogene Verordnung aus dem Grund der Gesetzwidrigkeit der mit ihr angeordneten Fragestellung als gesetzwidrig."

3.2.1. Der vorliegenden - zulässigen (s. Abschn. II. des Erk. ) - Anfechtung des Ergebnisses der Volksbefragung (iSd. Art 141 Abs 3 B-VG) vom ist Folge zu geben.

Im Hinblick auf das Erkenntnis , mit dem die Verordnung des Gemeinderates der Landeshauptstadt über die Anordnung der hier angefochtenen Volksbefragung als gesetzwidrig erkannt wurde, ist die Rechtswidrigkeit (des Verfahrens zu) dieser Volksbefragung offenkundig. Diese Rechtswidrigkeit belastet das Verfahren zur Volksbefragung aber nicht erst von der Erlassung der genannten Verordnung an, sondern bereits ab der vom Gemeinderat gemäß § 158 Stmk. VRG getroffenen Entscheidung, der an ihn gerichtete Antrag auf Durchführung der begehrten Volksbefragung entspreche insbesondere den Anforderungen des § 155 Abs 2 leg.cit. Diese im Verfahren zur Volksbefragung schon - vor der Erlassung der mit , als rechtswidrig erkannten Verordnung - getroffene Entscheidung erweist sich nämlich aus den selben Gründen (Widerspruch der beantragten Fragestellung zu §§155 Abs 1 und 156 Abs 2 Stmk. VRG;

s. Pkt. 3.1.2.2.) als rechtswidrig, die zur Feststellung der Gesetzwidrigkeit der genannten Verordnung führten. Somit war die angefochtene Volksbefragung schon beginnend mit dieser Entscheidung des Gemeinderates über den Einleitungsantrag (nach § 158 Abs 1 Stmk. VRG) als gesetzwidrig aufzuheben.

3.2.2. Aus all dem folgt, dass das Verfahren zur Volksbefragung betreffend die Verlängerung der Straßenbahnlinie 6 im VIII. Bezirk, Graz, St. Peter, vom in jenes Stadium zurücktritt, in dem es sich nach dem Stmk. VRG vor der Erlassung der in § 158 leg.cit. vorgesehenen Entscheidung über den (Einleitungs)Antrag (s. Pkt. 2.1.2.) befunden hatte. Das bedeutet, dass der Gemeinderat (neuerlich) mit einem innerhalb von vier Wochen ab der Zustellung dieses Erkenntnisses des Verfassungsgerichtshofes zu erlassenden Bescheid darüber zu entscheiden haben wird, ob der beim Bürgermeister am eingelangte Antrag, mit dem die Durchführung einer Volksbefragung über die eingangs genannte Frage begehrt wurde, den Voraussetzungen der §§155 Abs 1 und 3, 156 und 157 Stmk. VRG entspricht. Hiebei ist der Gemeinderat an die Rechtsauffassung über die Rechtswidrigkeit der beantragten Fragestellung, von der der Verfassungsgerichtshof (auch) bei der Fällung dieses Erkenntnisses ausging, gebunden.

4. Kosten konnten nicht zugesprochen werden, weil ein Kostenersatz im Verfahren nach Art 141 B-VG nur in § 71a Abs 5 VerfGG 1953 (vgl. dazu auch § 27 VerfGG 1953) vorgesehen ist, welche Bestimmung im vorliegenden Fall nicht in Betracht kommt (vgl. VfSlg. 9086/1981, 11.168/1986).

5. Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 erster Satz VerfGG 1953 ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.