VfGH vom 27.06.2017, V27/2016 (V27/2016-17)

VfGH vom 27.06.2017, V27/2016 (V27/2016-17)

Leitsatz

Aufhebung der angefochtenen Satzungsbestimmung im Anlassfall

Spruch

I.§43 der Satzung 2011 der Tiroler Gebietskrankenkasse, kundgemacht am im Rechtsinformationssystem des Bundeskanzleramtes zu AVSV-Nr 178/2011 (Stammfassung), wird als gesetzwidrig aufgehoben.

II.Die Bundesministerin für Gesundheit und Frauen ist zur unverzüglichen Kundmachung dieses Ausspruches im Bundesgesetzblatt II verpflichtet.

Begründung

Entscheidungsgründe

I.Antrag

Mit dem vorliegenden, auf Art 139 Abs 1 Z 1 B-VG gestützten Antrag begehrt das Landesgericht Innsbruck, § 43 der Satzung 2011 der Tiroler Gebietskrankenkasse, kundgemacht am im Rechtsinformationssystem des Bundeskanzleramtes zu AVSV 178/2011 (Stammfassung), als gesetzwidrig aufzuheben.

Mit dieser Verordnungsbestimmung wird unter Hinweis auf § 135 des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes (im Folgenden: ASVG) normiert, dass die Tiroler Gebietskrankenkasse keine Reise(Fahrt)kosten ersetzt.

II.Rechtslage

Die §§43 und 44 Abs 1 der Satzung der Tiroler Gebietskrankenkasse (Neufassung 2011), AVSV 178/2011, lauten wie folgt (die angefochtene Wortfolge ist hervorgehoben):

"Reise(Fahrt)kosten

(§135 ASVG)

§43. Die Kasse ersetzt keine Reise(Fahrt)kosten.

Transportkosten

(§135 Abs 5 ASVG,§ 144 Abs 5 ASVG,§ 153 Abs 5 ASVG,

§154 Abs 4 ASVG,§ 154a Abs 2 ASVG)

§44. (1) Die Kasse übernimmt Transportkosten, wenn ärztlich bescheinigt wird, dass der/die gehunfähig erkrankte Versicherte oder Angehörige aufgrund seines/ihres körperlichen oder geistigen Zustandes kein öffentliches Verkehrsmittel (auch nicht mit einer Begleitperson) benutzen kann."

III.Antragsvorbringen und Vorverfahren

1.Das Landesgericht hegt das Bedenken, dass § 43 der Satzung 2011 der Tiroler Gebietskrankenkasse entgegen den gesetzlichen Determinanten des § 135 Abs 4 ASVG einen Kostenersatz pauschal ausschließt. Der Sozialversicherungsträger sei zur näheren Ausgestaltung und Konkretisierung der Voraussetzungen für die Gewährung von Reise(Fahrt)Kosten ermächtigt, jedoch nicht zur gänzlichen pauschalen Versagung dieser Leistung.

2.Aus Anlass dieses Verordnungsprüfungsantrages leitete der Verfassungsgerichtshof mit Beschluss vom von Amts wegen ein Verfahren zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des die gesetzliche Grundlage der angefochtenen Verordnung bildenden § 135 Abs 4 und 5 ASVG, BGBl 189/1955, in der Fassung des ArtI Z 108 und Z 109 des Sozialrechts-Änderungsgesetzes 1996 (SRÄG 1996), BGBl 411/1996, ein.

3.Mit Erkenntnis vom , G386/2016, hob der Verfassungsgerichtshof die Wortfolge "nach Maßgabe der Bestimmungen der Satzung" in § 135 Abs 4 ASVG, BGBl 189/1955, in der in Prüfung gezogenen Fassung als verfassungswidrig auf.

IV.Erwägungen

1.Zur Zulässigkeit des Antrages

Das Verordnungsprüfungsverfahren ist zulässig (vgl. Punkt III.1. des Erkenntnisses vom , G386/2016).

2.In der Sache

2.1.Gemäß Art 140 Abs 7 B-VG wirkt die Aufhebung eines Gesetzes auf den Anlassfall zurück. Es ist daher hinsichtlich des Anlassfalles so vorzugehen, als ob die als verfassungswidrig erkannte Norm bereits zum Zeitpunkt der Verwirklichung des einem Bescheid zugrunde gelegten Tatbestandes nicht mehr der Rechtsordnung angehört hätte. Gleiches gilt für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Verordnung, die auf eine aufgehobene Gesetzesstelle gegründet war.

2.2.Aus den Erwägungen, die zu G386/2016 vom Verfassungsgerichtshof angestellt wurden, ergibt sich, dass die vom antragstellenden Gericht gegen die angefochtene Verordnungsbestimmung vorgetragenen Bedenken im Ergebnis zutreffen.

2.2.1.Die angefochtene Verordnungsbestimmung hatte ihre gesetzliche Grundlage in der als verfassungswidrig erkannten und deswegen aufgehobenen Wortfolge in § 135 Abs 4 ASVG.

2.2.2.Ohne diese Wortfolge sieht der erste Satz des § 135 Abs 4 ASVG nunmehr vor, dass im Falle der Notwendigkeit der Inanspruchnahme ärztlicher Hilfe der Ersatz von Fahrtkosten gewährt werden kann, während der zweite Satz dieser Gesetzesstelle jene Kriterien enthält, auf welche bei der Festsetzung eines derartigen Kostenersatzes vom satzungsgebenden Organ, bis zur generellen Festlegung solcher Kriterien jedoch im jeweiligen Einzelfall vom Krankenversicherungsträger bzw. vom erkennenden Gericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen Bedacht zu nehmen ist.

2.2.3.Die angefochtene Satzungsbestimmung, die – entgegen dem um die aufgehobene Wortfolge bereinigten Gesetzeswortlaut – einen gänzlichen Ausschluss eines solchen Kostenersatzes vorsieht, ist daher nunmehr so zu beurteilen, als ob sie ohne gesetzliche Grundlage – also in Widerspruch zu Art 18 B-VG – erlassen worden wäre (vgl. VfSlg 11.057/1986, 14.132/1995, 15.976/2000, 16.042/2000, 17.024/2003).

2.3.Die als gesetzwidrig erkannte Bestimmung des § 43 der Satzung 2011 der Tiroler Gebietskrankenkasse steht ungeachtet ihrer zwischenzeitig erfolgten Novellierung mit einem auf die Vergangenheit beschränkten zeitlichen Anwendungsbereich weiterhin in Geltung. Daher ist im Sinne der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (siehe zB VfSlg 19.343/2011 mwN) mit Aufhebung nach Abs 3 des Art 139 B-VG und nicht mit einem Ausspruch nach Abs 4 dieser Verfassungsbestimmung vorzugehen.

V.Ergebnis

1.§43 der Satzung 2011 der Tiroler Gebietskrankenkasse ist daher als gesetzwidrig aufzuheben.

2.Die Verpflichtung der Bundesministerin für Gesundheit und Frauen zur unverzüglichen Kundmachung der Aufhebung erfließt aus Art 139 Abs 5 erster Satz B-VG und § 59 Abs 2 VfGG iVm § 4 Abs 1 Z 4 BGBlG.

3.Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

Zusatzinformationen


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ECLI:
ECLI:AT:VFGH:2017:V27.2016
Schlagworte:
VfGH / Anlassfall, VfGH / Aufhebung Wirkung

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