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VfGH vom 03.10.1988, V26/88

VfGH vom 03.10.1988, V26/88

Sammlungsnummer

11844

Leitsatz

ArbeitnehmerschutzV, BGBl. 2/1984; Festlegung einer generellen Mindestarbeitszeit für den Betriebsarzt mit Ermächtigung zur behördlichen Ausnahmeregelung im Einzelfall - Verkehrung des im ArbeitnehmerschutzG vorgegebenen Systems ins Gegenteil; Aufhebung der Abs 6 bis 9 des § 9 als gesetzwidrig

Spruch

Die Absätze 6 bis 9 des § 9 der V des Bundesministers für soziale Verwaltung vom über Einrichtungen in den Betrieben für die Durchführung des Arbeitnehmerschutzes, BGBl. Nr. 2/1984, werden als gesetzwidrig aufgehoben.

Die Aufhebung tritt mit Ablauf des in Kraft.

Der Bundesminister für Arbeit und Soziales ist zur unverzüglichen Kundmachung der Aufhebung im Bundesgesetzblatt verpflichtet.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Beim VfGH ist zu B857/86 ein Verfahren zur Prüfung eines Bescheides des Bundesministers für soziale Verwaltung vom anhängig, dem folgender Sachverhalt zugrunde liegt:

Die S AG Österreich beschäftigt (einschließlich der Bediensteten ihrer Tochtergesellschaft Wiener K- & M Ges.m.b.H.) am Standort S-straße ... über 4000 Arbeitnehmer. Für 60 dieser Arbeitnehmer sind auf Grund besonderer gesundheitlicher Gefährdungsmomente regelmäßige Untersuchungen iS der V des Bundesministers für soziale Verwaltung über die gesundheitliche Eignung von Arbeitnehmern für bestimmte Tätigkeiten, BGBl. 39/1974, erforderlich; weitere 280 lärmexponierte Arbeitnehmer werden regelmäßig entsprechenden Untersuchungen durch die Allgemeine Unfallversicherungsanstalt unterzogen.

Das Unternehmen beschäftigt einen hauptberuflich tätigen Betriebsarzt, der seine Aufgaben mit Unterstützung zweier ganztägig beschäftigter Diplom-Krankenschwestern besorgt. Gemäß § 9 Abs 7 der V des Bundesministers für soziale Verwaltung über Einrichtungen in den Betrieben für die Durchführung des Arbeitnehmerschutzes, BGBl. 2/1984, (im folgenden: ASchV) ergibt sich für den Betriebsarzt eine Einsatzzeit von 50 Stunden pro Woche.

Mit Schriftsatz vom stellte die bf. Aktiengesellschaft den Antrag, die Mindesteinsatzzeit gemäß § 9 Abs 9 der ASchV herabzusetzen. Mit Bescheid vom wies das zuständige Arbeitsinspektorat diesen Antrag ab; der Bundesminister für soziale Verwaltung gab der dagegen erhobenen Berufung mit Bescheid vom keine Folge.

In der dagegen erhobenen Beschwerde an den VfGH behauptete die bf. Gesellschaft die Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechts auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter sowie eine Rechtsverletzung wegen Anwendung einer gesetzwidrigen V.

2. Bei Behandlung der Beschwerde entstanden beim VfGH Bedenken ob der Gesetzmäßigkeit der Abs 6 bis 9 des § 9 ASchV, weshalb der Gerichtshof beschlossen hat, von Amts wegen ein Verordnungsprüfungsverfahren einzuleiten. Er nahm an, daß die Beschwerde zulässig ist und sich der angefochtene Bescheid explizit und der Sache nach auf die Abs 6 und 7 des § 9 ASchV über die Mindesteinsatzzeit bei betriebsärztlichen Betreuungen (mit denen § 9 Abs 8 ASchV in untrennbarem Zusammenhang stehen dürfte) sowie auf § 9 Abs 9 ASchV stützt, in dem das Arbeitsinspektorat ermächtigt wird, auf Antrag des Arbeitgebers bescheidmäßig eine geringere Einsatzzeit des Betriebsarztes festzulegen, wenn dies die Tätigkeit der Arbeitnehmer und die mit ihr verbundene Gefährdung zulassen. Seine Bedenken legte er im Prüfungsbeschluß wie folgt dar:

"a) § 22 des BG über den Schutz des Lebens, der Gesundheit und der Sittlichkeit der Arbeitnehmer (Arbeitnehmerschutzgesetz), BGBl. 234/1972 idF BGBl. 544/1982 (im folgenden: ASchG) normiert, daß in jedem Betrieb, in dem regelmäßig mehr als 250 Arbeitnehmer beschäftigt sind, vom Arbeitgeber eine dem Umfang des Betriebs, der Zahl der Beschäftigten sowie dem Ausmaß und Grad der Gefährdung der Gesundheit der Arbeitnehmer entsprechende betriebsärztliche Betreuung einzurichten ist. Gemäß § 22 Abs 1 dritter Satz ASchG kann die betriebsärztliche Betreuung durch einen betriebseigenen Arzt, durch Zusammenschluß mehrerer Betriebe hinsichtlich der Errichtung einer gemeinsamen betriebsärztlichen Betreuung, durch Inanspruchnahme eines arbeitsmedizinischen Zentrums oder einer sonstigen überbetrieblich organisierten arbeitsmedizinischen Versorgungseinrichtung erfolgen. In Betrieben, in denen regelmäßig mehr als 750 Arbeitnehmer beschäftigt sind, ist jedenfalls ein betriebseigener Arzt zu bestellen; in Betrieben mit mehr als 1000 Arbeitnehmern ist die betriebsärztliche Betreuung hauptberuflich auszuüben.

Gemäß § 22 Abs 2 ASchG hat das Arbeitsinspektorat bei Betrieben mit besonderer Gesundheitsgefährdung dem Arbeitgeber mit Bescheid eine entsprechende betriebsärztliche Betreuung schon bei einer geringeren Anzahl von Arbeitnehmern aufzutragen; umgekehrt kann das Arbeitsinspektorat bei geringerer Gefährdung von Arbeitnehmern die Anforderungen bescheidmäßig verringern.

§ 22a ASchG regelt die Aufgaben der betriebsärztlichen Betreuung. Abs 6 dieser Bestimmung normiert sodann:

'Stellt das Arbeitsinspektorat fest, daß die betriebsärztliche Betreuung unter Berücksichtigung der Eigenart des Betriebes, der Zahl der Arbeitnehmer, des Unfallrisikos sowie der besonderen Gesundheitsgefahren und unter Berücksichtigung des Zeitaufwandes für Vorsorgeuntersuchungen sowie der ambulanten Nachbehandlung nicht ausreichend erfolgen kann, so hat es die mindestens erforderliche Gesamteinsatzzeit (Stunden/Woche) für die betriebsärztliche Betreuung durch Bescheid vorzuschreiben.'

Nach § 22c Abs 1 ASchG können durch V nähere Vorschriften darüber erlassen werden, welchen Anforderungen Einrichtungen nach § 22 Abs 1 in bezug auf Ausstattung, Zahl der tätigen Ärzte im Hinblick auf die zu betreuenden Arbeitnehmer und arbeitsorganisatorische Erfordernisse zu entsprechen haben.

b) Das ASchG schreibt also vor, daß unter bestimmten Voraussetzungen Vorsorge für eine betriebsärztliche Betreuung zu treffen ist und daß unter weiteren Voraussetzungen diese durch einen eigenen Betriebsarzt und unter weiteren Voraussetzungen durch einen hauptberuflich tätigen Betriebsarzt zu besorgen ist. Weiters legt das Gesetz die Aufgaben der betriebsärztlichen Betreuung fest. Von der generellen Normierung einer Mindesteinsatzzeit des Betriebsarztes pro Dienstnehmer scheint es jedoch Abstand zu nehmen; jedoch ermöglicht es dem Arbeitsinspektorat, unter besonderen Voraussetzungen eine solche Mindesteinsatzzeit bescheidmäßig festzulegen.

Demgegenüber scheinen die in Prüfung gezogenen Bestimmungen der ASchV generell bestimmte Einsatzzeiten für einen Betriebsarzt vorzuschreiben und in Abs 9 das Arbeitsinspektorat zu ermächtigen, im Einzelfall davon abweichend eine geringere Einsatzzeit festzulegen. Die maßgeblichen Bestimmungen finden sich in § 9 der ASchV, der unter der Rubrik 'Einrichtung einer betriebsärztlichen Betreuung, Einsatzzeit' steht; sie lauten:

'(6) Bei einer Zahl der Beschäftigten von 251 bis 300 beträgt die Einsatzzeit des Arztes mindestens drei Stunden/Woche, bei einer Zahl der Beschäftigten von 301 bis 400 mindestens vier Stunden/Woche und bei einer Zahl der Beschäftigten von 401 bis 500 mindestens fünf Stunden/Woche.

(7) Die Berechnung der Mindesteinsatzzeit hat unter Berücksichtigung der Abs 5 und 6 in folgender Weise zu erfolgen:

Bei einer Zahl der Beschäftigten von 501 bis 999 beträgt die Einsatzzeit pro Arbeitnehmer im Jahr 45 Minuten. In Betrieben mit 1.000 Beschäftigten ist eine Einsatzzeit von 60 Minuten pro Arbeitnehmer im Jahr vorzusehen. Diese Einsatzzeit von 20 Stunden/Woche erhöht sich in Betrieben, in denen mehr als 1.000 Arbeitnehmer beschäftigt sind, pro Arbeitnehmer im Jahr wie folgt:

Zahl der Beschäftigten Minuten/Jahr

1.001-1.500 45

1.501-3.000 30

3.001-5.000 20

5.001 oder mehr 10

Der Ermittlung der Einsatzzeit in Stunden/Woche nach § 22b Abs 1 des Arbeitnehmerschutzgesetzes sind 50 Arbeitswochen/Jahr zugrunde zu legen.

(8) Ergibt die Berechnung der Einsatzzeiten Bruchteile von Stunden, dann ist bis 30 Minuten auf die volle Stunde abzurunden und über 30 Minuten auf die volle Stunde aufzurunden.

(9) Das Arbeitsinspektorat kann auf Antrag des Arbeitgebers durch Bescheid eine geringere Einsatzzeit festlegen, wenn dies die Tätigkeit und die mit ihr verbundene Gefährdung zulassen.'

c) Es scheint, daß mit dieser Regelung das vom Gesetz vorgegebene System verlassen und ins Gegenteil verkehrt wird. Während das Gesetz von einer generellen Regelung der Mindesteinsatzzeit Abstand nimmt und das Arbeitsinspektorat ermächtigt, im Einzelfall eine solche vorzuschreiben, scheint die

V eine generelle Mindesteinsatzzeit zu normieren und die Behörde zu ermächtigen, im Einzelfall eine davon abweichende Festlegung zu treffen.

Für eine derartige Regelung der V scheint aber eine gesetzliche Deckung nicht zu bestehen:

Es dürfte nämlich weder § 22a Abs 6 (der im Gegenteil von einem anderen System ausgehen dürfte) hiefür eine entsprechende gesetzliche Grundlage bieten, noch der von der bel. Beh. in der Gegenschrift in diesem Zusammenhang angeführte § 22c Abs 1 ASchG. Denn diese Bestimmung scheint zwar die Behörde zu ermächtigen, durch V nähere Bestimmungen über die Ausstattung betriebsärztlicher Einrichtungen und die Zahl der in ihnen tätigen Ärzte (insbesondere offenbar im Hinblick auf die Einrichtung gemeinsamer betriebsärztlicher Betreuungen für mehrere Unternehmungen oder überbetrieblich organisierte arbeitsmedizinische Versorgungseinrichtungen), nicht aber, Mindesteinsatzzeiten für betriebseigene Ärzte vorzuschreiben."

3. Der zur Vertretung der V berufene Bundesminister für Arbeit und Soziales (BMG 1986 idF BGBl. 78/1987) legte die Verordnungsakten vor, nahm von der Erstattung einer Äußerung Abstand und beantragte, der "VfGH möge für den Fall der Aufhebung der in Prüfung gezogenen Bestimmungen der V gemäß Art 139 Abs 5 B-VG eine Frist von einem Jahr für das Außerkrafttreten bestimmen, um dem Gesetzgeber die Schaffung einer gesetzlichen Grundlage zur Vermeidung eines besonderen Verwaltungsaufwandes zu ermöglichen."

II. 1. Im Verfahren ist weder vorgebracht worden noch hervorgekommen, daß die Annahmen des VfGH über die Prozeßvoraussetzungen verfehlt oder die gegen die Gesetzmäßigkeit der geprüften Regelung sprechenden Bedenken, die im oben unter Pkt. I./2. wiedergegebenen Prüfungsbeschluß im einzelnen dargelegt wurden, unzutreffend wären. Die Abs 6 bis 9 des § 9 ASchV waren daher aufzuheben.

2.a) Die Bestimmung einer Frist für das Außerkrafttreten der aufgehobenen Verordnungsstelle gründet sich auf Art 139 Abs 5 letzter Satz B-VG. Eine Möglichkeit, für das Außerkrafttreten eine sechs Monate übersteigende Frist zu bestimmen, sah der VfGH angesichts der - oben näher dargelegten - in sich geschlossenen Regelung des ASchG nicht. Diese gesetzliche Regelung ist - wie auch der Bundesminister für Arbeit und Soziales nicht bestreitet - einer Vollziehung zugänglich. Eine Änderung der gesetzlichen Grundlagen mag aus der Sicht des Bundesministers wünschenswert sein, erforderlich im Sinne des Art 139 Abs 5 letzter Satz B-VG ist sie jedenfalls nicht.

b) Die Verpflichtung des Bundesministers zur unverzüglichen Kundmachung der Aufhebung erfließt aus Art 139 Abs 5 erster Satz B-VG.

3. Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 erster Satz VerfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen werden.