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VfGH vom 14.06.1988, V14/87

VfGH vom 14.06.1988, V14/87

Sammlungsnummer

11729

Leitsatz

Generelle Normen über die Zuständigkeit, Einrichtung und Organisation der belangten Behörde zählen (mit) zu den Rechtsgrundlagen des angefochtenen Verwaltungsaktes - Präjudizialität gegeben

Paritätische Schiedskommission entscheidet - in Auslegung des privatrechtlichen Vertrages - über strittige, dem Kernbereich der civil rights zuzuzählenden Ansprüche und Verpflichtungen aus dem Einzelvertrag zwischen Arzt und Träger der Krankenversicherung - kein Tribunal iS des Art 6 MRK;

Verordnung des Bundesministeriums für soziale Verwaltung, BGBl. 105/1956; die auf § 344 ASVG gestützten §§2 und 3 widersprechen - nach Aufhebung ihrer gesetzlichen Grundlage - Art 18 B-VG

Spruch

I. § 344 ASVG, BGBl. Nr. 189/1955, wird als verfassungswidrig aufgehoben.

Frühere gesetzliche Bestimmungen treten nicht wieder in Wirksamkeit.

Der Bundeskanzler ist zur unverzüglichen Kundmachung dieser Aussprüche im Bundesgesetzblatt verpflichtet.

II. Die §§2 und 3 der V des Bundesministers für soziale Verwaltung vom , BGBl. Nr. 105/1956, werden als gesetzwidrig aufgehoben.

Der Bundesminister für Arbeit und Soziales ist zur unverzüglichen Kundmachung dieses Ausspruches im Bundesgesetzblatt verpflichtet.

Begründung

Entscheidungsgründe:

1.1.1. In der Rechtssache der antragstellenden Partei Dr.med. H B wider die Vorarlberger Gebietskrankenkasse wegen offener Honorarforderungen wies die paritätische

Schiedskommission für Vorarlberg das Begehren der Antragstellerin des Inhalts, einen bereits ergangenen, abweislichen Beschluß des Schlichtungsausschusses vom aufzuheben und die Auszahlung der strittigen Honorarbeträge anzuordnen, mit Beschluß vom , Z PSCHk 1/86, als unbegründet ab.

1.1.2.1. Gegen diesen Bescheid der paritätischen Schiedskommission für Vorarlberg richtete sich eine auf Art 144 Abs 1 B-VG gestützte Beschwerde der Dr. H B an den VfGH, in der die Verletzung verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte, ferner die Verletzung in Rechten wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes (§§344, 345 ASVG) und einer gesetzwidrigen V (BGBl. 105/1956) behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Verwaltungsaktes (in eventu die Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof) begehrt wurde.

1.1.2.2. Die paritätische Schiedskommission für Vorarlberg als bel. Beh. legte die Administrativakten vor und erstattete eine Gegenschrift, in der sie für die Abweisung der Beschwerde eintrat.

1.2.1. Aus Anlaß dieser Beschwerde leitete der , von Amts wegen ein Verfahren zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des § 344 ASVG, BGBl. 189/1955, und der Gesetzmäßigkeit der §§2 und 3 der V des Bundesministers für soziale Verwaltung vom , BGBl. 105/1956, ein (protokolliert zu G48/87 und V14/87).

1.2.2. In den Gründen des Prüfungsbeschlusses heißt es ua. wörtlich:

" . . . (bei der paritätischen Schiedskommission)

handelt es sich . . . um eine, aus anscheinend nicht mit den

Garantien der Unabhängigkeit ausgestatteten Mitgliedern zusammengesetzte und grundsätzlich in oberster Instanz einschreitende Kollegialbehörde, deren Bescheide nicht der Aufhebung oder Abänderung im Verwaltungsweg unterliegen, aber mit Beschwerde sowohl vor dem VwGH (Art131 B-VG) als auch vor dem VfGH (Art144 B-VG) bekämpft werden können.

Es scheint, daß diese Kollegialbehörde (auch) über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen ('civil rights and obligations') in der Bedeutung des Art 6 Abs 1 EMRK zu entscheiden hat, demnach gesteigerten verfassungsrechtlichen Anforderungen genügen und als 'unabhängiges und unparteiisches, auf Gesetz beruhendes Gericht' konstituiert sein muß; sie befindet nämlich kraft § 344 ASVG ua. in Streitigkeiten aus sog. 'Einzelverträgen', ds. privatrechtliche Übereinkommen, welche die Beziehungen der Sozialversicherungsträger (ua.) zu freiberuflich tätigen Ärzten regeln (§338 Abs 1 ASVG; s. auch G 232,233,235 bis 237/85 ua.).

Wie der VfGH bereits wiederholt aus- sprach (vgl. VfSlg. 5100/1965, 5102/1965, 7099/1973; s. auch VfSlg. 5666/1968), werden unter 'zivilen Rechten' iS der zitierten Verfassungsstelle nicht bloß Ansprüche und Verpflichtungen verstanden, die als 'bürgerliche Rechtssachen' (vor ordentlichen Gerichten) geltend zu machen sind und unter den Kompetenztatbestand 'Zivilrechtswesen' (Art10 Abs 1 Z 6 B-VG) fallen. Vielmehr erfaßt Art 6 Abs 1 EMRK - darüber hinaus jedes Verfahren, dessen Ausgang für Rechte und Verpflichtungen privatrechtlicher Natur entscheidend ist (s. auch VfSlg. 8856/1980, 9887/1983; G 232,233,235 bis 237/85 ua.).

Dies scheint hier zuzutreffen.

Mitglieder eines 'Tribunals' iS der EMRK müssen nach der ständigen Rechtsprechung des VfGH von der Regierungsgewalt unabhängig und zumindest für einen gewissen Zeitraum unabsetzbar sein (vgl. VfSlg. 7099/1973, 7284/1974, 8501/1979, 8523/1979). Fehlt es an dieser Unabhängigkeit (iS von Weisungsfreiheit) und an einer (gesetzlichen) Regelung der Funktionsdauer, besteht also die grundsätzliche Möglichkeit jederzeitiger Abberufung, weil die Bestimmungen über die Bestellung allein die Ermächtigung zur Enthebung des Bestellten - und sei es auch während eines laufenden Verfahrens - notwendig miteinschließen (VfSlg. 7099/1973, 8317/1978), so ergibt sich das Bedenken, daß die - den Umständen nach eine untrennbare Einheit bildende - Norm des § 344 ASVG der (auf Verfassungsstufe stehenden) Vorschrift des Art 6 EMRK widerspricht.

Der VfGH verlieh allerdings in seiner bisherigen, mit VfSlg. 5100/1965 begonnenen Rechtsprechung (etwa VfSlg. 9887/1983 und die dort zitierte weitere Judikatur) der Meinung Ausdruck, daß den Anforderungen des Art 6 Abs 1 EMRK Genüge getan sei, wenn eine mit administrativen Rechtsmitteln nicht mehr anfechtbare behördliche Entscheidung vor beiden Gerichtshöfen des öffentlichen Rechts in Beschwerde gezogen werden könne. Damit scheint jedoch - im Licht der neueren Rechtsprechung der Straßburger Instanzen - den unabdingbaren Erfordernissen des Art 6 Abs 1 EMRK nicht in vollem Umfang entsprochen zu sein (zB EGMR, Fall Le Compte I, EuGRZ 1981, 551; EGMR, Fall Sramek, EuGRZ 1985, 336; EKMR, Fall Ettl, EuGRZ 1985, 364; vgl. hiezu etwa auch Holzinger, Die erste Grundrechts-Enquete, EuGRZ 1986, 269, insbes. 273; vgl. ): Dem VfGH obliegt - im gegebenen Zusammenhang - die Prüfung, ob verfassungsgesetzlich (also nicht bloß einfachgesetzlich) gewährleistete Rechte oder Rechte wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm verletzt wurden. Der VwGH wieder ist zwar zur Sicherung der Gesetzmäßigkeit der gesamten öffentlichen Verwaltung berufen (Art129 B-VG), aber zu einer umfassenden Nachprüfung der behördlichen Tatsachenfeststellungen und zu einer uneingeschränkten selbständigen Aufnahme und Würdigung der Beweise nicht befugt: Demgegenüber dürfte Art 6 Abs 1 EMRK in Streitigkeiten über 'civil rights' derartige Befugnisse eines Tribunals zwingend voraussetzen und garantieren (vgl. EGMR, Fall Le Compte I, EuGRZ 1981, 551, insbes. 553; Kopetzki, in Ermacora/Nowak/Tretter, Die Europäische Menschenrechtskonvention, 257 ff, und die dort zitierte sonstige Literatur).

Die §§2 und 3 der V des Bundesministers für soziale Verwaltung vom über die Geschäftsordnungen der in den §§344 bis 346 ASVG vorgesehenen Schiedskommissionen, BGBl. 105/1956, - einer V iS des Art 139 Abs 1 B-VG - finden ihre ausschließliche materielle Basis in der Bestimmung des § 344 ASVG, gegen die der VfGH die . . . dargelegten verfassungsrechtlichen Bedenken hegt. Sollten diese Bedenken zutreffen und zur Aufhebung der in Rede stehenden Gesetzesstelle führen, wären die angegebenen Teile dieser V (§§2 und 3) so zu beurteilen, als ob sie ohne gesetzliche Grundlage erlassen worden seien (vgl. VfSlg. 4172/1962, 6945/1972). Sie würden also Art 18 B-VG widersprechen."

1.3.1. Die im Gesetzesprüfungsverfahren zur schriftlichen Äußerung aufgeforderte Bundesregierung verteidigte die Verfassungsmäßigkeit des § 344 ASVG, verwies auf eine Stellungnahme, die sie im - in der Zwischenzeit mit Erk. VfSlg. 11506/1987 abgeschlossenen - Gesetzesprüfungsverfahren (: Aufhebung des § 21 Abs 3 Satz 2 und Abs 4 Apothekerkammergesetz wegen Verfassungswidrigkeit) zur Frage der "nachprüfenden Kontrolle durch die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts" abgegeben hatte, und hielt ihre damals vertretene Auffassung vollinhaltlich aufrecht.

1.3.2. Der gemäß § 58 Abs 2 VerfGG 1953 zur Erstattung einer Äußerung aufgeforderte Bundesminister für Arbeit und Soziales gab keine Stellungnahme ab.

1.4.1. Der mit "Regelung durch Verträge" überschriebene § 338 Abs 1 ASVG, BGBl. 189/1955 idF BGBl. 23/1974, lautet:

"(1) Die Beziehungen der Träger der Sozialversicherung (des Hauptverbandes) zu den freiberuflich tätigen Ärzten, Dentisten, Hebammen, Apothekern und anderen Vertragspartnern werden durch privatrechtliche Verträge nach Maßgabe der folgenden Bestimmungen geregelt. Diese Verträge bedürfen zu ihrer Rechtsgültigkeit der schriftlichen Form."

1.4.2. § 341 ASVG, BGBl. 189/1955 idF BGBl. 544/1982, legt fest:

"(1) Die Beziehungen zwischen den Trägern der Krankenversicherung und den freiberuflich tätigen Ärzten werden durch Gesamtverträge geregelt, die für die Träger der Krankenversicherung durch den Hauptverband mit den örtlich zuständigen Ärztekammern abzuschließen sind. Die Gesamtverträge bedürfen der Zustimmung des Trägers der Krankenversicherung, für den der Gesamtvertrag abgeschlossen wird. Die Österreichische Ärztekammer kann mit Zustimmung der beteiligten Ärztekammer den Gesamtvertrag mit Wirkung für diese abschließen.

(2) (Aufgehoben).

(3) Der Inhalt des Gesamtvertrages ist auch Inhalt des zwischen dem Träger der Krankenversicherung und dem Arzt abzuschließenden Einzelvertrages. Vereinbarungen zwischen dem Träger der Krankenversicherung und dem Arzt im Einzelvertrag sind rechtsunwirksam, insoweit sie gegen den Inhalt eines für den Niederlassungsort des Arztes geltenden Gesamtvertrages verstoßen.

(4) Für Verträge zwischen den Trägern der Unfall- und Pensionsversicherung und den freiberuflich tätigen Ärzten zum Zwecke der Leistungserbringung (§338 Abs 2 erster Satz) gelten unbeschadet der Bestimmungen des § 343 b die Abs 1 und 3 entsprechend."

1.4.3. Der in Prüfung gezogene und mit "Entscheidung von Streitigkeiten aus dem Einzelvertrag" betitelte § 344 ASVG, BGBl. 189/1955, hat folgenden Wortlaut:

"Zur Schlichtung und Entscheidung von Streitigkeiten aus dem Einzelvertrag ist in jedem Land eine paritätische Schiedskommission zu errichten. Diese besteht aus der gleichen Zahl von Vertretern der zuständigen Ärztekammer und der am Verfahren beteiligten Träger der Krankenversicherung. Kommt bei Stimmengleichheit ein Beschluß in der Schiedskommission nicht zustande, dann geht die Zuständigkeit zur Entscheidung der anhängigen Streitsache auf Antrag der zuständigen Ärztekammer oder des am Verfahren beteiligten Trägers der Krankenversicherung auf die Landesschiedskommission über."

1.4.4. Die §§2 und 3 der "V des Bundesministeriums für soziale Verwaltung vom über die Geschäftsordnungen der in den §§344 bis 346 des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes, BGBl. Nr. 189/1955, vorgesehenen Schiedskommissionen", BGBl. 105/1956, lauten folgendermaßen:

§ 2:

"(1) Die paritätische Schiedskommission ist zuständig:

1. zur Schlichtung und Entscheidung von Streitigkeiten zwischen Vertragsarzt (Vertragsdentist) einerseits und Träger der Krankenversicherung anderseits aus dem Einzelvertrag, sofern es sich nicht um eine Entscheidung über die Zulässigkeit einer Kündigung gemäß § 343 Abs 4 beziehungsweise § 349 Abs 1 ASVG handelt;

2. zur Schlichtung und Entscheidung von Streitigkeiten zwischen Hebamme oder Apotheker einerseits und Träger der Krankenversicherung anderseits aus dem Vertragsverhältnis.

(2) Die örtliche Zuständigkeit wird durch den Berufssitz des Vertragsarztes (des Vertragsdentisten, der Hebamme, des Apothekers) bestimmt, der am Streitverfahren als Partei beteiligt ist."

§ 3:

"(1) Die paritätische Schiedskommission besteht aus vier Mitgliedern, und zwar aus zwei Vertretern des am Verfahren beteiligten Trägers der Krankenversicherung und aus zwei Vertretern der gesetzlichen Interessenvertretung, deren Angehöriger am Streit als Partei beteiligt ist.

(2) Der beteiligte Träger der Krankenversicherung und die beteiligte gesetzliche Interessenvertretung haben ihre Vertreter in der paritätischen Schiedskommission für den einzelnen Streitfall zu bestellen. Für jeden Vertreter ist gleichzeitig ein Stellvertreter zu bestellen. Die Vertreterbestellung ist der anderen zur Bestellung verpflichteten Stelle unverzüglich bekanntzugeben.

(3) Wird ein Vertreter (Stellvertreter) von einer zur Bestellung verpflichteten Stelle nicht innerhalb einer Woche nach der Aufforderung durch die Geschäftsstelle (§5) bestellt, so geht das Recht der Bestellung auf das Bundesministerium für soziale Verwaltung über."

2. Der VfGH hat erwogen:

2.1. Zu den Prozeßvoraussetzungen:

2.1.1. Entscheidungen der paritätischen

Schiedskommission können im administrativen Instanzenzug nicht angefochten werden:

Gemäß § 344 iVm § 345 Abs 1 ASVG wird nämlich die Landesschiedskommission zur Entscheidung über eine Streitigkeit aus dem Einzelvertrag nur dann zuständig, wenn es in der paritätischen Schiedskommission (wegen Stimmengleichheit) zu keiner Beschlußfassung kommt; liegt hingegen ein Beschluß (eine Entscheidung) der paritätischen Schiedskommission vor, so ist (den Parteien) ein weiterer administrativer Rechtszug nicht eingeräumt (vgl. zB: ).

Da auch die übrigen Prozeßvoraussetzungen zutreffen, ist die Beschwerde zulässig.

2.1.2. Die in Prüfung stehenden generellen Normen über die Zuständigkeit, Einrichtung und Organisation der paritätischen Schiedskommission zählen (mit) zu den Rechtsgrundlagen des angefochtenen Verwaltungsaktes (vgl. auch VfSlg. 9887/1983, S 507; 10800/1986); sie sind demnach auch vom VfGH bei Schöpfung des Erkenntnisses über die von der Bf. erhobene Beschwerde gemäß Art 144 Abs 1 B-VG anzuwenden und somit in dieser Beschwerdesache präjudiziell im Sinn des Art 140 Abs 1 Satz 1 B-VG und des Art 139 Abs 1 Satz 1 B-VG.

Damit ist auch die Zulässigkeit der beiden Normenkontrollverfahren zu bejahen.

2.2. Zur Sache selbst:

Die Bedenken des VfGH sowohl gegen § 344 ASVG als auch gegen die §§2 und 3 der V des Bundesministers für soziale Verwaltung vom , BGBl. 105/1956, sind begründet.

2.2.1. Zu § 344 ASVG:

2.2.1.1. Der VfGH hatte sich in seinem Erk. VfSlg. 11591/1987 zu § 120 Abs 2 des Niederösterreichischen

Jagdgesetzes 1974, LGBl. 6500-5, mit der Frage zu beschäftigen, ob - im Sinn der bisherigen Judikatur - den Anforderungen des Art 6 Abs 1 EMRK dadurch Genüge getan wird, daß eine mit administrativen Rechtsmitteln nicht mehr anfechtbare verwaltungsbehördliche Entscheidung über zivilrechtliche Ansprüche letztendlich ohnedies vor beiden Gerichtshöfen des öffentlichen Rechts in Beschwerde gezogen werden kann.

Dazu führte der VfGH - nach Bejahung einer Streitigkeit über zivilrechtliche Ansprüche und Befassung mit dem Vorerkenntnis VfSlg. 5100/1965 - folgendes aus:

"Neuerliche Zweifel, ob die nachprüfende Kontrolle des VwGH den Anforderungen des Art 6 MRK genügt, hat der VfGH bereits in den vom VwGH bezogenen Prüfungsbeschlüssen geäußert.

Er hat das durch den Beschluß zu B695/84 eingeleitete

Gesetzesprüfungsverfahren betreffend § 21 ApothekerkammerG

(Disziplinarberufungssenat) zwar inzwischen mit Erkenntnis

G181/86 ua. vom abgeschlossen, mußte die

erwähnte Frage aber offen lassen, weil die Angelegenheit sich als

die Entscheidung über eine strafrechtliche Anklage erwiesen hat

und der Gerichtshof dafür das Einschreiten eines Tribunals für

erforderlich hält. Auch das in einer Bausache ergangene

Erkenntnis B267/86 vom gleichen Tag, das die im

Einleitungsbeschluß des vorliegenden Verfahrens G232/87

wiedergegebenen Bedenken formuliert, hat die Frage letztlich

unbeantwortet gelassen . . . Nur als eine der möglichen

Schlußfolgerungen aus den zum Verwaltungsrecht angestellten

Überlegungen hat der Gerichtshof dort die Auffassung angedeutet,

die traditionelle Ziviljustiz könnte einen Kernbereich des Art 6

MRK darstellen, für welchen ähnliches gilt wie für das Strafrecht

. . . Ob diese Erwägungen stichhältig sind, muß im vorliegenden

Verfahren erst entschieden werden.

Art 6 MRK lautet in dem hier in Betracht kommenden Teil:

'Jedermann hat Anspruch darauf, daß seine Sache in billiger Weise öffentlich und innerhalb einer angemessenen Frist gehört wird, und zwar von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht, das über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen oder über die Stichhaltigkeit der gegen ihn erhobenen strafrechtlichen Anklage zu entscheiden hat. Das Urteil muß öffentlich verkündet werden, . . .'.

Demnach verlangt Art 6 Abs 1 MRK, daß über

zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen oder über die

Stichhaltigkeit der strafrechtlichen Anklage ein Tribunal selbst

entscheidet. Die Bedeutung dieser Garantie läßt sich nicht allein

aus dem Text des Art 6 ablesen. Im Erkenntnis G181/86 ua. vom

hat der VfGH - dem Erkenntnis VfSlg. 10291/1984

folgend - unter Heranziehung des Art 5 MRK und des österreichischen

Vorbehalts zu diesem Artikel dargelegt, daß ein den

Organisationsgarantien des Art 6 MRK entsprechendes Tribunal das

Verfahren nach den Garantien desselben Artikels durchzuführen und

aufgrund der Ergebnisse dieses Verfahrens selbst zur Strafe zu

verurteilen hat. Der so für den Bereich des Strafrechts ermittelte

Inhalt des Art 6 muß offenbar auch für den Kernbereich der civil

rights gelten. Einer Auslegung, nach der für die Entscheidung über

zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen die Garantie eines

Tribunals weniger wirksam wäre als für die Entscheidung über

strafrechtliche Anklagen, bietet der Text der Konvention keine

Handhabe. Auch in der Literatur werden insofern Unterschiede nicht

behauptet (vgl. Frowein-Peukert, Kommentar zur Europäischen

Menschenrechtskonvention, 1985, RdZ 37ff zu Art 6). Daß diese

Gleichstellung mit dem Strafrecht freilich nur für die Entscheidung

über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen selbst gelten

kann und nicht auch für Streitigkeiten (öffentlich-rechtlicher

Natur), die solche Ansprüche und Verpflichtungen nur in ihren

Auswirkungen betreffen, hat der VfGH im . . . genannten Erkenntnis

B267/86 vom ausführlich dargelegt; zur Vermeidung

von Wiederholungen sei auf dieses Erkenntnis . . . verwiesen. Anders

als die dort behandelten Verwaltungsmaterien gehört aber die Entscheidung über den Ersatz von Jagd- und Wildschäden ihrer rechtlichen Natur nach zur traditionellen Ziviljustiz. Die Eigenart des österreichischen Rechts, Angelegenheiten der Jagd- und Wildschäden ungeachtet ihrer bürgerlich-rechtlichen Natur des engen Sachzusammenhanges wegen in den jagdrechtlichen (und daher dem Landesgesetzgeber vorbehaltenen) Vorschriften zu regeln, und die damit verbundene Neigung, die Entscheidung endgültig Verwaltungsbehörden zuzuweisen, muß dabei außer Betracht bleiben. Auf solche Besonderheiten nimmt der autonom auszulegende Art 6 MRK nicht Rücksicht.

Die besonderen Ziele und Folgen eines Zivilverfahrens machen es wohl möglich, der Entscheidung durch das Tribunal ein Verfahren vor einer weisungsgebundenen Verwaltungsbehörde vorzuschalten. Es reicht aus, wenn das letztlich maßgebliche Tribunal aufgrund selbständiger Feststellung und Würdigung der Tat- und Rechtsfragen die Sachentscheidung fällt. Für diese Aufgabe ist der VwGH aber ungeachtet seiner weitgehenden Entscheidungsbefugnis nicht eingerichtet.

Für die Entscheidung über Angelegenheiten des Kernbereichs der civil rights reicht daher die nachprüfende Kontrolle durch den VwGH nicht aus."

2.2.1.2. Der VfGH hält an dieser Rechtsauffassung fest.

Angesichts der im Prüfungsbeschluß ausgebreiteten Bedenken ob der Verfassungsmäßigkeit des § 344 ASVG bedarf es zunächst der Klärung der Frage, ob die paritätische Schiedskommission über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen zu befinden hat, die zum "Kernbereich" der civil rights zählen (vgl. VfSlg. 11591/1987), ob es sich hier also um Entscheidungen handelt, die - da auf diesem Gebiet die nachprüfende Kontrolle der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts den Anforderungen des Art 6 EMRK nicht genügt - von einem "Tribunal" iS der EMRK selbst zu fällen sind:

Gemäß § 338 Abs 1 ASVG werden nun die Beziehungen zwischen Krankenversicherungsträgern und Ärzten durch "privatrechtliche Verträge" geregelt. Dazu sieht § 341 ASVG vor, daß die Träger der Krankenversicherung einerseits und die örtlich zuständigen Ärztekammern andererseits Gesamtverträge abschließen, deren Inhalt auch Bestandteil des in der Folge zwischen Arzt und Krankenversicherungsträger geschlossenen Einzelvertrages wird. Mit Abschluß des Einzelvertrages verpflichtet sich der selbständige, freiberuflich tätige Arzt dem Krankenversicherungsträger - entsprechend der Abmachung im Gesamtvertrag - zur Behandlung von bestimmten, erkrankten Personen, wobei das Entgelt dafür vom Krankenversicherungsträger als Vertragspartner zu leisten ist. Entstehen Streitigkeiten aus dem (Einzel-)Vertrag und den daraus erwachsenden Rechten und Pflichten, so ist gemäß § 344 ASVG die paritätische Schiedskommission zur Schlichtung und Entscheidung berufen. Sie hat in diesem Fall - in Auslegung des privatrechtlichen Vertrages - über die strittigen, ihrer rechtlichen Natur nach dem Zivilrecht in engster Bedeutung und damit dem Kernbereich der civil rights zuzuzählenden Ansprüche und Verpflichtungen zu entscheiden, eine Entscheidung in der Sache selbst, die einem Tribunal iS der EMRK zwingend vorbehalten - und nicht bloß von einem Tribunal nachzuprüfen - ist (s. VfSlg. 11591/1987; zur Rechtsnatur des Einzelvertrages vergleiche ua.:

Welser, Das Zivilrecht und das Dreiecksverhältnis zwischen

Sozialversicherungsträger, Arzt und Patient, in: Tomandl,

Sozialversicherung: Grenzen der Leistungspflicht, Wien 1975, 101 ff; Selb, Der privatrechtliche Vertrag als Instrument zur Leistungserbringung in der Sozialversicherung, ZAS 1976, 43 ff, 94 ff; Selb, Die Beziehungen der Sozialversicherungsträger zu Ärzten und Ärzteverbänden, in: Tomandl, System des österreichischen Sozialversicherungsrechts, Wien 1980, 564 ff; Völkl-Torggler, Die Rechtsnatur des ärztlichen Behandlungsvertrages in Österreich, JBl. 1984, 72 ff; Nott, Das Privatrecht in der öffentlich-rechtlichen Sozialversicherung, SozSi. 1968, 333 ff; Souhrada, Arztvertrag und Schiedskommission, JBl. 1982, 519 ff).

2.2.1.3. Die Verfassungsmäßigkeit des § 344 ASVG hängt folglich davon ab, ob der paritätischen Schiedskommission die Qualität eines Tribunals iSd Art 6 EMRK zukommt.

Im Gesetzesprüfungsverfahren - die Bundesregierung enthielt sich in diesem Punkt einer Stellungnahme - kam nichts hervor, was die im Prüfungsbeschluß ausgebreiteten verfassungsrechtlichen Bedenken ob der fehlenden Tribunaleigenschaft der paritätischen Schiedskommission hätte entkräften können. Die im Beschluß vom , B757/86, aufgezeigten Bedenken erwiesen sich vielmehr aus den dort dargelegten Erwägungen als voll zutreffend:

Da das Gesetz (§344 ASVG) weder die Weisungsfreiheit noch eine gesicherte Funktionsdauer der Kommissionsmitglieder vorsieht, ist die verfassungsmäßig garantierte Unabhängigkeit dieser Organe iS der herrschenden Rechtsprechung des VfGH nicht gewährleistet (vgl. zB VfSlg. 10800/1986), die paritätische Schiedskommission demnach nicht als unabhängiges und unparteiisches Tribunal im Sinn des Art 6 EMRK eingerichtet.

§ 344 ASVG widerspricht darum der Verfassungsvorschrift des Art 6 EMRK.

Demzufolge mußte zu Abschnitt I spruchgemäß entschieden werden.

Der Ausspruch über die Kundmachungspflicht stützt sich auf Art 140 Abs 5, der frühere gesetzliche Bestimmungen betreffende auf Art 140 Abs 6 B-VG. Dabei ging der VfGH von der Überlegung aus, daß eine auch nur befristete Aufrechterhaltung des hier als verfassungs- und konventionswidrig erkannten Zustandes vermieden werden soll.

2.2.2. Zur V BGBl. 105/1956:

Die §§2 und 3 der V des Bundesministers für soziale Verwaltung vom , BGBl. 105/1956, finden ihre ausschließliche materielle Basis unbestrittenermaßen in der Bestimmung des § 344 ASVG, die unter einem (s. Punkt I des Spruches) als verfassungswidrig aufgehoben wurde. Die zu prüfenden Stellen dieser V sind darum nunmehr so zu beurteilen, als ob sie ohne gesetzliche Grundlage erlassen worden wären (vgl. VfSlg. 4172/1962, 6945/1972, 10296/1984, 10800/1986). Sie widersprechen also Art 18 B-VG und waren aufzuheben.

Die übrige Entscheidung fußt auf Art 139 Abs 5 B-VG.