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VfGH vom 10.06.2003, V10/03

VfGH vom 10.06.2003, V10/03

Sammlungsnummer

16873

Leitsatz

Aufhebung einer Kanalgebührenordnung zur Gänze mangels ausreichender Kundmachung; inhaltliche Gesetzwidrigkeit von Wortfolgen betreffend die Entstehung der Gebührenpflicht infolge Festlegung einer im Widerspruch zum Finanzausgleichsgesetz als Benützungsgebühr und nicht als Interessentenbeitrag gewerteten Kanalanschlußgebühr wegen fehlender landesgesetzlicher Ermächtigung

Spruch

§ 2 Z 1 erster Satz der Kanalgebührenordnung der Gemeinde Tulfes vom , kundgemacht durch Anschlag an der Amtstafel vom bis zum , in der Fassung der Verordnung des Gemeinderates der Gemeinde Tulfes vom , kundgemacht durch Anschlag an der Amtstafel vom bis zum , wird als gesetzwidrig aufgehoben.

Die Aufhebung tritt mit Ablauf des in Kraft.

Die Tiroler Landesregierung ist zur unverzüglichen Kundmachung dieses Ausspruches im Landesgesetzblatt verpflichtet.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1.1. Beim Verfassungsgerichtshof ist zu B1665/00 das Verfahren über eine auf Art 144 B-VG gestützte Beschwerde anhängig, der folgender Sachverhalt zugrundeliegt:

Mit Bescheid vom stellte der Bürgermeister der Gemeinde Tulfes fest, ein Objekt (bauliche Anlage), das im Eigentum des Beschwerdeführers steht, unterliege "der Anschlußpflicht an die öffentliche Abwasserbeseitigungsanlage der Gemeinde Tulfes".

1.2. Mit Bescheid vom schrieb der Bürgermeister dem Beschwerdeführer eine Kanalanschlußgebühr von S 109.035,30 (einschließlich 10 % USt.) vor.

Der Gemeindevorstand der Gemeinde Tulfes gab mit Bescheid vom einer Berufung keine Folge, nachdem bereits der Bürgermeister eine abweisende Berufungsvorentscheidung erlassen hatte.

1.3. Mit Bescheid vom wies die Tiroler Landesregierung eine Vorstellung des Beschwerdeführers gegen den Berufungsbescheid ab.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die Beschwerde.

2. Bei der Behandlung der Beschwerde sind beim Verfassungsgerichtshof Bedenken ob der Gesetzmäßigkeit des § 2 Z 1 erster Satz der Kanalgebührenordnung der Gemeinde Tulfes vom , kundgemacht durch Anschlag an der Amtstafel vom bis zum , in der Fassung der Verordnung des Gemeinderates der Gemeinde Tulfes vom , kundgemacht durch Anschlag an der Amtstafel vom bis zum (in der Folge: KanalgebührenO), entstanden. Der Gerichtshof hat daher beschlossen, diese Bestimmung von Amts wegen auf ihre Gesetzmäßigkeit zu prüfen.

Im verfassungsgerichtlichen Verfahren sind keine Äußerungen abgegeben worden.

3. Die KanalgebührenO lautet auszugsweise (die in Prüfung genommene Bestimmung ist hervorgehoben):

"§1

Einteilung der Gebühren

Zur Deckung des Aufwandes für die öffentliche Abwasserbeseitigungsanlage der Gemeinde Tulfes erhebt die Gemeinde Benützungsgebühren in folgender Form:

1. Anschlußgebühr (einmalige Gebühr)

2. Kanalgebühr (laufende Gebühr)

3. Zählermiete (jährliche Gebühr, jedoch nur, wenn die Zählermiete nicht schon aufgrund der Ermittlung des Wasserverbrauches nach der Wasserleitungsgebührenordnung verrechnet wird)

4. Erweiterungsgebühr (einmalige Gebühr für größere Bauvorhaben, wie Regionalkanal und regionale Kläranlage, usw.)

§2

Entstehen der Gebührenpflicht

1. Die Pflicht zur Entrichtung der Anschlußgebühr entsteht mit dem Eintritt der Rechtskraft des Bescheides nach § 9 des Tiroler Kanalisationsgesetzes, LGBl. Nr. 40/1985, in der derzeit gültigen Fassung. Bei Zu- und Umbauten, sowie bei Wiederaufbau von abgerissenen Gebäuden entsteht die Gebührenpflicht mit Baubeginn insoweit, als die neue Bemessungsgrundlage den Umfang der bisherigen, mindestens jedoch eine Gesamtbemessungsgrundlage von 1.000 m³ Baumasse, übersteigt.

2. Die Pflicht zur Entrichtung der Kanalgebühr entsteht mit der Herstellung des Anschlusses.

3. Die Pflicht zur Entrichtung der Zählermiete entsteht mit dem Einbau des Wasserzählers.

4. Die Pflicht zur Entrichtung der Erweiterungsgebühr für die Errichtung der regionalen Kläranlage entsteht mit .

§3

Bemessungsgrundlage und Höhe der Anschlußgebühr

1. Bemessungsgrundlage für die Berechnung der Anschlußgebühr ist die Baumasse aller auf einem an die Abwasserbeseitigungsanlage angeschlossenen Grundstück errichteten Gebäude. Ausgenommen sind Heustadel und Scheunen sowie die zur Viehhaltung bestimmten Teile (Stall) in landwirtschaftlichen Wirtschaftsgebäuden.

Die Baumasse ist geschoßweise aus dem umbauten Raum des Gebäudes zu ermitteln:

...

2. - 3. ...

4. Die Kanalanschlußgebühr für bebaute Grundstücke beträgt je m3 ermittelter Baumasse S 46,--, mindestens jedoch für 1.000 m³, somit mindestens S 46.000,--.

5. ..."

Die Stammfassung der KanalgebührenO wurde vom Gemeinderat am beschlossen und vom 17. Juni bis zum durch Anschlag an der Amtstafel kundgemacht. § 2 Z 1 und 4 sowie § 3 Z 4 der hier anzuwendenden, oben wiedergegebenen Fassung erhielten ihre Gestalt durch die Verordnung des Gemeinderates vom , angeschlagen vom 2. bis zum . § 3 Z 1 KanalgebührenO erhielt seine Fassung durch die Verordnung des Gemeinderates vom , angeschlagen vom 27. Mai bis zum . Am beschloß der Gemeinderat eine neue Kanalgebührenordnung, die für das vorliegende Verfahren noch nicht relevant ist.

II. Der Verfassungsgerichtshof hat erwogen:

1.1. In seinem Einleitungsbeschluß nahm der Gerichtshof vorläufig an, daß die Beschwerde zulässig sei, daß die belangte Behörde bei der Erlassung des angefochtenen Bescheides § 2 Z 1 erster Satz KanalgebührenO angewandt habe und daß auch der Verfassungsgerichtshof diese Bestimmung bei der Beurteilung der Beschwerde anzuwenden habe. Vor dem Hintergrund der Rechtslage ging der Verfassungsgerichtshof vorläufig davon aus, daß der Gebührenbescheid des Bürgermeisters vom ebenso wie die weiteren im Instanzenzug ergangenen Bescheide deshalb erlassen worden seien, weil für das Grundstück des Beschwerdeführers (mit Bescheid vom ) die Anschlußpflicht festgestellt worden war, wie dies § 9 des Tiroler Kanalisationsgesetzes, LGBl. 40/1985 idF LG LGBl. 50/1986, vorsah. Genau dann aber scheine nach § 2 Z 1 erster Satz KanalgebührenO der Gebührenanspruch zu entstehen. § 2 Z 1 erster Satz KanalgebührenO knüpfe ausdrücklich an die Rechtskraft des Bescheides nach § 9 des Tiroler KanalisationsG an.

1.2. Im Verfahren ist nichts hervorgekommen, was daran zweifeln ließe, daß diese Annahmen des Prüfungsbeschlusses zutreffen.

Da auch die übrigen Prozeßvoraussetzungen vorliegen, ist das Verordnungsprüfungsverfahren zulässig (zum Prüfungsumfang vgl. ).

2.1. Mit Erkenntnis vom , V122/01, hob der Verfassungsgerichtshof zwei Wortfolgen im ersten Satz des § 2 Abs 1 der Kanalgebührenordnung der Gemeinde Prägraten am Großvenediger vom als gesetzwidrig auf, weil die Kanalanschlußgebühr dadurch als Interessentenbeitrag ausgestaltet war, hiefür jedoch keine landesgesetzliche Ermächtigung bestand. (Eine Ausfertigung des Erkenntnisses liegt bei; im Ergebnis wurde die ganze Verordnung wegen eines Kundmachungsmangels aufgehoben.)

Im Anschluß an dieses Erkenntnis hegte der Verfassungsgerichtshof nun im Anlaßverfahren das Bedenken, § 2 Z 1 erster Satz KanalgebührenO sei aus demselben Grund gesetzwidrig, aus dem er jene Teile der Kanalgebührenordnung der Gemeinde Prägraten am Großvenediger - vom dort zusätzlich vorliegenden Kundmachungsmangel abgesehen - als gesetzwidrig aufgehoben hatte. Dazu führte er im Prüfungsbeschluß aus:

"Mit Erkenntnissen vom , V5/01, vom , V66/01, und vom , V122/01, hat der Verfassungsgerichtshof Bestimmungen von Kanalgebührenordnungen Tiroler Gemeinden als gesetzwidrig aufgehoben, nach denen die Pflicht zur Entrichtung einer Anschlußgebühr mit Eintritt der Rechtskraft des Anschlußbescheides nach § 11 Tiroler KanalisationsG oder - wie anscheinend im Beschwerdefall - schon mit Rechtskraft jenes Bescheides entstand, mit welchem gemäß § 9 Tiroler KanalisationsG die Anschlußpflicht festgestellt wurde. Insbesondere im Fall des zuletzt genannten Erkenntnisses ..., das die Kanalgebührenordnung der Gemeinde Prägraten am Großvenediger betraf, scheint die Entstehung der Gebührenpflicht ähnlich konstruiert gewesen zu sein wie im vorliegenden Fall."

2.2. Dieses Bedenken hat sich als zutreffend erwiesen: § 2 Z 1 erster Satz KanalgebührenO ist aus denselben Gründen gesetzwidrig, aus denen Teile der Kanalgebührenordnung der Gemeinde Prägraten am Großvenediger - vom dort zusätzlich vorliegenden Kundmachungsmangel abgesehen - gesetzwidrig waren.

§ 2 Z 1 erster Satz KanalgebührenO war daher als gesetzwidrig aufzuheben.

2.3. Die Aussprüche über die Bestimmung einer Frist und über die Verpflichtung der Tiroler Landesregierung zur unverzüglichen Kundmachung gründen sich auf Art 139 Abs 5 B-VG.

Dies konnte gemäß § 19 Abs 4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung beschlossen werden.