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VfGH vom 01.07.2009, U992/08

VfGH vom 01.07.2009, U992/08

Sammlungsnummer

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Leitsatz

Verletzung im Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens durch Ausweisung eines Asylwerbers infolge fehlerhafter bzw unzureichender Interessenabwägung

Spruch

Der Beschwerdeführer ist durch die angefochtene Entscheidung, soweit damit die Beschwerde gegen die vom Bundesasylamt verfügte Ausweisung abgewiesen wird, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Art 8 EMRK verletzt worden.

Die Entscheidung wird, soweit damit die Beschwerde gegen die vom Bundesasylamt verfügte Ausweisung abgewiesen wird, aufgehoben.

Der Bund (Bundeskanzler) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.400,-- bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu bezahlen.

Im Übrigen wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Der Beschwerdeführer ist ein am geborener Staatsbürger Nigerias und stellte am einen Antrag auf Gewährung von Asyl. Diesen Antrag begründete er damit, dass er von seinem Onkel und dessen "Boys" misshandelt worden sei und fliehen habe müssen.

Seit ist der Beschwerdeführer mit einer österreichischen Staatsbürgerin verheiratet und lebt mit dieser sowie deren minderjährigen Tochter, für welche die Ehefrau des Beschwerdeführers obsorgeberechtigt ist, im gemeinsamen Haushalt.

2. Das Bundesasylamt (im Folgenden: BAA) wies den Asylantrag mit Bescheid vom gemäß § 7 Asylgesetz 1997 (im Folgenden: AsylG 1997) ab, erklärte gemäß § 8 Abs 1 leg.cit. die Zurückweisung, Zurückschiebung und Abschiebung nach Nigeria für zulässig und wies den Beschwerdeführer nach Nigeria aus, wobei dem Vorbringen des Beschwerdeführers geglaubt wurde, dies jedoch als private Übergriffe klassifiziert wurde.

3. Der dagegen erhobene Berufung vom gab der Unabhängige Bundesasylsenat (im Folgenden: UBAS) mit Bescheid vom zur Z 249.989/0-XIV/08/04 Folge, da es dem Bescheid des BAA an Feststellungen zur Effizienz der Polizei und Justizbehörden in Nigeria, zur Priesternachfolge und zur Schutzfähigkeit und Schutzwilligkeit des Staates bei privaten Übergriffen mangelte. Zudem seien keine Quellen zitiert worden.

4. Das BAA wies den Asylantrag mit Bescheid vom neuerlich gemäß § 7 AsylG 1997 ab, erklärte gemäß § 8 Abs 1 leg.cit. die Zurückweisung, Zurückschiebung und Abschiebung nach Nigeria für zulässig und wies den Beschwerdeführer gemäß § 8 Abs 2 leg.cit. aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Nigeria aus.

5. Die dagegen erhobene Berufung (nunmehr: Beschwerde) vom wies der Asylgerichtshof (im Folgenden: AsylGH) mit dem angefochtenen Erkenntnis gemäß §§7, 8 Abs 1 und 8 Abs 2 AsylG 1997 als unbegründet ab. Im Erkenntnis führt der AsylGH u.a. aus, dass man dem Beschwerdeführer keinen Glauben schenken würde. Selbst wenn sein Vorbringen den Tatsachen entspreche, so sei ihm die Asylrelevanz zu versagen.

Hinsichtlich der Ausweisung des Beschwerdeführers nach Nigeria führte der AsylGH aus, dass die Interessenabwägung zu Lasten des Beschwerdeführers ausfallen würde. Seine Ehe sei erst zu einem Zeitpunkt geschlossen worden, in dem die Beschwerde beim UBAS bzw. AsylGH bereits anhängig gewesen wäre. Auch die Ehefrau habe sich bewusst sein müssen, dass der Aufenthalt ihres Ehegatten kein dauerhafter sein könne. Der Beschwerdeführer würde von seiner Ehefrau erhalten werden und habe keine besonderen Integrationsschritte gesetzt. In Nigeria würde Englisch gesprochen werden, zudem wäre die Mehrheit wie die Ehegattin des Beschwerdeführers christlichen Glaubens und könne diese in der Stadt arbeiten.

6. Gegen diese Entscheidung des AsylGH richtet sich die auf Art 144a B-VG, BGBl. I 2/2008, gegründete Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof vom . Der Beschwerdeführer macht darin die Verletzung der in Art 3 und 8 EMRK gewährleisteten Rechte geltend und beantragt die kostenpflichtige Aufhebung der angefochtenen Entscheidung. Der AsylGH habe es verabsäumt, das Familienleben des Beschwerdeführers ordnungsgemäß zu prüfen, ebenso sei seine Integration nicht erwogen worden. Zudem seien die tatsächlichen Lebensumstände in Nigeria nicht ermittelt worden, schließlich würde die Realität nur allzu oft von den in den Gesetzen niedergeschriebenen Grundsätzen abweichen und liefe der Beschwerdeführer bei einer Zurückschiebung nach Nigeria Gefahr, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu sein.

7. Der AsylGH hat als belangtes Gericht von einer Gegenschrift abgesehen, auf die Begründung der angefochtenen Entscheidung verwiesen und die Verfahrensakten übermittelt.

II. Der Verfassungsgerichtshof hat zur - zulässigen - Beschwerde erwogen:

A. Die Beschwerde ist, soweit sie sich gegen die vom BAA verfügte Ausweisung wendet, begründet:

1. Ein Eingriff in das durch Art 8 EMRK verfassungsgesetzlich garantierte - unter Gesetzesvorbehalt stehende - Recht ist dann verfassungswidrig, wenn der ihn verfügende Bescheid ohne jede Rechtsgrundlage ergangen ist, auf einer dem Art 8 EMRK widersprechenden Rechtsvorschrift beruht oder wenn die Behörde bei Erlassung des Bescheides eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Rechtsgrundlage in denkunmöglicher Weise angewendet hat; ein solcher Fall liegt nur vor, wenn die Behörde einen so schweren Fehler begangen hat, dass dieser mit Gesetzlosigkeit auf eine Stufe zu stellen wäre, oder wenn sie der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen verfassungswidrigen, insbesondere einen dem Art 8 Abs 1 EMRK widersprechenden und durch Art 8 Abs 2 EMRK nicht gedeckten Inhalt unterstellt hat (vgl. VfSlg. 11.638/1988, 15.051/1997, 15.400/1999, 16.657/2002).

2.1. Dem AsylGH ist ein in die Verfassungssphäre reichender Fehler vorzuwerfen:

2.2. Wie bereits in der zur fremdenrechtlichen Ausweisung ergangenen Judikatur ausgeführt (vgl. VfGH, , B328/07, VfSlg. 18.223/2007 ua.) bezweifelt der Verfassungsgerichtshof nicht, dass die Schaffung eines Ordnungssystems, mit dem die Einreise und der Aufenthalt von Fremden geregelt wird, auch im Lichte der Entwicklungen auf europäischer Ebene notwendig ist. Dem öffentlichen Interesse an der Einhaltung der die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regelnden Bestimmungen kommt im Interesse des Schutzes der öffentlichen Ordnung (Art8 Abs 2 EMRK) daher ein hoher Stellenwert zu. Nichts anderes gilt auch für den Fall einer mit einer Abweisung oder Zurückweisung eines Asylantrags ausgesprochenen Ausweisung eines Asylwerbers.

Wie die zuständige Fremdenpolizeibehörde ist aber auch der eine Ausweisung aussprechende AsylGH bzw. das BAA stets dazu verpflichtet, das öffentliche Interesse an der Aufenthaltsbeendigung gegen die persönlichen Interessen des Fremden an einem weiteren Verbleib in Österreich am Maßstab des Art 8 EMRK abzuwägen (vgl. ).

2.3. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (im Folgenden: EGMR) hat fallbezogen unterschiedliche Kriterien herausgearbeitet, die bei einer solchen Interessenabwägung zu beachten sind und als Ergebnis einer Gesamtbetrachtung dazu führen können, dass Art 8 EMRK einer Ausweisung entgegensteht:

Er hat etwa die Aufenthaltsdauer, die vom EGMR an keine fixen zeitlichen Vorgaben geknüpft wird (EGMR , Fall Rodrigues da Silva und Hoogkamer, Appl. 50.435/99, ÖJZ 2006, 738 = EuGRZ 2006, 562; , Fall Ghiban, Appl. 11.103/03, NVwZ 2005, 1046), das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens (EGMR , Fall Abdulaziz ua., Appl. 9214/80, 9473/81, 9474/81, EuGRZ 1985, 567; , Fall Al-Nashif, Appl. 50.963/99, ÖJZ 2003, 344; , Fall X, Y und Z, Appl. 21.830/93, ÖJZ 1998, 271) und dessen Intensität (EGMR , Fall Boultif, Appl. 54.273/00), die Schutzwürdigkeit des Privatlebens, den Grad der Integration des Fremden, der sich in intensiven Bindungen zu Verwandten und Freunden, der Selbsterhaltungsfähigkeit, der Schulausbildung, der Berufsausbildung, der Teilnahme am sozialen Leben, der Beschäftigung und ähnlichen Umständen manifestiert (vgl. EGMR , Fall Adam, Appl. 43.359/98, EuGRZ 2002, 582; , Fall Slivenko, Appl. 48.321/99, EuGRZ 2006, 560; , Fall Sisojeva, Appl. 60.654/00, EuGRZ 2006, 554; vgl. auch ; , 2002/21/0124), die Bindungen zum Heimatstaat, die strafgerichtliche Unbescholtenheit, aber auch Verstöße gegen das Einwanderungsrecht und Erfordernisse der öffentlichen Ordnung (vgl. zB EGMR , Fall Mitchell, Appl. 40.447/98; , Fall Useinov, Appl. 61.292/00) für maßgeblich erachtet.

Auch die Frage, ob das Privat- und Familienleben in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren, ist bei der Abwägung in Betracht zu ziehen (EGMR , Fall Mitchell, Appl. 40.447/98; , Fall Solomon, Appl. 44.328/98; , Fall Rodrigues da Silva und Hoogkamer, Appl. 50.435/99, ÖJZ 2006, 738 = EuGRZ 2006, 562).

2.4. Wenn nun der AsylGH von den Vorgaben des EGMR spricht, welche bei einer Überprüfung des Familiennachzugs von österreichischen Staatsbürgern in das Herkunftsland des Beschwerdeführers einzuhalten sind, so lässt das Erkenntnis gerade diese vermissen.

2.5. Dabei wären nach den Vorgaben der Judikatur des EGMR, vor allem nach den in der Rechtssache Boultif formulierten Kriterien, u. a. zu ermitteln:


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die Dauer des Aufenthalts des Beschwerdeführers in dem Land, aus dem er ausgewiesen werden soll;
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die Staatsangehörigkeit der einzelnen Betroffenen;
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die familiäre Situation des Beschwerdeführers und insbesondere gegebenenfalls die Dauer seiner Ehe und andere Faktoren, welche die Effektivität eines Familienlebens bei einem Paar belegen;
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die Frage, ob aus der Ehe Kinder hervorgegangen sind und wenn ja, welches Alter sie haben, und
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das Maß an Schwierigkeiten, denen der Ehegatte in dem Land unter Umständen begegnet, in das der Beschwerdeführer auszuweisen ist.

Es ist in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass der EGMR im Fall Boultif festhielt, dass diese Leitlinien festzulegen waren, da es Fälle gibt, in denen das Haupthindernis bei einer Ausweisung eines Fremden darin bestehen kann, dass der jeweilige Ehegatte im Falle der Fortführung des Familienlebens im Heimatland des Fremden Schwierigkeiten bekommen könne.

2.6. Auch aus der jüngsten Rechtsprechung des EGMR (so etwa EGMR , Fall Darren Omoregie and others vs. Norway, Appl. 265/07) kann nicht abgeleitet werden, dass von diesen Kriterien abgegangen werden sollte. In diesem Zusammenhang muss auch darauf hingewiesen werden, dass - wenn auch gewichtige Argumente präsentiert werden - diese Entscheidung keineswegs einen Freibrief für die Ausweisung eines Asylwerbers oder einer Asylwerberin trotz Eheschließung mit einem österreichischen Staatsbürger oder einer österreichischen Staatsbürgerin während eines laufenden Asylverfahrens darstellt. In diesem Fall lag zum Zeitpunkt der Eheschließung im Jahre 2003 bereits ein rechtskräftig in allen Instanzen abgeschlossenes Asylverfahren vor und resultierte die beim EGMR bekämpfte Ausweisung aus einem in weiterer Folge eingeleiteten Verfahren über die Ausstellung einer Arbeitserlaubnis zum Zwecke der Familienzusammenführung. Diese Erlaubnis war verweigert worden, weil der Beschwerdeführer nicht ausreichend Unterhalt nachweisen und keine außergewöhnlichen humanitären Gründe geltend machen konnte. Der Beschwerdeführer wurde in diesem Verfahren ausgewiesen, bekam mehrfach Fristen zur Ausreise gesetzt, bekämpfte die Ausweisung aber wiederholt bis zum norwegischen Höchstgericht. Die gemeinsame Tochter des Beschwerdeführers und seiner norwegischen Gattin wurde 2006 geboren.

Im vorliegenden Fall war das Asyl- und Ausweisungsverfahren zum Zeitpunkt der Heirat nicht abgeschlossen, sodass die näheren Umstände der Zumutbarkeit der Übersiedlung der österreichischen Ehegattin in das Heimatland des Beschwerdeführers zu untersuchen gewesen wären.

3. Der Beschwerdeführer ist somit durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit die Beschwerde gegen die vom BAA verfügte Ausweisung abgewiesen wird, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Art 8 EMRK verletzt worden.

Die angefochtene Entscheidung ist daher, soweit damit die Beschwerde gegen die vom BAA verfügte Ausweisung abgewiesen wird, aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen war.

B. Die Behandlung der Beschwerde wird, soweit damit die Abweisung der Beschwerde an den AsylGH gegen die Abweisung des Asylantrages sowie die Zulässigkeitsentscheidung hinsichtlich der Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung bekämpft wird, aus folgenden Gründen abgelehnt:

Der Verfassungsgerichtshof kann die Behandlung einer Beschwerde gemäß Art 144a B-VG ablehnen, wenn sie keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat (Art144a Abs 2 B-VG).

Die Beschwerde behauptet weiters die Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes nach Art 3 EMRK.

Der Verfassungsgerichtshof geht in Übereinstimmung mit dem EGMR [s. etwa EGMR , Fall Soering, EuGRZ 1989, 314 (319); , Fall Vilvarajah ua., ÖJZ 1992, 309 (309); , Fall Hilal, ÖJZ 2002, 436 (436 f.)] davon aus, dass die Entscheidung eines Vertragsstaates, einen Fremden auszuweisen - oder in welcher Form immer außer Landes zu schaffen -, unter dem Blickwinkel des Art 3 EMRK erheblich werden und demnach die Verantwortlichkeit des Staates nach der EMRK begründen kann, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme glaubhaft gemacht worden sind, dass der Fremde konkret Gefahr liefe, in dem Land, in das er ausgewiesen werden soll, Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen zu werden (vgl. VfSlg. 13.837/1994, 14.119/1995, 14.998/1997).

Der AsylGH hat weder eine grundrechtswidrige Gesetzesauslegung vorgenommen noch sind ihm grobe Verfahrensfehler unterlaufen, die eine vom Verfassungsgerichtshof aufzugreifende Verletzung des genannten Grundrechtes darstellen (vgl. VfSlg. 13.897/1994, 15.026/1997, 15.372/1998, 16.384/2001, 17.586/2005 sowie ). Ob ihm sonstige Fehler bei der Rechtsanwendung unterlaufen sind, hat der Verfassungsgerichtshof nicht zu beurteilen.

Demgemäß wurde beschlossen, von einer Behandlung der Beschwerde, insoweit sie die Abweisung des Asylantrages und die Entscheidung über die Zulässigkeit der Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung betrifft, abzusehen.

III. Die Kostenentscheidung beruht auf §§88a iVm 88 VfGG. Die teilweise Erfolglosigkeit der Beschwerde kann dabei außer Betracht bleiben, da dieser Teil keinen zusätzlichen Prozessaufwand verursacht hat. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 400,-- enthalten (vgl. ).

Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 3 Z 1 und Abs 4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.