VfGH vom 27.06.2012, U98/12
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Leitsatz
Verletzung im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander durch eine Entscheidung des Asylgerichtshofes; Unterlassung der Ermittlungstätigkeit in entscheidungswesentlichen Punkten; willkürliches Verhalten des Asylgerichtshofes
Spruch
I. Der Beschwerdeführer ist durch die angefochtene Entscheidung in dem durch das Bundesverfassungsgesetz BGBl. Nr. 390/1973 verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander verletzt worden.
Die Entscheidung wird aufgehoben.
II. Der Bund (Bundeskanzler) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.400,- bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe:
I. Anlassverfahren, Beschwerdevorbringen und Vorverfahren
1. Der Beschwerdeführer, ein am geborener afghanischer Staatsangehöriger, stellte am einen Antrag auf internationalen Schutz.
2. Das Bundesasylamt (im Folgenden: BAA) wies den Asylantrag mit Bescheid vom bezüglich der Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten gemäß § 3 Abs 1 iVm § 2 Abs 1 Z 13 Asylgesetz 2005 (im Folgenden: AsylG 2005) ab (Spruchpunkt I.), erkannte dem Beschwerdeführer gemäß § 8 Abs 1 Z 1 leg. cit. den Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Afghanistan zu (Spruchpunkt II.) und erteilte ihm gemäß § 8 Abs 4 leg. cit. eine befristete Aufenthaltsberechtigung gültig bis (Spruchpunkt III.).
3. Die dagegen durch den gesetzlichen Vertreter
erhobene Beschwerde vom wies der Asylgerichtshof (im Folgenden: AsylGH) mit Entscheidung vom gemäß § 3 Abs 1 AsylG 2005 als unbegründet ab.
Der AsylGH begründet seine Entscheidung im Wesentlichen damit, dass das Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers im Rahmen seiner Erstbefragung am durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes eklatant von seinem bei der Einvernahme am erstatteten Vorbringen abweiche. So habe er bei der Erstbefragung als Fluchtgrund angegeben, aufgrund der wirtschaftlichen Situation in Afghanistan keine Zukunft zu haben. Bei der Einvernahme habe er dann vorgebracht, dass ein Kommandant namens M R seinen Vater und seinen Bruder umgebracht hätte und nunmehr sein Leben bedrohe. Das stelle nicht nur einen Widerspruch zum Vorbringen im Rahmen der Erstbefragung dar, sondern auch eine nicht nachvollziehbare Steigerung des Fluchtvorbringens, weshalb dem Beschwerdeführer die Glaubwürdigkeit zu versagen sei.
Die Unglaubwürdigkeit der Angaben des Beschwerdeführers begründet der AsylGH ferner damit, dass sein Fluchtvorbringen in der Einvernahme vom zwar im Prinzip einem bestimmten Handlungsablauf gefolgt, in der Schilderung aber detailarm und unpräzise geblieben sei. Der Beschwerdeführer habe daher nicht den Eindruck erwecken können, persönlich Erlebtes zu schildern.
4. In seiner gegen diese Entscheidung gerichteten, auf Art 144a B-VG gestützten Beschwerde behauptet der Beschwerdeführer die Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander gemäß ArtI Abs 1 des Bundesverfassungsgesetzes BGBl. Nr. 390/1973 und beantragt die kostenpflichtige Aufhebung der angefochtenen Entscheidung.
Zusammengefasst bringt der Beschwerdeführer vor, dass der AsylGH willkürlich gehandelt habe, weil er der offenkundigen Traumatisierung des Beschwerdeführers keine entscheidungswesentliche Bedeutung beigemessen habe, zumal es sich beim Beschwerdeführer um einen Minderjährigen handle und dieser im Zeitpunkt der geschilderten fluchtauslösenden Ereignisse ein Kind gewesen sei. Der AsylGH lege bei der Beurteilung der Glaubwürdigkeit des Beschwerdeführers einen Maßstab an, der für einen Erwachsenen adäquat sein möge. Für einen Minderjährigen, der aufgrund seiner noch nicht abgeschlossenen physischen und psychischen Entwicklung ganz andere Wahrnehmungen habe und aus diesen Wahrnehmungen - für Erwachsene - nicht nachvollziehbare Schlüsse ziehe, seien andere Maßstäbe anzulegen. Unter Zugrundelegung der empirischen und kognitiven Fähigkeiten des Beschwerdeführers sei sein Fluchtvorbringen schlüssig und konsistent. Außerdem räume der AsylGH der Erstbefragung des Beschwerdeführers vom eine höhere Glaubwürdigkeit ein als den weiteren Einvernahmen, obwohl die Erstbefragung gesetzwidrig ohne Anwesenheit eines gesetzlichen Vertreters stattgefunden habe und sich laut § 19 Abs 1 AsylG 2005 nicht auf die Fluchtgründe beziehen hätte dürfen. Insgesamt sei dem AsylGH eine massive Willkür zu Lasten des Beschwerdeführers anzulasten.
5. Der belangte AsylGH legte die Gerichts- und Verwaltungsakten vor und beantragte die Abweisung der Beschwerde, nahm jedoch von der Erstattung einer Gegenschrift Abstand.
II. Rechtslage
Das AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 idF BGBl. I
Nr. 38/2011 lautet auszugsweise:
"Status des Asylberechtigten
§3 (1) Einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, ist, soweit dieser Antrag nicht wegen Drittstaatsicherheit oder Zuständigkeit eines anderen Staates zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht.
Handlungsfähigkeit
§16 (3) Ein mündiger Minderjähriger, dessen
Interessen von seinem gesetzlichen Vertreter nicht wahrgenommen werden können, ist berechtigt, Anträge zu stellen und einzubringen. Gesetzlicher Vertreter für Verfahren nach diesem Bundesgesetz ist mit Einbringung des Antrags auf internationalen Schutz (§17 Abs 2) der Rechtsberater (§64) in der Erstaufnahmestelle, nach Zulassung des Verfahrens und nach Zuweisung an eine Betreuungsstelle der örtlich zuständige Jugendwohlfahrtsträger jenes Bundeslandes, in dem der Minderjährige einer Betreuungsstelle zugewiesen wurde. Widerspricht der Rechtsberater (§64) vor der ersten Einvernahme im Zulassungsverfahren einer erfolgten Befragung (§19 Abs 1) eines mündigen Minderjährigen, ist diese in seinem Beisein zu wiederholen.
(5) Bei einem unmündigen Minderjährigen, dessen Interessen von seinen gesetzlichen Vertretern nicht wahrgenommen werden können, ist der Rechtsberater (§64) ab Ankunft in der Erstaufnahmestelle gesetzlicher Vertreter. Solche Fremde dürfen nur im Beisein des Rechtsberaters (§64) befragt (§19 Abs 1) werden. Im Übrigen gelten die Abs 3 und 4.
Befragungen und Einvernahmen
§19 (1) Ein Fremder, der einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, ist durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes nach Antragstellung oder im Zulassungsverfahren in der Erstaufnahmestelle zu befragen. Diese Befragung dient insbesondere der Ermittlung der Identität und der Reiseroute des Fremden und hat sich nicht auf die näheren Fluchtgründe zu beziehen. Diese Einschränkung gilt nicht, wenn es sich um einen Folgeantrag (§2 Abs 1 Z 23) handelt. Die Befragung kann in den Fällen des § 12a Abs 1 sowie in den Fällen des § 12a Abs 3, wenn der Folgeantrag binnen zwei Tagen vor dem bereits festgelegten Abschiebetermin gestellt wurde, unterbleiben.
[...]
(5) Ein Asylwerber darf in Begleitung einer Vertrauensperson sowie eines Vertreters zu Einvernahmen vor dem Bundesasylamt oder dem Asylgerichtshof erscheinen; auch wenn ein Rechtsberater (§64) anwesend ist, kann der Asylwerber durch eine Vertrauensperson oder einen Vertreter begleitet werden. Minderjährige Asylwerber dürfen nur in Gegenwart eines gesetzlichen Vertreters einvernommen werden."
III. Erwägungen
Der Verfassungsgerichtshof hat zur - zulässigen - Beschwerde erwogen:
1. Nach der mit VfSlg. 13.836/1994 beginnenden,
nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s. etwa VfSlg. 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg. 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs 1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl. 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein - auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes - Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.
Diesem einem Fremden durch ArtI Abs 1 leg.cit.
gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl. zB VfSlg. 16.214/2001), wenn der Asylgerichtshof dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der - hätte ihn das Gesetz - dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl. 390/1973, stehend erscheinen ließe (s. etwa VfSlg. 14.393/1995, 16.314/2001) oder wenn er bei Fällung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg. 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001 sowie 18.614/2008).
Ein willkürliches Verhalten der Behörde, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außer-Acht-Lassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg. 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001).
2. Ein solches willkürliches Verhalten ist dem AsylGH vorzuwerfen:
2.1. Der AsylGH ist bei der Beurteilung der Glaubwürdigkeit des Beschwerdeführers zur umfassenden Auseinandersetzung mit allen relevanten Gesichtspunkten verpflichtet. Dazu gehört beispielsweise auch seine psychische Gesundheit, bei deren Beeinträchtigung ein großzügigerer Maßstab an die Detailliertheit seines Vorbringens zu legen ist (VfSlg. 18.701/2009). Auch das Alter und der Entwicklungsstand des Beschwerdeführers sind zu berücksichtigen. Der Beschwerdeführer war im Zeitpunkt der behaupteten Ermordung seines Vaters ungefähr acht Jahre alt. Der AsylGH qualifiziert die Schilderung der Ermordung des Vaters als detailarm, unpräzise und unkonkret, erwähnt das kindliche Alter des Beschwerdeführers zu dem Zeitpunkt aber mit keinem Wort. Bei der gebotenen Würdigung des durchschnittlichen Entwicklungsstandes eines achtjährigen Kindes hätte sich der AsylGH mit dem Alter des Asylwerbers auseinander zu setzen gehabt und einen dementsprechenden Maßstab an die Detailliertheit der Eindrücke des Beschwerdeführers anlegen müssen. Das gilt umso mehr für die Schilderung der politisch motivierten Feindschaft zwischen dem Vater des Beschwerdeführers, der mit den Taliban zusammengearbeitet habe, und seinem Mörder, einem Angehörigen der Hezb-e Wahdat Partei, weil der Beschwerdeführer im Zeitpunkt des zu ermittelnden Sachverhaltes höchstens sechs Jahre alt war. Auch bei der Beurteilung der Glaubwürdigkeit dieses Vorbringens wird das kindliche Alter des Beschwerdeführers mit keinem Wort erwähnt.
2.2. Der AsylGH stützt seine Entscheidung außerdem vorrangig auf Widersprüche im Fluchtvorbringen bei der Erstbefragung am und bei der Einvernahme am . Er hat damit § 19 Abs 1 AsylG 2005 - also das Verbot einer näheren Befragung zu den Fluchtgründen bei der Erstbefragung - außer Acht gelassen. Diese Regelung bezweckt den Schutz der Asylwerber, sich im direkten Anschluss an die Flucht aus ihrem Herkunftsstaat vor uniformierten Staatsorganen über traumatische Ereignisse verbreitern zu müssen, weil sie unter Umständen erst vor kurzem vor solchen geflohen sind (vgl. RV 952 XXII. GP, S. 44). Die Erstbefragung von Minderjährigen wird in § 16 Abs 3 und 5 AsylG 2005 an zusätzliche Voraussetzungen gebunden. Bereits daraus ergibt sich, dass der AsylGH den psychischen und physischen Zustand des Asylwerbers bei der Erstbefragung besonders zu berücksichtigen hat. Das angefochtene Erkenntnis des AsylGH lässt eine umfassende Auseinandersetzung mit dem psychischen und physischen Zustand des Beschwerdeführers bei der Erstbefragung vermissen. Zu den Ergebnissen der Erstbefragung befragt, gab der Beschwerdeführer im Rahmen der Einvernahme am an, sich nicht daran erinnern zu können, weil er nach der zwei- bis dreiwöchigen Flucht nach Österreich sehr müde und unkonzentriert gewesen sei. Unter Vorhalt seiner damals vorgebrachten Fluchtgründe brachte er vor, der Schlepper hätte ihm gesagt, dass er nichts über die Feindschaft erzählen dürfe. Dieses Vorbringen wird vom AsylGH nicht in die Beweiswürdigung miteinbezogen. Mit der Frage der Zuverlässigkeit der Aussagen des Beschwerdeführers bei der Erstbefragung setzt sich der AsylGH nicht auseinander, obwohl sich aus den Aussagen des Beschwerdeführers bei der Einvernahme ernstzunehmende Anhaltspunkte ergeben, die sie zweifelhaft erscheinen lassen.
2.3. Das Unterlassen der Ermittlungstätigkeit in mehreren entscheidungswesentlichen Punkten führt dazu, dass dem AsylGH insgesamt Willkür anzulasten ist.
IV. Ergebnis und damit zusammenhängende Ausführungen
1. Der Beschwerdeführer ist somit durch die
angefochtene Entscheidung in dem durch das BVG BGBl. I Nr. 390/1973 verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander verletzt worden.
Die angefochtene Entscheidung war daher aufzuheben.
2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 88a iVm 88
VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 400,- enthalten.
Die Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 VfGG ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen werden.