VfGH vom 16.09.2013, U852/2013
Leitsatz
Entzug des gesetzlichen Richters durch Abweisung des Antrags auf internationalen Schutz und Ausweisung der Beschwerdeführerin in den Kosovo infolge unrichtiger Zusammensetzung des Spruchkörpers des Asylgerichtshofes im Hinblick auf den geltend gemachten Fluchtgrund der Furcht vor sexuellen Übergriffen
Spruch
I. Die Beschwerdeführerin ist durch die angefochtene Entscheidung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetz lichen Richter gemäß Art 83 Abs 2 B VG verletzt worden. Die Entscheidung wird aufgehoben.
II. Der Bund (Bundeskanzler) ist schuldig, der Beschwerdeführerin zuhanden ihres Rechtsvertreters die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe
I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren
1. Die Beschwerdeführerin, eine Angehörige der Republik Kosovo, reiste am nach Österreich ein und stellte am selben Tag einen Antrag auf internationalen Schutz. Zu ihren Fluchtgründen gab die im Zeitpunkt der Antragstellung minderjährige Beschwerdeführerin in der Erstbefragung gegenüber einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes an, sie sei seit mehr als einem Jahr ständig durch einen Mann verbal sexuell belästigt und mit der Entführung bedroht worden. In späteren Einvernahmen durch das Bundesasylamt gab die Beschwerdeführerin ferner an, der Mann habe täglich vor der Schule auf sie gewartet. Er habe ihr gesagt, sie sei sein Mädchen und müsse ihn zum Mann nehmen. Die Beschwerdeführerin wie ihre Schule hätten den Mann bei den Behörden angezeigt, woraufhin er gerichtlich zu einer Geldstrafe von € 300,– verurteilt worden sei. Begründend führte das Gericht in der vorgelegten Entscheidung aus, dass der Mann in der Stadt B die öffentliche Ordnung durch im Wortlaut wiedergegebene, verbale (keine Drohung enthaltende) sexuelle Anzüglichkeiten gegenüber der Beschwerdeführerin gestört habe.
Ungeachtet dieser Verurteilung habe der Mann der Beschwerdeführerin zufolge weitergemacht; die Polizei habe gesagt, dass sie nichts dagegen unternehmen könne. Vom Bundesasylamt konkret befragt, ob in ihre sexuelle Selbstbestimmung eingegriffen worden sei, habe die Beschwerdeführerin geantwortet: "Nein, weil ich niemals alleine unterwegs war." Aus Angst vor diesem Mann, der ein Krimineller wäre, habe die Beschwerdeführerin ihre Heimat verlassen. Im Falle ihrer Rückkehr fürchte die Beschwerdeführerin, er werde sie weiter verfolgen. Sie habe ausgeführt: "Er war ständig hinter mir her. Damit nichts passiert, musste ich flüchten."
2. Mit Bescheid vom wies das Bundesasylamt den Asylantrag der Beschwerdeführerin ab, erkannte ihr subsidiären Schutz nicht zu und wies sie in den Kosovo aus. Begründet wurde der Bescheid im Wesentlichen damit, die Beschwerdeführerin habe kein für die Zuerkennung von internationalem oder subsidiärem Schutz relevantes Vorbringen erstattet.
3. Gegen diesen Bescheid erhob die Beschwerdeführerin fristgerecht Beschwerde an den Asylgerichtshof. In dieser weist die Beschwerdeführerin u.a. auf die Gefahr einer "sozialen (sexuellen) Verfolgung" hin.
4. Die Rechtssache wurde am Asylgerichtshof einem Senat zugeteilt, der aus einem vorsitzenden männlichen Richter und einem männlichen Richter als Bei sitzer bestand. Ohne eine mündliche Verhandlung durchzuführen, wies der Asylgerichtshof die Beschwerde ab. Begründend führt der Asylgerichtshof aus, es könne nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführerin im Kosovo eine Verfolgung aus einem der Gründe der Genfer Flüchtlingskonvention drohe; ebensowenig werde sie im Falle ihrer Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer Gefährdungssituation ausgesetzt sein, welche die Zuerkennung von subsidiärem Schutz erfordere. Die Beschwerdeführerin aus dem Bundesgebiet auszuweisen, stehe mit Art 8 EMRK in Einklang.
5. Gegen diese Entscheidung des Asylgerichtshofes richtet sich die vorliegende auf Art 144a B-VG gestützte Beschwerde, in der die Beschwerdeführerin die Ver letzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten geltend macht. Sie sei insbesondere in ihrem Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt, da sie spätestens in ihrer Beschwerde an den Asylgerichtshof einen Eingriff in ihre sexuelle Selbstbestimmung geltend gemacht habe und der über ihre Beschwerde erkennende Senat entgegen § 20 AsylG 2005 nicht aus Personen ihres Geschlechts zusammengesetzt war.
6. Der Asylgerichtshof legte die Verwaltungsakten vor, verzichtete auf eine Gegenschrift, verwies auf die Begründung in der angefochtenen Entscheidung und beantragt, die Beschwerde abzuweisen.
II. Rechtslage
Das Bundesgesetz über die Gewährung von Asyl (Asylgesetz 2005 – AsylG 2005), BGBl Nr I 100/2005 idF BGBl I Nr 87/2012 lautet auszugsweise:
"Einvernahmen von Opfern bei Eingriffen in die sexuelle Selbstbestimmung
§20. (1) Gründet ein Asylwerber seine Furcht vor Verfolgung (Art1 Abschnitt AZ2 der Genfer Flüchtlingskonvention) auf Eingriffe in seine sexuelle Selbst bestimmung, ist er von einem Organwalter desselben Geschlechts einzuver nehmen, es sei denn, dass er anderes verlangt. Von dem Bestehen dieser Mög lichkeit ist der Asylwerber nachweislich in Kenntnis zu setzen.
(2) Für Verfahren vor dem Asylgerichtshof gilt Abs 1 nur, wenn der Asylwerber den Eingriff in seine sexuelle Selbstbestimmung bereits vor dem Bundesasylamt oder in der Beschwerde behauptet hat. Diesfalls ist eine Verhandlung von einem Einzelrichter desselben Geschlechts oder einem aus Richtern desselben Geschlechts bestehenden Senat durchzuführen. Ein Verlangen nach Abs 1 ist spätestens gleichzeitig mit der Beschwerde zu stellen.
(3) Abs 1 gilt nicht für Verfahren vor dem Kammersenat.
(4) Wenn der betroffene Asylwerber dies wünscht, ist die Öffentlichkeit von der Verhandlung eines Senates oder Kammersenates auszuschließen. Von dieser Möglichkeit ist er nachweislich in Kenntnis zu setzen. Im Übrigen gilt § 67e AVG.
[…]
Verfahren vor dem Asylgerichtshof
§41. (7) Eine mündliche Verhandlung kann unterbleiben, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint oder sich aus den bisherigen Ermittlungen zweifelsfrei ergibt, dass das Vorbringen nicht den Tatsachen entspricht. Im Übrigen gilt § 67d AVG."
III. Erwägungen
1. Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.
2. Das Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter wird durch den Be scheid einer Verwaltungsbehörde verletzt, wenn die Behörde eine ihr gesetzlich nicht zukommende Zuständigkeit in Anspruch nimmt (zB VfSlg 15.372/1998, 15.738/2000, 16.066/2001, 16.298/2001 und 16.717/2002) oder wenn sie in ge setzwidriger Weise ihre Zuständigkeit ablehnt, etwa indem sie zu Unrecht eine Sachentscheidung verweigert (zB VfSlg 15.482/1999, 15.858/2000, 16.079/2001 und 16.737/2002). Das verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter wird insbesondere dann verletzt, wenn eine an sich zuständige, aber nicht dem Gesetz entsprechend zusammengesetzte Kollegialbehörde entschieden hat (zB VfSlg 10.022/1984, 14.731/1997, 15.588/1999, 15.668/1999, 15.731/2000 und 16.572/2002).
3. Ein solcher Fehler ist dem Asylgerichtshof unterlaufen:
3.1. Wie der Verfassungsgerichtshof in seinem Erkenntnis U688/12 ua. vom entschied, ist eine Rechtssache gemäß § 20 AsylG 2005, in der ein Asylwerber einen Eingriff in seine sexuelle Selbstbestimmung spätestens in der Beschwerde an den Asylgerichtshof geltend macht, gleich bei Beschwerde anfall einem Einzelrichter desselben Geschlechts oder einem aus Richtern des selben Geschlechts bestehenden Senat des Asylgerichtshofes zur Behandlung zuzuweisen. Die Zuständigkeit eines solchen Spruchkörpers wird bereits durch die entsprechende Behauptung vor dem Bundesasylamt bzw. in der Beschwerde begründet, ohne dass dabei eine nähere Prüfung der Glaubwürdigkeit oder ein Zusammenhang mit dem konkreten Fluchtvorbringen zu erfolgen hat. Sieht dieser Spruchkörper in weiterer Folge von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung gemäß § 41 Abs 7 AsylG 2005 ab, ändert dies an seiner Zuständigkeit nichts.
3.2. Betreffend die Bestimmung des § 20 AsylG 2005 heißt es in den Materialen (siehe RV 952 BlgNR 22. GP, 45): "Ausdrücklich wird normiert, dass Asylwerber, die behaupten Opfer von sexuellen Misshandlung zu sein oder solchen Gefahren ausgesetzt zu werden, von Personen desselben Geschlechts einzuvernehmen sind. In diesem Sinne hat etwa das Exekutiv-Komitee für das Programm des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen die Staaten aufgefordert, wo immer dies notwendig ist, ausgebildete weibliche Anhörer in den Verfahren zur Feststellung des Flüchtlingsstatus zur Verfügung zu stellen, und den entsprechenden Zugang der weiblichen Asylsuchenden zu diesen Verfahren, auch wenn die Frauen von männlichen Familienmitgliedern begleitet werden, zu sichern (Beschluss Nr 64 [XLI] über Flüchtlingsfrauen und Internationalen Rechtsschutz lit a Abschnitt iii). Dass die Gefahr, vergewaltigt oder sexuell misshandelt zu werden, in aller Regel unter den Tatbestand des Art 1 Abschnitt A der Genfer Flüchtlingskonvention fällt, liegt auf der Hand und Bedarf keiner weiteren Erörterung (vgl. dazu insbesondere den Beschluss des Exekutiv-Komitees für das Programm des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen Nr 73 [XLIV] betreffend Rechtsschutz für Flüchtlinge und sexuelle Gewalt). Unberührt bleibt von der Neufassung der Bestimmung die Absicht des Gesetzgebers hiermit internationale Beschlüsse umzusetzen (in diesem Sinne auch VwGH Erk. 2001/01/0402 vom ); daher sind, wenn es notwendig und möglich ist, etwa auch weibliche Dolmetscher für entsprechende Verfahren zu bestellen."
3.3. Wie der Verfassungsgerichtshof in seinem Erkenntnis U1674/12 vom ausführte, ergibt sich aus diesen Materialien, dass die Zuständigkeit eines Spruchkörpers des Asylgerichtshofes, der sich aus Angehörigen des Geschlechtes des Asylwerbers zusammensetzt, bereits dann festgelegt ist, wenn die Flucht aus dem Heimatstaat nicht mit bereits stattgefundenen, sondern mit Furcht vor sexuellen Übergriffen begründet wird.
3.4. Da die Beschwerdeführerin schon in der – im Bescheid der Behörde erster Instanz wiedergegebenen – Einvernahme vom vor dem Bundes asylamt vorgebracht hat, ein Mann sei ständig hinter ihr her gewesen und hätte gesagt, sie müsse "ihn zum Mann nehmen" und in der Beschwerde an den Asylgerichtshof die reale Gefahr einer sexuellen Verfolgung behauptet hat und die Durchführung des Verfahrens durch andere Richter nicht gemäß § 20 Abs 2 letzter Satz AsylG 2005 spätestens in der Beschwerde an den Asylgerichtshof verlangt hat, hätte ihre Beschwerde daher einem Senat mit ausschließlich weib lichen Richtern zugeteilt werden müssen (vgl. ).
4. Da der Asylgerichtshof durch einen aus einem vorsitzenden männlichen Richter und einem beisitzenden männlichen Richter bestehenden Senat über die Beschwerde entschieden hat, wurde die Beschwerdeführerin somit in ihrem Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt (vgl. ua.).
IV. Ergebnis
1. Die Beschwerdeführerin ist somit durch die angefochtene Entscheidung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetz lichen Richter verletzt worden.
2. Die angefochtene Entscheidung ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.
3. Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 erster Satz VfGG ohne münd liche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– enthalten.