VfGH vom 26.02.2014, U770/2013
Leitsatz
Verletzung im Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens durch Ausweisung des Beschwerdeführers nach Pakistan infolge Unterlassung einer Interessenabwägung
Spruch
I. Der Beschwerdeführer ist durch die angefochtene Entscheidung, soweit sie die Beschwerde gegen die Ausweisung gemäß § 10 Abs 1 Z 2 Asylgesetz 2005 als unbegründet abweist, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privatlebens gemäß Art 8 EMRK verletzt worden.
Die Entscheidung wird insoweit aufgehoben.
II. Im Übrigen wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt.
III. Der Bund (Bundeskanzler) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe
I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren
1. Der Beschwerdeführer, ein 1984 geborener männlicher Staatsangehöriger der Islamischen Republik Pakistan, brachte am beim Bundesasylamt einen Antrag auf internationalen Schutz ein. Er verfügt über keinerlei Angehörige im Bundesgebiet. Das Bundesasylamt wies den Antrag auf internationalen Schutz ab, erkannte dem Beschwerdeführer subsidiären Schutz nicht zu und wies ihn nach Pakistan aus.
2. Mit Entscheidung vom wies der Asylgerichtshof die gegen den Bescheid des Bundesasylamtes erhobene Beschwerde gemäß §§3 Abs 1 und 8 Abs 1 Z 1 Asylgesetz 2005 (im Folgenden: AsylG 2005) ab und den Beschwerdeführer gemäß § 10 Abs 1 Z 2 leg.cit. nach Pakistan aus. Begründend führt der Asylgerichtshof zunächst im Wesentlichen aus, dem Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers komme keine Glaubwürdigkeit zu, weswegen ihm internatio naler Schutz nicht zu gewähren sei. Kehre der Beschwerdeführer nach Pakistan zurück, sei auch nicht zu erwarten, dass er Rechtsverletzungen erleiden werde, welche die Gewährung von subsidiärem Schutz rechtfertigten. In der Begründung der Ausweisung des Beschwerdeführers führt der Asylgerichtshof unter Berufung auf eine im Schrifttum geäußerte Ansicht (vgl. Chvosta , Die Ausweisung von Asylwerbern und Art 8 EMRK, ÖJZ 2007, 852) aus, erst ab einer Verfahrensdauer von sechs Monaten sei von der Begründung eines Privatlebens im Sinne des Art 8 EMRK auszugehen. Daher führe der Beschwerdeführer im Bundesgebiet noch kein Privatleben im Sinne des Art 8 EMRK; der Asylgerichtshof sei nicht verpflichtet, gemäß Art 8 Abs 2 EMRK die Interessen des Beschwerdeführers an einem Verbleib in Österreich gegen die öffentlichen Interessen an der Beendigung seines Aufenthaltes abzuwägen.
3. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art 144a B VG in der bis zum Ablauf des geltenden Fassung gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten, insbesondere im Recht auf Achtung des Privat und Familienlebens gemäß Art 8 EMRK und die kostenpflichtige Aufhebung der angefochtenen Entscheidung, beantragt wird.
Begründend wird dazu im Wesentlichen Folgendes ausgeführt:
Der Asylgerichtshof wäre gemäß Art 8 EMRK verpflichtet gewesen, die öffent lichen Interessen an der Aufenthaltsbeendigung gegen die persönlichen Interes sen des Beschwerdeführers an einem weiteren Verbleib in Österreich abzu wägen, wenn er eine Ausweisung verfügt. Durch die Unterlassung dieser Interes senabwägung werde der Beschwerdeführer in seinem Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Art 8 EMRK verletzt.
4. Die belangte Behörde legte die Gerichts- und Verwaltungsakten vor und beantragte, die Beschwerde abzuweisen.
II. Erwägungen
1. Die Beschwerde ist zulässig.
2. Soweit sie sich gegen die Ausweisung gemäß § 10 Abs 1 Z 2 AsylG 2005 richtet, ist sie auch begründet.
3. Ein Eingriff in das durch Art 8 EMRK verfassungsgesetzlich garantierte – unter Gesetzesvorbehalt stehende – Recht ist dann verfassungswidrig, wenn die ihn verfügende Entscheidung ohne jede Rechtsgrundlage ergangen ist, auf einer dem Art 8 EMRK widersprechenden Rechtsvorschrift beruht oder wenn die Behörde bei Erlassung der Entscheidung eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Rechtsgrundlage in denkunmöglicher Weise angewendet hat; ein solcher Fall liegt nur vor, wenn die Behörde einen so schweren Fehler begangen hat, dass dieser mit Gesetzlosigkeit auf eine Stufe zu stellen wäre, oder wenn sie der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen verfassungswidrigen, insbesondere einen dem Art 8 Abs 1 EMRK widersprechenden und durch Art 8 Abs 2 EMRK nicht gedeckten Inhalt unterstellt hat (vgl. VfSlg 11.638/1988, 15.051/1997, 15.400/1999, 16.657/2002).
4. Ein solcher Fehler ist dem belangten Asylgerichtshof unterlaufen:
4.1. Wie der Verfassungsgerichtshof in seinem Erkenntnis VfSlg 17.340/2004 ausgeführt hat, darf eine Ausweisung nicht verfügt werden, wenn dadurch das Recht auf Schutz des Privat- und Familienlebens des Auszuweisenden verletzt würde. Bei der Beurteilung nach Art 8 EMRK ist eine Interessenabwägung vorzunehmen (vgl. die in VfSlg 18.223/2007 und 18.224/2007 wiedergegebene Recht sprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte).
Wie die zuständige Fremdenpolizeibehörde (vgl. die zur fremdenrechtlichen Ausweisung ergangene Judikatur zB VfSlg 18.223/2007) ist aber auch der eine Ausweisung aussprechende Asylgerichtshof bzw. das Bundesasylamt stets dazu verpflichtet, das öffentliche Interesse an der Aufenthaltsbeendigung gegen die persönlichen Interessen des Fremden an einem weiteren Verbleib in Österreich am Maßstab des Art 8 EMRK abzuwägen (vgl. VfSlg 19.630/2012).
4.2. Selbst wenn man der vom Asylgerichtshof herangezogenen Literaturansicht folgt, kann sie im vorliegenden Fall nicht dazu führen, dass diese Interessenabwägung entfallen dürfte. Denn diese Ansicht betrifft ausschließlich Fremde, über welche die Ausweisung nach einem Aufenthalt von höchstens sechs Monaten im Bundesgebiet verfügt wird. Der Asylgerichtshof geht davon aus, der Beschwerdeführer halte sich erst höchstens sechs Monate im Bundesgebiet auf. Dies steht zu dem Inhalt des Verwaltungsakts in offenkundigem Widerspruch. Denn der Beschwerdeführer stellte den Antrag auf internationalen Schutz am und die Entscheidung des Asylgerichtshofes datiert vom .
4.3. Da es der Asylgerichtshof unterließ, die persönlichen Interessen des Beschwerdeführers an einem Verbleib in Österreich gegen die öffentlichen Interes sen an der Beendigung seines Aufenthaltes im Bundesgebiet abzuwägen, verletzt die angefochtene Entscheidung den Beschwerdeführer in seinem Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Art 8 EMRK.
5. Im Übrigen (also hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs 1 AsylG 2005 und des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs 1 Z 1 AsylG 2005) wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt:
Der Verfassungsgerichtshof kann die Behandlung einer Beschwerde ablehnen, wenn sie keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat oder von der Entscheidung die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage nicht zu erwarten ist (Art144 Abs 2 B VG in der mit in Kraft getretenen Fassung). Eine solche Klärung ist dann nicht zu erwarten, wenn zur Beantwortung der maßgebenden Fragen spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen nicht erforderlich sind.
Die vorliegende Beschwerde behauptet ferner die Verletzung in den verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten gemäß Art 3 und 6 EMRK sowie Art 4 und 47 GRC sowie Art 83 Abs 2 B VG.
Der Verfassungsgerichtshof geht in Übereinstimmung mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (s. etwa EGMR , Fall Soering , EuGRZ 1989, 314 [319]; , Fall Vilvarajah ua., ÖJZ 1992, 309 [309]; , Fall Hilal , ÖJZ 2002, 436 [436 f.]) davon aus, dass die Entscheidung eines Vertragsstaates, einen Fremden auszuweisen – oder in welcher Form immer außer Landes zu schaffen –, unter dem Blickwinkel des Art 3 EMRK erheblich werden und demnach die Verantwortlichkeit des Staates nach der EMRK begründen kann, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme glaubhaft gemacht worden sind, dass der Fremde konkret Gefahr liefe, in dem Land, in das er ausgewiesen werden soll, Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen zu werden (vgl. VfSlg 13.837/1994, 14.119/1995, 14.998/1997).
Der Asylgerichtshof hat weder eine grundrechtswidrige Gesetzesauslegung vorgenommen noch sind ihm grobe Verfahrensfehler unterlaufen, die eine vom Verfassungsgerichtshof aufzugreifende Verletzung des genannten Grundrechtes darstellen (vgl. VfSlg 13.897/1994, 15.026/1997, 15.372/1998, 16.384/2001, 17.586/2005; zu den krankheitsbedingten Gründen vgl. auch VfSlg 18.407/2008 und 19.086/2010). Ob ihm sonstige Fehler bei der Rechtsanwendung unterlaufen sind, hat der Verfassungsgerichtshof nicht zu beurteilen.
Das Asylverfahren ist jedoch nicht von Art 6 EMRK erfasst (vgl. VfSlg 13.831/1994).
Soweit die Verletzung des Art 4 GRC (Verbot der Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung) geltend gemacht wird, ist festzuhalten, dass dieses Recht keinen über das oben genannte verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht hinausgehenden Gewährleistungsumfang hat und aus den oben genannten Gründen nicht verletzt wird (zur Anwendbarkeit der Grund rechte-Charta im verfassungsgerichtlichen Verfahren vgl. VfSlg 19.632/2012).
Zur behaupteten Verletzung des Art 47 GRC durch die Unterlassung einer mündlichen Verhandlung wird auf das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes VfSlg 19.632/2012 verwiesen.
Soweit die Beschwerde die Verletzung des Rechts auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter gemäß Art 83 Abs 2 B VG rügt, vermag der Verfassungsgerichtshof diese Rechtsverletzung nicht zu erkennen, weil die angefochtene Ent scheidung in der Sache von der gesetzlich für zuständig festgelegten Behörde stammt.
Die im Übrigen gerügten Rechtsverletzungen wären im vorliegenden Fall nur die Folge einer – allenfalls grob – unrichtigen Anwendung des einfachen Gesetzes. Spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen sind zur Beantwortung der aufgeworfenen Fragen nicht anzustellen.
III. Ergebnis und damit zusammenhängende Ausführungen
1. Der Beschwerdeführer ist durch die angefochtene Entscheidung, soweit sie die Beschwerde gegen die Ausweisung gemäß § 10 Abs 1 Z 2 AsylG 2005 als unbegründet abweist, in dem Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens ge mäß Art 8 EMRK verletzt worden.
Die angefochtene Entscheidung ist daher in diesem Umfang aufzuheben.
2. Im Übrigen wird von der Behandlung der Beschwerde abgesehen (§19 Abs 3 Z 1 iVm § 31 letzter Satz VfGG).
3. Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 erster Satz VfGG ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– enthalten.
Fundstelle(n):
FAAAE-28745