VfGH vom 03.09.2009, U61/09

VfGH vom 03.09.2009, U61/09

Sammlungsnummer

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Leitsatz

Verletzung im Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens durch die angeordnete Ausweisung des minderjährig und unbegleitet nach Österreich gekommenen Beschwerdeführers wegen gänzlicher Unterlassung der gebotenen und auf den zu beurteilenden Einzelfall bezogenen Interessenabwägung; Ablehnung der Beschwerdebehandlung hinsichtlich der Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten und des subsidiär Schutzberechtigten

Spruch

I. Den Anträgen auf Gewährung der Verfahrenshilfe wird stattgegeben.

II. Die Beschwerdeführer sind durch die angefochtene Entscheidung, soweit sie die Ausweisung aus dem österreichischen Bundesgebiet anordnet, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Art 8 EMRK verletzt worden.

Die bekämpfte Entscheidung wird insoweit aufgehoben.

Der Bund (Bundeskanzler) ist schuldig, den Beschwerdeführern zuhanden ihres Rechtsvertreters die mit € 800,- bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

III. Die Behandlung der Beschwerde wird abgelehnt, soweit sie sich gegen die Abweisung der Anträge auf internationalen Schutz in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten und des subsidiär Schutzberechtigten richtet.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1.1. Der am geborene Erstbeschwerdeführer und die am geborene Zweitbeschwerdeführerin (Ehefrau des Erstbeschwerdeführers) sind Staatsangehörige der Republik Kosovo und gehören der goranischen Volksgruppe an. Sie stellten am Anträge auf internationalen Schutz. Die Drittbeschwerdeführerin, die Tochter des Erst- und der Zweitbeschwerdeführerin, wurde am im österreichischen Bundesgebiet geboren und stellte am , vertreten durch ihre Mutter, einen Antrag auf internationalen Schutz.

1.2. Das Bundesasylamt wies mit Bescheiden vom die Anträge auf internationalen Schutz des Erst- und der Zweitbeschwerdeführerin gemäß § 3 Abs 1 Asylgesetz 2005 (im Folgenden: AsylG 2005) in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I) ab. Darüber hinaus wurde unter einem dem Erstbeschwerdeführer und der Zweitbeschwerdeführerin der Status des bzw. der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Kosovo nicht zuerkannt (Spruchpunkt II) und schließlich die Ausweisung in den Kosovo ausgesprochen (Spruchpunkt III).

1.3. Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom wurde der Antrag auf internationalen Schutz der Drittbeschwerdeführerin abgewiesen (Spruchpunkt I). Darüber hinaus wurde unter einem ihr der Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Kosovo nicht zuerkannt (Spruchpunkt II) und schließlich die Ausweisung in den Kosovo ausgesprochen (Spruchpunkt III).

1.4. Der Asylgerichtshof wies die dagegen erhobenen Beschwerden nach Durchführung zweier mündlicher Verhandlungen mit Entscheidung vom ab.

1.5. In der gegen diese Entscheidung gemäß Art 144a B-VG erhobenen Beschwerde wird die Verletzung der verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte gemäß Art 2, 3, 5, 6 und 8 EMRK geltend gemacht und die kostenpflichtige Aufhebung der angefochtenen Entscheidung sowie die Bewilligung der Verfahrenshilfe beantragt.

1.6. Der Asylgerichtshof hat die Verwaltungsakten sowie die Gerichtsakten vorgelegt und keine Gegenschrift erstattet.

2. Zur Rechtslage:

§ 10 AsylG 2005, BGBl. I 100/2005 idF BGBl. I 75/2007, lautet auszugsweise:

"§10. (1) Eine Entscheidung nach diesem Bundesgesetz ist mit einer Ausweisung zu verbinden, wenn

1. ...

2. der Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird;

3. - 4. ...

(2) Ausweisungen nach Abs 1 sind unzulässig, wenn

1. ...

2. diese eine Verletzung von Art 8 EMRK darstellen würden.

(3) - (4) ..."

3. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Verfahrenshilfe liegen vor; die Verfahrenshilfe war daher im Umfang des § 64 Z 1 lita ZPO (einstweilige Befreiung von der Entrichtung der Gerichtsgebühren und anderen bundesgesetzlich geregelten staatlichen Gebühren) zu gewähren.

II. 1. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde, soweit sie sich gegen die Ausweisung der Beschwerdeführer aus dem österreichischen Bundesgebiet richtet, erwogen:

1.1. Wie der Verfassungsgerichtshof bereits in seinem Erkenntnis VfSlg. 17.340/2004 ausführte, darf eine Ausweisung nicht verfügt werden, wenn dadurch das Recht auf Schutz des Privat- und Familienlebens des Auszuweisenden verletzt würde. Die Behörde ist, wie in weiteren Erkenntnissen ausgeführt (VfSlg. 18.223/2007; ), stets dazu verpflichtet, das öffentliche Interesse an der Aufenthaltsbeendigung gegen die persönlichen Interessen des Fremden an einem weiteren Verbleib in Österreich am Maßstab des Art 8 EMRK abzuwägen, wenn sie eine Ausweisung verfügt. In der zitierten Entscheidung wurden vom Verfassungsgerichtshof auch unterschiedliche - in der Judikatur des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte entwickelte - Kriterien aufgezeigt, die bei Vornahme einer solchen Interessenabwägung zu beachten sind und als Ergebnis einer Gesamtbetrachtung dazu führen können, dass Art 8 EMRK einer Ausweisung entgegensteht.

1.2. Der Asylgerichtshof hat es im vorliegenden Fall jedoch gänzlich unterlassen, eine - im Lichte des § 10 Abs 2 AsylG 2005 und der zitierten Erkenntnisse des Verfassungsgerichtshofes gebotene und auf den zu beurteilenden Einzelfall bezogene - Prüfung vorzunehmen, ob die Ausweisung der Beschwerdeführer eine Verletzung ihrer Rechte gemäß Art 8 EMRK darstellen würde. In der angefochtenen Entscheidung wird zwar festgestellt, dass den Beschwerdeführern nicht der Status von Asylberechtigten zu verleihen ist und dass eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in ihren Herkunftsstaat keine reale Gefahr einer Verletzung von Art 2 EMRK, Art 3 EMRK oder des 6. oder des

13. ZP EMRK bedeuten würde oder für sie als Zivilpersonen keine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde. Hinsichtlich einer Verletzung des Art 8 EMRK durch die Ausweisung des Erstbeschwerdeführers wird nichts, hinsichtlich einer Verletzung des Art 8 EMRK durch die Ausweisung der Zweit- und Drittbeschwerdeführerin lediglich Folgendes ausgeführt:

"Die Beschwerden der Zweitbeschwerdeführerin sowie der Drittbeschwerdeführerin waren sohin nach dem Grundsatz der Familieneinheit vollumfänglich abzuweisen."

Der Asylgerichtshof hat - wie sich ua. auch aus den Niederschriften der mündlichen Verhandlungen ergibt - hinsichtlich der Frage, ob die Ausweisung die Beschwerdeführer in ihrem Recht auf Achtung des Familien- oder Privatlebens berührt, keine Ermittlungen angestellt. Insbesondere wurden die Umstände, dass der Erstbeschwerdeführer einer legalen Beschäftigung nachgeht und die Drittbeschwerdeführerin in Österreich geboren wurde, nicht berücksichtigt. Auch führte der Asylgerichtshof keine Interessenabwägung durch, wozu er gemäß Art 8 Abs 2 EMRK verpflichtet gewesen wäre.

Die Nichtbeachtung der in der zitierten Judikatur herausgearbeiteten Kriterien hinsichtlich einer Verletzung von Art 8 EMRK durch eine Ausweisung sowie das Unterlassen jeglicher Interessenabwägung verletzt - auch wenn vor dem Asylgerichtshof kein Vorbringen hinsichtlich einer Verletzung des Art 8 EMRK durch die verfügte Ausweisung erstattet wurde - die Beschwerdeführer in ihrem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Art 8 EMRK (vgl. zB. , und ).

Die angefochtene Entscheidung war daher im genannten Umfang aufzuheben.

III. 1. Der Verfassungsgerichtshof hat über die Beschwerde, soweit sie sich gegen die Abweisung der Anträge auf internationalen Schutz in Bezug auf die Zuerkennung des Status der Asylberechtigten bzw. der subsidiär Schutzberechtigten richtet, erwogen:

Der Verfassungsgerichtshof kann die Behandlung einer Beschwerde gemäß Art 144a B-VG ablehnen, wenn sie keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat (Art144a Abs 2 B-VG).

Die Beschwerden behaupten die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten gemäß Art 2, 3, 5 und 6 EMRK.

Der Verfassungsgerichtshof geht in Übereinstimmung mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte [s. etwa EGMR , Fall Soering, EuGRZ 1989, 314 (319); , Fall Vilvarajah ua., ÖJZ 1992, 309 (309); , Fall Hilal, ÖJZ 2002, 436 (436 f.)] davon aus, dass die Entscheidung eines Vertragsstaates, einen Fremden auszuweisen - oder in welcher Form immer außer Landes zu schaffen -, unter dem Blickwinkel des Art 3 EMRK erheblich werden und demnach die Verantwortlichkeit des Staates nach der EMRK begründen kann, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme glaubhaft gemacht worden sind, dass der Fremde konkret Gefahr liefe, in dem Land, in das er ausgewiesen werden soll, Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen zu werden (vgl. VfSlg. 13.837/1994, 14.119/1995, 14.998/1997).

Der Asylgerichtshof hat weder eine grundrechtswidrige Gesetzesauslegung vorgenommen noch sind ihm grobe Verfahrensfehler unterlaufen, die eine vom Verfassungsgerichtshof aufzugreifende Verletzung des genannten Grundrechtes darstellen (vgl. VfSlg. 13.897/1994, 15.026/1997, 15.372/1998, 16.384/2001, 17.586/2005 sowie . Ob ihm sonstige Fehler bei der Rechtsanwendung unterlaufen sind, hat der Verfassungsgerichtshof nicht zu beurteilen.

Darüber hinaus ist das Asylverfahren nicht von Art 6 EMRK erfasst (vgl. VfSlg. 13.831/1994).

Eine Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes gemäß Art 5 EMRK durch eine Entscheidung des Asylgerichtshofes ist von vorne herein ausgeschlossen.

Demgemäß wurde beschlossen, von einer Behandlung der Beschwerden abzusehen.

IV. Die Kostenentscheidung stützt sich auf § 88 VfGG. Da die Beschwerdeführer nur in einem Punkt (von den hier drei behandelten Punkten) durchgedrungen sind (und hinsichtlich der anderen beiden Punkte die Beschwerdebehandlung abgelehnt wurde), war nur ein Drittel der Kosten zuzusprechen (vgl. VfSlg. 16.573/2002); im zugesprochenen Betrag ist Umsatzsteuer in Höhe von € 133,33 enthalten.

Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 3 Z 1 und Abs 4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.