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VfGH vom 07.06.2013, U565/2012

VfGH vom 07.06.2013, U565/2012

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander durch Abweisung des Antrags auf Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten und Ausweisung des Beschwerdeführers nach Afghanistan; Begründungsmangel hinsichtlich der - als schlüssig und widerspruchsfrei angenommenen - Feststellungen des Bundesasylamtes betreffend die Sicherheitslage in der Herkunftsstadt des Beschwerdeführers; kein Vorliegen eines rechtsstaatlichen Ermittlungsverfahrens durch bloßen Verweis auf das "Amtswissen des Asylgerichtshofes"

Spruch

I. Der Beschwerdeführer ist durch die angefochtene Ent scheidung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit von Fremden untereinander verletzt worden.

Die Entscheidung wird aufgehoben.

II. Der Bund (Bundeskanzler) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.400,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerdevorbringen und Vorverfahren

1. Der 1981 geborene Beschwerdeführer ist afghanischer Staatsbürger. Er stammt aus Mazar-e Sharif Im Norden Afghanistans. Von dort gelangte er schlepperunterstützt zunächst nach Griechenland, wo er ausgewiesen wurde und sodann nach Österreich weiterreiste. Am stellte er bei der Polizeiinspektion Schärding einen Asylantrag, den er damit begründete, es sei ihm und seiner Familie finanziell nicht gut gegangen. Er hätte in seiner Heimat nichts zu befürchten, wolle aber arbeiten, um seine Familie zu ernähren und ihr Geld zu schicken.

2. Der Asylantrag des Beschwerdeführers wurde vom Bundesasylamt (in der Folge: BAA) mit Bescheid vom abgewiesen. Der Status eines subsidiär Schutzberechtigten wurde nicht zuerkannt und der Beschwerdeführer wurde nach Afghanistan ausgewiesen.

3. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer nur hinsichtlich der Nichtgewährung von subsidiärem Schutz und der Ausweisung Beschwerde an den Asylgerichtshof. Diese begründete er damit, das BAA habe dadurch, dass es die katastrophale Sicherheitslage in Afghanistan verkannt habe, Willkür geübt und die reale Situation völlig falsch eingeschätzt. Zum Beleg wurde auf Reisewarnungen des Bundesministeriums für europäische und internationale Angelegenheiten, auf Entscheidungen des Asylgerichtshofes, in denen afghanischen Staatsbürgern subsidiärer Schutz gewährt worden ist, sowie auf die UNHCR-Richtlinie zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom hingewiesen.

4. Mit der angefochtenen Entscheidung wies der Asylgerichtshof die Beschwerde als unbegründet ab.

Hinsichtlich der Nichtgewährung des subsidiären Schutzes verwies der Asylgerichtshof im Wesentlichen auf die vom BAA getroffenen Feststellungen zur Lage in Afghanistan, die sich mit dem Amtswissen des Asylgerichtshofes decken und der Entscheidung zu Grunde gelegt würden. Diese würden sich auf unbedenkliche seriöse und aktuelle Quellen gründen, sie seien schlüssig und widerspruchsfrei. Insoweit das BAA seinen Feststellungen Berichte älteren Datums zugrunde gelegt habe, sei auszuführen, dass sich seither die darin angeführten Umstände unter Berücksichtigung der dem Asylgerichtshof von Amts wegen vorliegenden Berichte aktuelleren Datums für die Beurteilung der Situation im Entscheidungszeitpunkt nicht fallrelevant wesentlich geändert hätten.

Diese Feststellungen lauten hinsichtlich der Sicherheitslage:

"Sicherheitslage im Norden des Landes

(Provinzen: Badakhshan, Baghlan, Balkh, Faryab, Jawzjan, Kunduz, Samangan, Sari Pul und Takhar)

Die ISAF Regionalkommandos West und Nord gehören unverändert zu den vergleichsweise befriedeten Gebieten des Landes. Zusammen ereignen sich in den dort gelegenen 13 [Anm.: hier sind die vier westlichen Provinzen und die neun nördlichen Provinzen zusammengefasst] (von 34) Provinzen weniger als 10% aller sicherheitsrelevanten Zwischenfälle. Die Sicherheitslage im Regionalkommando Nord wird unverändert bestimmt durch den Versuch der Aufstandsbewegung, den Nord-Süd-Hauptverbindungsweg nach Usbekistan und Tadschikistan im Raum Baghlan-Kunduz zu kontrollieren. Hinzu treten gleichgerichtete Versuche entlang der Ringstraße westlich Mazar-e-Sharif nach Shibirghan. In beiden Fällen sichern ISAF-Kräfte die Bewegungsfreiheit für den zivilen wie militärischen Verkehr.

(AA - Auswärtiges Amt: Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, Stand: Februar 2011)

Das Jahr 2010 war durch eine graduelle Verschlechterung der Sicherheitslage im Norden des Landes gekennzeichnet. Dieser Trend setzt sich auch 2011 [Stand Mai 2011] fort. Im Jahr 2010 wurden die höchsten Zahlen an zivilen Opfern im Norden des Landes seit dem Jahr 2003 registriert. Ab Juni 2010 wurden die Zwischenfälle mehr und erreichten während der Parlamentswahlen [im September 2010] ihren Höchststand. Im Vergleich zu 2009 gab es einen Anstieg um 76% bei den zivilen Opfern.

(UNAMA - United Nations Assistance Mission in Afghanistan: Afghanistan Annual Report on Protection of Civilians in Armed Conflict, 2010 / UNHCR – UN High Commissioner for Refugees: Afghanistan Protection Cluster, Protection Overview (Northern and North-Eastern Region - 2010), , http://www.unhcr.org/refworld/docid/4dd21fe52.html, Zugriff )

Ein weiteres Problem im Norden Afghanistans liegt in der Gefahr von ethnischen Konflikten. Paschtunen, die während der Taliban-Zeit in den Süden geflüchtet waren, kehren nun wieder in die Gegenden um Faryab, Balkh und Jawjzan zurück und stoßen dort auf ihnen feindlich gesinnte Usbeken und Turkmenen. Bisher kam es zwar noch zu keinen Kämpfen, aber zu ersten Einschüchterungsversuchen.

Das medial vermittelte Bild wird der tatsächlichen Lage oft nicht gerecht. Gerade im Nordwesten Afghanistans ist die Situation sehr gut.

(BAA – Bundesasylamt: Bericht zur Fact Finding Mission Afghanistan, 20.-, Dezember 2010)

Insgesamt entfallen auf den Norden und Nordosten des Landes 308 zivile Todesopfer (12% der gesamten zivilen Opfer in Afghanistan im Jahr 2010).

(UNAMA: Afghanistan Annual Report on Protection of Civilians in Armed Conflict, 2010)"

In weiterer Folge führte der Asylgerichtshof – im Anschluss an eine umfangreiche Wiedergabe von Rechtsprechung sowie einer Würdigung des Gesundheitszustandes des Beschwerdeführers – zur Nichtgewährung von subsidiärem Schutz im konkreten Fall aus:

"Aus den im Verfahren herangezogenen herkunftsstaatsbezogenen Erkenntnisquellen ergibt sich zwar, dass die aktuelle Situation in Afghanistan unverändert weder sicher noch stabil ist, doch variiert dabei die Sicherheitslage regional von Provinz zu Provinz und innerhalb der Provinzen von Distrikt zu Distrikt.

Was die Sicherheitslage im Raum Kabul betrifft, ist festzuhalten, dass seit August 2008 die Sicherheitsverantwortung für den städtischen Bereich der Provinz Kabul nicht länger in den Händen von ISAF, sondern der afghanischen Armee und Polizei liegt. Diesen ist es nach anfänglichen Schwierigkeiten 2010 gelungen, Zahl und Schwere umgesetzter sicherheitsrelevanter Zwischenfälle deutlich zu reduzieren. Die positive Entwicklung der Sicherheitslage in Kabul erlaubt es mittlerweile sogar, in Abstimmung zwischen der Stadtverwaltung, nationalen und internationalen Sicherheitskräften mit dem Rückbau von Betonbarrieren und Verkehrsbeschränkungen zu beginnen. Die für die Bevölkerung deutlich spürbare Verbesserung der Sicherheitslage im Stadtbereich Kabuls geht weniger zurück auf eine Verminderung der Bedrohung (Anschlagsversuche, Eindringen von Aufständischen usw.), als vielmehr auf die Verbesserung vorbeugender Sicherheitsmaßnahmen. Medienwirksame Anschläge auf Einrichtungen mit Symbolcharakter sind dennoch auch künftig nicht auszuschließen (siehe Deutsches Auswärtiges Amt, 'Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan' vom , S. 14).

Beim BF handelt es sich um einen arbeitsfähigen und gesunden jungen Mann, bei dem die grundsätzliche Teilnahmemöglichkeit am Erwerbsleben vorausgesetzt werden kann. Der BF verfügt darüber hinaus über eine mehrjährige Schulausbildung und Berufserfahrung. Seinen eigenen Angaben zufolge verfügt der BF in Mazar-e Sharif nach wie vor auch über enge familiäre Anknüpfungspunkte (und leben seine Familienangehörigen gemeinsam mit einem Freund des BF im Heimatort des BF). Es kann somit davon ausgegangen werden, dass dem BF im Fall der Rückkehr in seinen Heimatort im Rahmen seines Familienverbandes jedenfalls eine wirtschaftliche und soziale Unterstützung (zunächst vor allem mit Wohnraum und Nahrung) zuteil wird. Des Weiteren ist zu berücksichtigen, dass der BF auch den Großteil seiner bisherigen Lebenszeit in seiner Heimatprovinz verbracht hat und somit mit den dortigen örtlichen und infrastrukturellen Gegebenheiten vertraut ist.

Im gegenständlichen Fall haben sich in einer Gesamtschau der Angaben des BF und unter Berücksichtigung der zur aktuellen Lage in Afghanistan herangezogenen Erkenntnisquellen keine konkreten Anhaltspunkte dahingehend ergeben, wonach die unmittelbar nach erfolgter Rückkehr allenfalls drohenden Gefahren nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht wären, dass sich daraus bei objektiver Gesamtbetrachtung für den BF mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit das reale Risiko einer derart extremen Gefahrenlage ergeben würde, die im Lichte der oben angeführten Rechtsprechung einen außergewöhnlichen Umstand im Sinne des Art 3 EMRK darstellen und somit einer Rückführung nach Afghanistan entgegenstehen würde. Die bloße Möglichkeit einer allenfalls drohenden extremen (allgemeinen) Gefahrenlage reicht nicht aus, sondern es müssen vielmehr konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass gerade der Betroffene einer derartigen Gefahr ausgesetzt sein würde ( Zahl 98/21/0427; , Zahl 2002/18/0028; […])."

Zur Ausweisung des Beschwerdeführers hielt der Asylgerichtshof fest, dass zwar ein Eingriff in das durch Art 8 EMRK geschützte Privatleben des Beschwerdeführers vorliege, aus einer Gesamtbetrachtung der Integration des Beschwerdeführers ergebe sich aber, dass dieser nicht schwerwiegender sei als das öffentliche Interesse Österreichs an einer Ausweisung im Hinblick auf Aufrechterhaltung der Ordnung im Fremdenpolizei- und Zuwanderungswesen. Der Beschwerdeführer halte sich erst seit Juli 2011 in Österreich auf und habe keine Verwandten. Allfällige freundschaftliche Beziehungen sei er zu einem Zeitpunkt eingegangen, als er sich seines unsicheren aufenthaltsrechtlichen Status hätte bewusst sein müssen. Diese könnten auch noch nicht weit entwickelt sein. Die Aufnahme einer erlaubten Erwerbstätigkeit oder den Besuch von Bildungseinrichtungen habe er nicht behauptet.

5. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende Beschwerde, in der eine Verletzung der Art 2, 3 und 8 EMRK geltend gemacht wird.

6. Der Asylgerichtshof legte die Akten des Asylverfahrens (sowohl vor dem BAA als auch vor ihm selbst) vor. Von der Erstattung einer Gegenschrift sah er ab.

II. Rechtslage

§8 Abs 1 des Asylgesetzes 2005, BGBl I 100 idF BGBl I 122/2009 lautet:

"Status des subsidiär Schutzberechtigten

§8. (1) Der Status des subsidiär Schutzberechtigten ist einem Fremden zuzuerkennen,

1. der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, wenn dieser in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird oder

2. dem der Status des Asylberechtigten aberkannt worden ist,

wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art 2 EMRK, Art 3 EMRK oder der Protokolle Nr 6 oder Nr 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde."

III. Erwägungen

1. Ein willkürliches Verhalten des Asylgerichtshofes, das eine Verletzung des durch ArtI Abs 1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, gewährleisteten Rechts auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem vor, wenn eine Entscheidung mit Ausführungen (tragend) begründet wird, denen jeglicher Begründungswert fehlt ( mwN).

2. Ein solcher Begründungsmangel in einem entscheidenden Punkt liegt hier vor: Die Annahme des Asylgerichtshofes, die Feststellungen des BAA seien schlüssig und widerspruchsfrei, treffen nicht zu. Vielmehr zeigen diese Feststellungen hinsichtlich der Sicherheitslage im Norden des Landes, wo auch Mazar-e Sharif (Hauptstadt der Provinz Balkh), die Herkunftsstadt des Beschwerdeführers liegt, ein unklares Bild: Einerseits spricht der Bericht der "fact finding mission" des BAA von Ende Oktober 2010 von einer sehr guten Sicherheitslage im Nordwesten des Landes, wobei aber nicht klar ist, ob die Stadt Mazar-e Sharif noch zum Nordwesten gerechnet werden kann (die Stadt liegt geographisch bereits in der östlichen Hälfte des Nordens). Die übrigen – zum Teil jüngeren – Berichte sprechen jedoch von einer prekären bzw. sich verschlechternden Sicherheitslage, wobei allein aus den prozentuellen Angaben (zB "10 % aller sicherheitsrelevanten Zwischenfälle") keine aussagekräftige Einschätzung möglich ist.

Bei einer derart unklaren Beweislage wäre es Aufgabe des Asylgerichtshofes gewesen, schlüssig zu begründen, welchen Quellen er auf Grund welcher Umstände die höhere Beweiskraft zumisst oder aber weitere Quellen heranzuziehen, die verlässliche Feststellungen ermöglichen. Die Qualifikation der Quellen bzw. Feststellungen des BAA als "schlüssig und widerspruchsfrei" lässt sich nur damit erklären, dass deren Inhalt nicht beachtet wurde. Der Verweis auf "Amtswissen des Asylgerichtshofes", mit dem sich diese Quellen bzw. Feststellungen decken würden, genügt nicht den Anforderungen an ein rechtsstaatliches Ermittlungsverfahren. Ein solches gebietet – im Einklang mit § 45 Abs 2 und 3 AVG – gegenüber der Partei die Offenlegung jedes Beweismittels, das im Übrigen auch dem Parteiengehör zu unterziehen wäre (vgl. dazu ).

Dass der Asylgerichtshof den konkreten Sachverhalt außer Acht gelassen hat, zeigen auch seine Ausführungen zur Sicherheitslage im Raum Kabul, obwohl zuvor keinerlei Anknüpfungspunkte des Beschwerdeführers dorthin festgestellt wurden. In der angefochtenen Entscheidung fehlen weiters Feststellungen zu einem Reiseweg, über den der Beschwerdeführer seine Heimatstadt Mazar-e Sharif sicher erreichen könnte.

Die angefochtene Entscheidung beruht somit auf Verfahrensmängeln, die als Willkür im obigen Sinn zu qualifizieren sind.

IV. Ergebnis und damit zusammenhängende Ausführungen

1. Der Beschwerdeführer ist durch die angefochtene Entscheidung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit von Fremden untereinander verletzt worden.

2. Die angefochtene Entscheidung ist daher aufzuheben.

3. Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 400,– enthalten.