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VfGH vom 11.03.2014, U37/2013 ua

VfGH vom 11.03.2014, U37/2013 ua

19863

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander durch Ausweisung einer türkischen Staatsangehörigen und ihrer Kinder infolge Verneinung des Vorliegens eines Familienlebens zwischen den Beschwerdeführerinnen und dem - in Deutschland als anerkannter Flüchtling lebenden - Kindesvater sowie mangels Feststellungen hinsichtlich der Möglichkeit eines Familienlebens in der Türkei; im Übrigen Abweisung der Beschwerden; Verneinung einer wohlbegründeten Furcht der Erstbeschwerdeführerin vor Verfolgung im Ergebnis nicht unschlüssig

Spruch

I. 1. Die beschwerdeführenden Parteien sind durch die angefochtenen Entscheidungen, soweit mit ihnen ihre Beschwerden gegen die Ausweisung aus dem österreichischen Bundesgebiet abgewiesen worden sind, in ihrem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs 1 Bundesverfassungsgesetz BGBl Nr 390/1973) verletzt worden.

Die Entscheidungen werden insoweit aufgehoben.

2. Im Übrigen sind die beschwerdeführenden Parteien durch die angefochtenen Entscheidungen weder in einem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht noch wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm in ihren Rechten verletzt worden. Insoweit werden die Beschwerden abgewiesen.

II. Der Bund (Bundeskanzler) ist schuldig, den beschwerdeführenden Parteien zuhanden ihres Rechtsvertreters die mit € 2.760,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerden und Vorverfahren

1.1. Die Erstbeschwerdeführerin, eine türkische Staatsangehörige und Angehörige der kurdischen Volksgruppe, reiste gemeinsam mit ihrer Mutter und ihren insgesamt zehn Geschwistern (hg. U43-53/2013) im Juli 2004 in das österreichische Bundesgebiet ein und beantragte am mit dem Ersuchen um "Wahrung höchster Vertraulichkeit" internationalen Schutz. Zur Begründung ihres Asylantrages führte die Erstbeschwerdeführerin im Wesentlichen aus, dass sie die Tochter eines im Jahr 2000 getöteten Hizbullah-Führers sei. Sie selbst sei zwar zu keinem Zeitpunkt Mitglied der Hizbullah gewesen, jedoch werde sie von der PKK und dem türkischen Staat verfolgt. Im Jahr 1999 sei die Erstbeschwerdeführerin deshalb gemeinsam mit ihrer Mutter und ihren Geschwistern von ihrem Vater in den Iran geschickt worden, wo sie bis zur Ausreise im Jahr 2004 unter falschem Namen gelebt habe.

1.2. Die Erstbeschwerdeführerin ist mit einem in Deutschland lebenden anerkannten Flüchtling nach islamischem Ritus verheiratet. Dieser Verbindung entstammen die – in Österreich geborenen – Zweit- und Drittbeschwerdeführerinnen, für die die Erstbeschwerdeführerin als gesetzliche Vertreterin am bzw. am ebenso einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat.

1.3. Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom wurde der Antrag der Erstbeschwerdeführerin auf Gewährung von Asyl gemäß § 7 Asylgesetz 1997 (im Folgenden: AsylG 1997) abgewiesen und die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in die Türkei für zulässig erklärt. Gemäß § 8 Abs 2 AsylG 1997 wurde die Erstbeschwerdeführerin außerdem aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Türkei ausgewiesen. Beweiswürdigend führte das Bundesasylamt aus, dass die Erstbeschwerdeführerin eine asylrelevante Verfolgung nicht darzulegen vermocht habe, zumal seitens der staatlichen Behörden in der Türkei niemals Sanktionen gegen die Erstbeschwerdeführerin gesetzt worden seien.

1.4. Mit Bescheiden des Bundesasylamtes vom bzw. vom wurden auch die Anträge der Zweit- und Drittbeschwerdeführerinnen gemäß § 3 Abs 1 Asylgesetz 2005 (im Folgenden: AsylG 2005) abgewiesen und gemäß § 8 Abs 1 Z 1 leg.cit. den Beschwerdeführerinnen der Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Türkei nicht zuerkannt. Gemäß § 10 Abs 1 Z 2 AsylG 2005 wurden die Zweit- und Drittbeschwerdeführerinnen zudem aus dem österreichischen Bundesgebiet ausgewiesen. Auch für sie könne bereits deshalb, weil sie keine eigenen Fluchtgründe geltend gemacht hätten, nicht festgestellt werden, dass in der Türkei eine asylrelevante Verfolgung oder Strafe maßgeblicher Intensität oder die Todesstrafe drohe oder den Beschwerdeführerinnen in der Türkei die Existenzgrundlage völlig entzogen wäre.

1.5. Die gegen diese Bescheide erhobenen Berufungen (nunmehr: Beschwerden) wurden vom Asylgerichtshof – nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung, in der die Verfahren der Mutter, ihrer Geschwister und ihrer beiden Kinder gemäß § 39 AVG verbunden worden sind – mit Erkenntnissen vom abgewiesen.

1.6. Der Asylgerichtshof begründet seine Entscheidung hinsichtlich der Abweisung der Anträge auf Asyl im Wesentlichen damit, dass die Erstbeschwerdeführerin zwar erwiesenermaßen die Tochter des getöteten Führers des Ilim-Flügels der Hizbullah sei. Allerdings gebe es den Länderberichten zufolge in der Türkei keine "Sippenhaft" in dem Sinne, dass Familienmitglieder für die Handlungen eines Angehörigen strafrechtlich verfolgt oder bestraft würden und sei der türkische Staat schutzfähig und schutzwillig. Auch sei nicht ersichtlich, weshalb der türkische Staat nach wie vor ein Interesse an der Familie der Erstbeschwerdeführerin haben sollte, sei doch der Vater bereits im Jahr 2000 getötet worden und trete die Organisation dem Grunde nach nicht mehr in Erscheinung. Schließlich würden nach wie vor Familienangehörige der Mutter der Beschwerdeführerin problemlos in der Türkei leben. Es sei im vorliegenden Fall somit davon auszugehen, dass auf Grund ausreichender Schutzmechanismen, zu denen die Erstbeschwerdeführerin ebenso Zugang habe, eine Furcht vor einer mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu erwartenden asylrelevanten Verfolgung nicht als wohlbegründet zu erachten sei.

2. Für die Zweit- und Drittbeschwerdeführerinnen könne angesichts des Umstandes, dass sie keine eigenen Fluchtgründe vorgebracht hätten, nichts anderes gelten.

3. Hinsichtlich der Feststellung der Zulässigkeit der Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in den Herkunftsstaat seien die Beschwerden abzuweisen gewesen, weil eine Rückführung der Beschwerdeführerinnen kein reales Risiko einer Verletzung von Art 2 und 3 EMRK sowie des 6. bzw. des 13. ZPEMRK nach sich ziehe. Auch in der Person der Beschwerdeführerinnen gelegene Rückkehrhindernisse lägen nicht vor.

4. Die durch den Bescheid des Bundesasylamtes verfügte Ausweisung greife auch nicht in das verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf Achtung des Familienlebens ein, da die Erstbeschwerdeführerin zwar mit einem in Deutschland anerkannten Flüchtling verheiratet sei, eine Wohngemeinschaft zwischen ihr und dem Vater ihrer Kinder jedoch nicht bestehe, da der Kindesvater nur an den Wochenenden zu Besuch komme. Auch würde der Unterhalt der Erstbeschwerdeführerin überwiegend durch staatliche Unterstützung und nur zum Teil durch den Kindesvater gedeckt. Da außerdem auch die Zweit- und Drittbeschwerdeführerinnen aus dem österreichischen Bundesgebiet auszuweisen seien, würde das verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf Familienleben nicht verletzt.

Schließlich halte sich die Erstbeschwerdeführerin zwar seit Juli 2004 durchgehend im Bundesgebiet auf, habe jedoch seit Beginn ihres Aufenthaltes kaum Anstrengungen unternommen, um sich in Österreich in sprachlicher, beruflicher und gesellschaftlicher Hinsicht zu integrieren. Auch der Umstand, dass sich der Großteil ihrer Geschwister in Österreich gut integriert habe und deren Ausweisung aus diesem Grund auf Dauer unzulässig sei, vermöge nicht auf die Erstbeschwerdeführerin durchzuschlagen, da zwischen der Erstbeschwerdeführerin und ihren in Österreich lebenden Familienangehörigen kein spezielles Abhängigkeitsverhältnis bestehe. Auch die Zweit- und Drittbeschwerdeführerinnen würden sich in einem anpassungsfähigen Alter befinden, weshalb Art 8 EMRK durch die Ausweisung nicht verletzt werde.

5. Gegen diese Entscheidungen richten sich die vorliegenden, auf Art 144a B VG in der bis zum Ablauf des geltenden Fassung gestützten Beschwerden, in denen eine Verletzung in den verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander, auf Achtung des Privat- und Familienlebens, auf Asylgewährung nach Art 18 GRC sowie eine Verletzung des Verbotes unmenschlicher und erniedrigender Behandlung behauptet wird.

6. Der belangte Asylgerichtshof legte die Verwaltungs- und Gerichtsakten vor, sah von der Erstattung einer Gegenschrift aber ab.

II. Erwägungen

Die – zulässigen – Beschwerden sind zum Teil begründet:

A. Soweit sie sich gegen die Abweisung der Anträge auf Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten bzw. eines subsidiär Schutzberechtigten richten, sind sie unbegründet:

1. Nach der mit VfSlg 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s. etwa VfSlg 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs 1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.

1.1. Diesem einem Fremden durch ArtI Abs 1 leg.cit. gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl. zB VfSlg 16.214/2001), wenn der Asylgerichtshof dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s. etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001) oder wenn er bei Fällung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001 sowie 18.614/2008).

1.2. Ein willkürliches Verhalten der Behörde, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außer-Acht-Lassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001).

1.3. Ein willkürliches Verhalten liegt insbesondere dann vor, wenn die Behörde den Bescheid mit Ausführungen begründet, denen jeglicher Begründungswert fehlt (s. etwa VfSlg 13.302/1992 mwN, 14.421/1996, 15.743/2000). Schließlich ist von einem willkürlichen Verhalten auch auszugehen, wenn die Behörde die Rechtslage gröblich bzw. in besonderem Maße verkennt (zB VfSlg 18.091/2007, 19.283/2010 mwN, 19.475/2011). Für Entscheidungen des Asylgerichtshofes gelten sinngemäß dieselben verfassungsrechtlichen Schranken.

2. Gemäß § 3 Abs 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art 1 Abschnitt AZ2 Genfer Flüchtlingskonvention droht, er sich also aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen.

2.1. Auch nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (vgl zB , 99/01/0280; , 98/01/0262) sowie des Verfassungsgerichtshofes (vgl. etwa VfSlg 19.086/2010) muss für die Flüchtlingseigenschaft eines Asylwerbers eine wohlbegründete Furcht vor staatlicher Verfolgung gewisser Intensität vorliegen, welche ihren Grund in der Rasse, Religion, Nationalität, Gruppenzugehörigkeit oder in der politischen Gesinnung des Asylwerbers hat.

2.2. Eine Furcht kann nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt somit nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation fürchten würde (vgl. etwa ; , 98/01/0370; , 2000/01/0132).

2.3. Maßgeblich für die Frage, ob der Erstbeschwerdeführerin im vorliegenden Fall die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen war, kann demnach nur sein, ob sie einer wohlbegründeten Furcht vor Verfolgung ausgesetzt war.

2.4. Der Asylgerichtshof stellt sich in diesem Zusammenhang auf den Standpunkt, dass die Erstbeschwerdeführerin zwar erwiesenermaßen die Tochter des im Jahr 2000 von staatlicher Seite getöteten Führers des Ilim-Flügels der Hizbullah sei. Alleine aus diesem Umstand heraus sei sie jedoch bei einer Rückkehr in die Türkei keiner asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt, zumal sie selbst niemals politisch aktiv gewesen sei. Weshalb somit die türkische Polizei ein derartiges Interesse an ihrer Person entwickeln sollte, habe sie nicht nachvollziehbar anzugeben vermocht. Zudem gebe es in der Türkei – wie auch den Länderberichten zu entnehmen sei – keine "Sippenhaft" in dem Sinne, dass Familienmitglieder für die Handlungen eines Angehörigen strafrechtlich verfolgt oder bestraft würden.

Der Erstbeschwerdeführerin sei es demnach nicht gelungen, eine staatliche Verfolgung glaubhaft darzutun, weshalb sich ihr Vorbringen letztlich darauf reduziere, dass sie bei einer Rückkehr in die Türkei Angst vor den Feinden ihrer Familie habe. Auch diesem Vorbringen sei jedoch kein Erfolg beschieden, da der türkische Staat schutzfähig und schutzwillig sei.

3. Mit diesen Ausführungen hat der Asylgerichtshof zwar verkannt, dass die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Sinne der vorstehenden Erwägungen nicht nur davon abhängt, ob eine "Sippenhaft[ung]" im türkischen Strafrecht vorgesehen ist; es war nämlich vom Asylgerichtshof in einer Gesamtschau aller Umstände des Einzelfalls zu beurteilen, ob die Erstbeschwerdeführerin einer wohlbegründeten Furcht vor Verfolgung ausgesetzt war, ob sich also eine mit Vernunft begabte Person in der Situation der Erstbeschwerdeführerin mit Grund fürchten würde, für den Fall einer Rückkehr in die Türkei wegen ihres Naheverhältnisses zu einer politisch verfolgten Person ebenfalls verfolgt zu werden.

3.1. Die Beantwortung dieser Frage ist je nach den näheren Umständen und Ursachen der Verfolgung jenes Opfers sowie nach den Beziehungen zu diesem Opfer zu beurteilen, von dem die Furcht vor der eigenen Verfolgung abgeleitet wird. Keineswegs kann diese Frage allein deshalb verneint werden, weil "Sippenhaft[ung]" im Strafgesetz nicht angeordnet ist.

3.2. Im vorliegenden Fall fehlen freilich Anhaltspunkte dafür, dass der Vater der Erstbeschwerdeführerin, von dessen Verfolgung und Tötung sie die Begründung der Furcht vor eigener Verfolgung herleiten will, unter solchen Umständen und aus Gründen zu Tode gekommen ist, aus denen zumindest nach der Lebenserfahrung eine begründete Gefahr auch für enge Familienangehörige abgeleitet werden könnte. Es gibt daher keinen objektiven Hinweis dafür, dass auch im Falle enger Familienangehöriger schon dieses Naheverhältnis zu tendenziell lebensbedrohlichen Verfolgungsmaßnahmen führen könnte.

4. Es ist daher im Ergebnis nicht unschlüssig, wenn der Asylgerichtshof eine wohlbegründete Furcht der Erstbeschwerdeführerin verneint hat.

5. Insoweit ist die angefochtene Entscheidung daher nicht mit Willkür belastet.

B. Soweit sich die Beschwerden aber gegen die Ausweisung aus dem österreichischen Bundesgebiet richten, sind sie begründet:

1. Wie der Asylgerichtshof festgestellt hat, ist die Erstbeschwerdeführerin mit einem in Deutschland lebenden anerkannten Flüchtling nach islamischem Ritus verheiratet und es entstammen dieser Verbindung die minderjährigen Zweit- und Drittbeschwerdeführerinnen. Eine Wohngemeinschaft zwischen der Erstbeschwerdeführerin und dem Vater ihrer Kinder bestand aber nur über einen gewissen Zeitraum hinweg. Seit lebt der Vater der Zweit- und Drittbeschwerdeführerin in Deutschland und besucht seine Familie am Wochenende.

1.1. Aus diesen – zutreffenden – Sachverhaltsfeststellungen leitet der Asylgerichtshof sodann ab, dass die Beziehung zwischen der Erstbeschwerdeführerin und ihrem Ehegatten nicht auf Dauer angelegt sei und von einem aufrechten Familienleben iSd Judikatur des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte zum Vater der beiden Kinder nicht auszugehen sei. Folglich würde durch die Ausweisung der Beschwerdeführerinnen Art 8 EMRK auch nicht verletzt.

2. Zutreffend geht der Asylgerichtshof davon aus, dass zwischen der Erstbeschwerdeführerin und dem Vater ihrer Kinder keine rechtsgültig geschlossene Ehe besteht, weil – abgesehen davon, dass nicht behauptet wird, dass die Ehe in der Türkei geschlossen worden wäre (vgl. dazu § 16 Abs 2 IPRG) – eine ausschließlich nach islamischem Ritus geschlossene Ehe selbst nach türkischem Zivilrecht keine rechtsgültige Ehe zu bewirken vermöchte (vgl. Bergmann/Ferid/Henrich , Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht, Lfg. 201 - 6/2013, Türkei, 22).

2.1. Die Annahme des Bestehens von Familienleben im Verständnis des Art 8 EMRK zwischen der Erstbeschwerdeführerin und dem Vater ihrer Kinder einerseits bzw. zwischen Eltern und Kindern andererseits bedarf allerdings keiner Formalisierung durch eine rechtsgültige Eheschließung (vgl. Grabenwarter/Pabel , Europäische Menschenrechtskonvention 5 , 2012, 235 Rz 16 ff. und die dort bezogene Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte).

2.2. Insbesondere lässt es im vorliegenden Fall das Vorhandensein zweier gemeinsamer Kinder in Verbindung mit dem Umstand, dass der Kindesvater die beschwerdeführenden Parteien (als seine Familie im sozialen Sinne) nach den Feststellungen des Asylgerichtshofes jedes Wochenende besucht, nicht zu, die Annahme eines Familienlebens zu verneinen.

3. Darüber hinaus wird durch die Ausweisung der beschwerdeführenden Parteien jedenfalls in das – durch die vom Asylgerichtshof festgestellten regelmäßigen Wochenendbesuche auch faktisch gepflegte – Familienleben zwischen dem Kindesvater und seinen Kindern, den Zweit- und Drittbeschwerdeführerinnen, eingegriffen. Dabei handelt es sich nämlich um ein Familienleben im Sinne des Art 8 EMRK, das grundsätzlich mit der Geburt der Kinder und unabhängig von einem gemeinsamen Wohnsitz der Eltern entsteht (vgl. die bei Grabenwarter/Pabel , aaO, Rz 17 FN 91 wiedergegebene Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte).

3.1. Der Asylgerichtshof hat es in diesem Zusammenhang in Verkennung dieser Rechtslage unterlassen, zu prüfen, ob die Zweit- und die Drittbeschwerdeführerinnen im Falle ihrer Ausweisung in die Türkei dort das Familienleben mit ihrem Vater fortsetzen könnten. Diese Frage ist im vorliegenden Fall schon deshalb von Bedeutung, weil der Vater der Zweit- und Drittbeschwerdeführerinnen nach den Feststellungen in Deutschland Asyl genießt; sollte er aus der Türkei stammen, stünde fest, dass das Familienleben in der Türkei wegen der drohenden Verfolgung des Kindesvaters nicht fortgesetzt werden kann, weshalb die Ausweisung der Zweit- und Drittbeschwerdeführerinnen insoweit einen besonders intensiven Eingriff in deren Recht auf Familienleben darstellen würde (vgl. VfSlg 19.220/2010 und ).

3.2. Auch zu dieser entscheidungswesentlichen Frage wurden keine Feststellungen getroffen, wobei die Einvernahme der Erstbeschwerdeführerin des verfassungsgerichtlichen Verfahrens vor dem Asylgerichtshof ergeben hat, dass die "Schwiegereltern" der Erstbeschwerdeführerin in der Türkei wohnen und in einem ergänzenden Schriftsatz an den Asylgerichtshof vom ausdrücklich vorgebracht wurde, dass mit dem Kindesvater ein "Privat- und Familienleben […] nur in Österreich möglich [ist], weil der Kindesvater Asylstatus hat".

4. Da der Asylgerichtshof somit zu Unrecht das Vorliegen eines Familienlebens zwischen den Beschwerdeführerinnen und dem Kindesvater iS des Art 8 EMRK verneint und Feststellungen darüber unterlassen hat, ob ein Familienleben des Kindesvaters mit den zweit- und drittbeschwerdeführenden Parteien in der Türkei möglich wäre, hat der Asylgerichtshof Willkür geübt und die Beschwerdeführerinnen in ihrem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander verletzt.

III. Ergebnis

1. Die angefochtenen Entscheidungen sind daher in ihrem Ausspruch über die Ausweisung aufzuheben.

2. Im Übrigen werden die Beschwerden abgewiesen.

3. Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 88 VfGG. Ein über die antragsgemäß zugesprochenen Kosten hinausgehender Ersatz der Eingabengebühr gemäß § 17a VfGG in der Höhe von jeweils € 220,– kommt nicht in Betracht, weil den Beschwerdeführerinnen mit Beschluss vom Verfahrenshilfe auch im Umfang der einstweiligen Befreiung von der Entrichtung der Eingabengebühr gewährt wurde. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 460,– enthalten. Die teilweise Erfolglosigkeit der Beschwerde kann dabei außer Betracht bleiben, weil dieser Teil keinen zusätzlichen Prozessaufwand verursacht hat.

European Case Law Identifier

ECLI:AT:VFGH:2014:U37.2013