VfGH vom 05.06.2014, U26/2014
Leitsatz
Entzug des gesetzlichen Richters durch Abweisung eines Wiedereinsetzungsantrags durch eine Einzelrichterin und nicht durch einen Senat des Asylgerichtshofs
Spruch
I. Der Beschwerdeführer ist durch die angefochtene Entscheidung in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt worden.
Die Entscheidung wird aufgehoben.
II. Der Bund (Bundeskanzler) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seiner Rechtsvertreterin die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe
I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren
1. Der Beschwerdeführer, ein nigerianischer Staatsangehöriger, stellte nach seiner Einreise ins österreichische Bundesgebiet am einen Antrag auf internationalen Schutz.
2. Mit Bescheid vom wies das Bundesasylamt den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß § 5 Abs 1 Asylgesetz 2005, BGBl I 100, idF BGBl I 4/2008, zurück und sprach aus, dass Ungarn für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist; gleichzeitig wies das Bundesasylamt den Beschwerdeführer gemäß § 10 Abs 1 Z 1 AsylG 2005, BGBl I 100, idF BGBl I 38/2011, (im Folgenden: AsylG 2005) aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Ungarn aus und stellte gemäß § 10 Abs 4 AsylG 2005 fest, dass die Abschiebung nach Ungarn zulässig ist.
Dieser Bescheid wurde dem Beschwerdeführer nach den Feststellungen der nunmehr angefochtenen Entscheidung am gemäß § 8 Abs 2 iVm § 23 Abs 1 Zustellgesetz durch Hinterlegung bei der Behörde zugestellt, weil der Behörde keine Abgabestelle bekannt war.
3. Nach Ablauf der Beschwerdefrist erhob der Beschwerdeführer mit Faxnachricht vom Beschwerde gegen den Bescheid des Bundesasyl amtes und beantragte die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und die Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung. Zur Begründung des Wiedereinsetzungs antrages führte er aus, dass er von Traiskirchen in die "Betreuungsstelle Nord" verlegt worden sei, wo er einsam gewesen sei; deshalb sei der Beschwerdeführer nach Wien gegangen, um sich nach Freunden und Betreuung umzusehen. Er habe sich aber bei der Behörde erreichbar gemeldet, indem er etwa über den Verein Ute Bock seine Adresse bekannt gegeben habe. Eine Verkettung unglücklicher Umstände habe zur Fristversäumnis geführt.
4. Das Bundesasylamt wies mit Bescheid vom die Anträge des Beschwerdeführers auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 71 Abs 1 AVG und auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung gemäß § 71 Abs 6 AVG ab. Der angefochtene Bescheid sei dem Beschwerdeführer durch Hinterlegung rechtswirksam zugestellt worden. Der Beschwerdeführer habe nicht glaubhaft machen können, dass er durch ein unvorhergesehenes oder unabwendbares Ereignis verhindert gewesen sei, die Beschwerdefrist einzuhalten. Die beabsichtigte Vorgehensweise der Behörde, nämlich die Zurückweisung des Antrags auf internationalen Schutz gemäß § 5 AsylG 2005, sei dem Beschwerdeführer gemäß § 29 Abs 3 AsylG 2005 nachweislich mitgeteilt worden. Der Beschwerdeführer hätte es nicht dabei belassen dürfen, beim Verein Ute Bock eine Obdachlosenmeldung abzugeben, zumal es sich dabei nicht um eine zustellfähige Adresse handle, was dem Beschwerdeführer im Zuge der Erstbefragung mit einem Informationsblatt auch mitgeteilt worden sei. Der Beschwerdeführer habe somit ohne nachvollziehbare Gründe die Bekanntgabe einer zustellfähigen Adresse unterlassen.
5. Gegen diesen Bescheid des Bundesasylamtes erhob der Beschwerdeführer mit Faxnachricht vom Beschwerde an den Asylgerichtshof und begründete diese damit, dass die Zustellung über die vom Beschwerdeführer bekanntgegebene Adresse ordnungsgemäß vorgenommen werden hätte können. Die Zustellung durch "Hinterlegung im Akt" sei generell rechtswidrig und stehe im Widerspruch zu Art 47 GRC.
6. Mit der nunmehr angefochtenen Entscheidung vom wies der Asylgerichtshof durch eine Einzelrichterin die Beschwerde gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom , mit dem der Antrag des Beschwerdeführers auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand abgewiesen worden war, gemäß § 71 Abs 1 Z 1 AVG ab (Spruchpunkt I.) und wies die Beschwerde gegen den Bescheid des Bundes asylamtes vom , mit dem der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz zurückgewiesen worden war, gemäß § 66 Abs 4 AVG iVm § 22 Abs 12 AsylG 2005 als verspätet zurück.
Zur Einzelrichter- bzw. Senatszuständigkeit führt der Asylgerichtshof in der Begründung der angefochtenen Entscheidung Folgendes aus:
"Gemäß § 9 Abs 1 AsylGHG, BGBl I Nr 4/2008 in der geltenden Fassung entscheidet der Asylgerichtshof in Senaten, soweit eine Entscheidung durch einen Einzelrichter oder Kammersenat nicht bundesgesetzlich vorgesehen ist. Gemäß § 61 Abs 3 AsylG 2005 entscheidet der Asylgerichtshof über Beschwerden gegen zurückweisende Bescheide nach den §§4 und 5 AsylG 2005 und nach § 68 AVG durch Einzelrichter. Gemäß § 42 AsylG 2005 entscheidet der Asylgerichtshof bei Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung oder Rechtsfragen, die sich in einer erheblichen Anzahl von anhängigen oder in naher Zukunft zu erwartender Verfahren stellt, sowie gemäß § 11 Abs 4 AsylGHG, wenn im zuständigen Senat kein Entscheidungsentwurf die Zustimmung des Senates findet, durch einen Kammersenat. Im vorliegenden Verfahren liegen weder die Voraussetzungen für eine Entscheidung durch einen Einzelrichter noch die für eine Entscheidung durch den Kammersenat vor; beide nunmehr beim erkennenden Gerichtshof anhängige Beschwerden betreffen Verfahren in engem Bezug zu einer abweisenden inhaltlichen Asylentscheidung."
Seine Entscheidung hinsichtlich der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand begründete der Asylgerichtshof zusammengefasst damit, dass die Zustellung durch Hinterlegung am rechtmäßig vorgenommen worden sei. Eine Kontaktaufnahme des Beschwerdeführers durch eine Vollmachtsbekanntgabe sei erst am erfolgt; erst mit am einlangendem Schreiben habe der Beschwerdeführer mitgeteilt, dass "in Kürze" ein Meldezettel einlangen werde. Gleichzeitig habe der Beschwerdeführer eine Bestätigung des Vereins Ute Bock vom beigelegt, wonach der Beschwerdeführer in Kürze einen Meldezettel erhalten werde. Dies ändere aber nichts an der Tatsache, dass der Behörde am keine Zustelladresse des Beschwerdeführers bekannt gewesen sei. Der Beschwerdeführer hätte in der ihm zugewiesenen Unterkunft verbleiben müssen, hätte jedenfalls eine neue Anschrift unverzüglich bekanntgeben "können und müssen" und hätte sich zumindest regelmäßig bei der Behörde nach dem Verfahrensstand erkundigen können. Ein Wiedereinsetzungsgrund liege nicht vor. Das Bundes asylamt habe den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu Recht abgewiesen.
7. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art 144 B VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten, insbesondere in den Rechten auf Gleichbehandlung Fremder untereinander und auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter sowie die kostenpflichtige Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung beantragt wird.
8. Das Bundesverwaltungsgericht legte die Verwaltungs- und Gerichtsakten vor, beantragte die Abweisung der Beschwerde und verwies auf die Begründung der angefochtenen Entscheidung.
II. Rechtslage
Die im vorliegenden Fall maßgebliche Rechtslage stellt sich wie folgt dar:
1. § 9 Asylgerichtshofgesetz (AsylGHG), BGBl I 4/2008, lautete bis zu seinem Außerkrafttreten durch BGBl I 10/2013:
"Senate und Kammersenate
§9. (1) Der Asylgerichtshof entscheidet in Senaten, sofern bundesgesetzlich nicht die Entscheidung durch Einzelrichter oder verstärkte Senate (Kammersenate) vorgesehen ist.
(2) Jeder Senat besteht aus einem Richter als Vorsitzenden und einem weiteren Richter als Beisitzer. Für jeden Senat sind mindestens ein Stellvertreter des Vorsitzenden und mindestens ein Ersatzmitglied (Ersatzbeisitzer) zu bestimmen.
(3) Ist bundesgesetzlich die Entscheidung eines verstärkten Senates vorgesehen, so ist der zuständige Senat nach Maßgabe der Geschäftsverteilung um drei Richter zu verstärken (Kammersenat). Ist ein Kammersenat auf Antrag eines Einzelrichters zur Entscheidung berufen, so hat dieser dem Kammersenat anzugehören. Als Vorsitzender des Kammersenates fungiert der zuständige Kammervorsitzende (§14 Abs 3). Die übrigen Richter sind aus der Mitte der in der Kammer zusammengefassten Richter (§14 Abs 2) zu berufen.
(4) – (5) [...]"
2. § 61 AsylG 2005, BGBl I 100, idF BGBl I 122/2009, lautete:
"Asylgerichtshof
§61. (1) Der Asylgerichtshof entscheidet in Senaten oder, soweit dies in Abs 3 oder 3a vorgesehen ist, durch Einzelrichter über
1. Beschwerden gegen Bescheide des Bundesasylamtes und
2. Beschwerden wegen Verletzung der Entscheidungspflicht des Bundesasylamtes.
(2) Beschwerden gemäß Abs 1 Z 2 sind beim Asylgerichtshof einzubringen. Im Fall der Verletzung der Entscheidungspflicht geht die Entscheidung auf den Asylgerichtshof über. Die Beschwerde ist abzuweisen, wenn die Verzögerung nicht auf ein überwiegendes Verschulden des Bundesasylamtes zurückzuführen ist.
(3) Der Asylgerichtshof entscheidet durch Einzelrichter über Beschwerden gegen
1. zurückweisende Bescheide
a) wegen Drittstaatssicherheit gemäß § 4;
b) wegen Zuständigkeit eines anderen Staates gemäß § 5;
c) wegen entschiedener Sache gemäß § 68 Abs 1 AVG, und
2. die mit diesen Entscheidungen verbundene Ausweisung.
(3a) Der Asylgerichtshof entscheidet weiters durch Einzelrichter über die Rechtmäßigkeit der Aufhebung des Abschiebeschutzes im Rahmen der Überprüfung gemäß § 41a.
(4) Über die Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung einer Beschwerde entscheidet der für die Behandlung der Beschwerde zuständige Einzelrichter oder Senatsvorsitzende."
III. Erwägungen
1. Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.
Das Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter wird durch den Bescheid einer Verwaltungsbehörde verletzt, wenn die Behörde eine ihr gesetzlich nicht zukommende Zuständigkeit in Anspruch nimmt (zB VfSlg 15.372/1998, 15.738/2000, 16.066/2001, 16.298/2001 und 16.717/2002) oder wenn sie in gesetzwidriger Weise ihre Zuständigkeit ablehnt, etwa indem sie zu Unrecht eine Sachentscheidung verweigert (zB VfSlg 15.482/1999, 15.858/2000, 16.079/2001 und 16.737/2002).
Das verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter wird insbesondere dann verletzt, wenn eine an sich zustän dige, aber nicht dem Gesetz entsprechend zusammengesetzte Kollegialbehörde entschieden hat (zB VfSlg 10.022/1984, 14.731/1997, 15.588/1999, 15.668/1999, 15.731/2000 und 16.572/2002).
Für Entscheidungen des Asylgerichtshofes gelten sinngemäß dieselben verfassungsrechtlichen Schranken. Dies bedeutet, dass das Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter dann verletzt wird, wenn statt eines Senates ein Einzelrichter entscheidet oder umgekehrt (vgl. VfSlg 19.577/2011).
2. Ein solcher Fehler ist dem belangten Asylgerichtshof unterlaufen:
Mit Spruchpunkt I. der angefochtenen Entscheidung wies der Asylgerichtshof durch eine Einzelrichterin die Beschwerde gegen den Bescheid des Bundesasylamtes ab, mit dem das Bundesasylamt den Antrag des Beschwerdeführers auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand abgewiesen hatte.
Wie der Asylgerichtshof in der angefochtenen Entscheidung selbst ausführt, waren jedoch die Voraussetzungen für eine Entscheidung durch einen Einzelrichter nicht gegeben. Beschwerden gegen verfahrensrechtliche Bescheide des Bundes asylamtes fielen gemäß § 61 Abs 3 und 3a AsylG 2005, BGBl I 100, idF BGBl I 122/2009, nicht in die Zuständigkeit des Einzelrichters, weswegen darüber gemäß § 61 Abs 1 AsylG 2005 iVm § 9 Asylgerichtshofgesetz, BGBl I 4/2008, in einem Senat entschieden werden hätte müssen. Der belangte Asylgerichtshof hat dadurch den Beschwerdeführer im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt.
3. Da die Entscheidung über die Beschwerde gegen die Zurückweisung des Antrags auf internationalen Schutz (Spruchpunkt II.) von der Entscheidung über die Beschwerde gegen die Abweisung des Antrags auf Wiedereinsetzung (Spruchpunkt I.) abhängt, ist die angefochtene Entscheidung zur Gänze aufzuheben.
IV. Ergebnis
1. Der Beschwerdeführer ist somit durch die angefochtene Entscheidung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt worden.
2. Die angefochtene Entscheidung ist daher schon deshalb aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.
3. Damit erübrigt sich ein Abspruch über den Antrag, der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen.
4. Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von € 436,– enthalten.