VfGH vom 21.02.2014, U2552/2013
Leitsatz
Verletzung im Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens durch Ausweisung eines nigerianischen Staatsangehörigen wegen verfassungswidriger Interessenabwägung angesichts der langen, dem Beschwerdeführer nicht vorzuwerfenden Verfahrensdauer
Spruch
I. 1. Der Beschwerdeführer ist durch die angefochtene Entscheidung, soweit damit seine Beschwerde gegen die Ausweisung aus dem österreichischen Bundesgebiet abgewiesen worden ist, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt worden.
Die Entscheidung wird insoweit aufgehoben.
2. Im Übrigen wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt.
II. Der Bund (Bundeskanzler) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.856, – bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe
I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren
1. Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger Nigerias, reiste am illegal in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am selben Tag einen Antrag auf internationalen Schutz. Begründend gab er hiezu – zusammengefasst – an, dass sein Vater im Zuge eines ethnischen Konfliktes ermordet worden wäre. Da er aus einer bekannten Familie der "Urobo"-Volksgruppe stamme, hätte sich der Beschwerdeführer in keiner anderen Region Nigerias niederlassen können, weswegen er sich zur Flucht aus seinem Heimatland entschieden hätte. Im Fall seiner Rückkehr nach Nigeria würde ihm der Tod drohen, da er der einzige Sohn seines Vaters wäre.
2. Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß § 7 AsylG1997 abgewiesen und selbiger gemäß § 8 leg.cit. aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Nigeria ausgewiesen. Das Bundesasylamt ging dabei – im Wesentlichen –davon aus, dass dem Beschwerdeführer eine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung stünde und dass seine Ausweisung aus Österreich keinen unverhältnismäßigen Eingriff in seine Rechte gemäß Art 8 EMRK darstellen würde.
3. Gegen diesen Bescheid brachte der Beschwerdeführer am Berufung bzw. Beschwerde ein, wobei er die Entscheidung des Bundesasylamtes in vollem Umfang bekämpfte.
4. Nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am wies der Asylgerichtshof mit der angefochtenen Entscheidung vom die an ihn gerichtete Beschwerde zur Gänze ab. Im Wesentlichen führte er aus, dass die vom Beschwerdeführer behauptete Verfolgung nicht feststellbar wäre und – selbst bei Wahrheitsunterstellung – eine innerstaatliche Fluchtalternative vorläge. Im Rückkehrfall wäre eine Verletzung der Art 2 und 3 EMRK nicht zu befürchten. Zur Ausweisungsentscheidung erklärte der Asylgerichtshof, dass in concreto kein unzulässiger Eingriff in die Rechte des Beschwerdeführers nach Art 8 EMRK vorläge. Hinsichtlich der nahezu neunjährigen Dauer des Asylverfahrens führt der Asylgerichtshof insbesondere aus, dass diese im vorliegenden Fall zum größten Teil vom Beschwerdeführer selbst zu verantworten wäre. Er müsse
"gegen sich gelten lassen, dass das gegenständliche Verfahren mangels aufrechter Meldeadresse zwei Mal eingestellt werden (einmal von Februar 2007 bis November 2008 [Anm.: Antrag auf Fortsetzung bereits im Jänner 2008], danach erneut einen Monat im Jahr 2010) musste, zudem blieb der Beschwerdeführer der ersten anberaumten Beschwerdeverhandlung vor dem Asylgerichtshof unentschuldigt fern und übermittelte er auch nicht die zugesagten Dokumente. Somit kann man die Dauer des Aufenthaltes nicht heranziehen und sind die durch den rund neuneinhalbjährigen Aufenthalt entstandenen privaten Interessen sowie das Gewicht einer allfälligen Integration des Beschwerdeführers nur minder schutzwürdig. Eine allein den Behörden zurechenbare Verfahrensverzögerung konnte deshalb nicht festgestellt werden."
5. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende Beschwerde, in der die Verletzung des Beschwerdeführers in seinen verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten gemäß ArtI Abs 1 Bundesverfassungsgesetz BGBl 390/1973 und Art 8 EMRK behauptet wird. Der Beschwerdeführer bringt darin insbesondere vor, dass hier lediglich ein einziges Asylverfahren vorläge, die Behörden in den Zeiträumen, in denen der Beschwerdeführer infolge Obdachlosigkeit keine aufrechte Meldeadresse hatte, keine tatsächlichen Verfahrensschritte gesetzt hätten und im Übrigen eine Untätigkeit des Asylgerichtshofes über mehrere Jahre zu verzeichnen wäre.
6. Das Bundesverwaltungsgericht legte die Verwaltungsakten vor und beantragte, die Beschwerde abzuweisen. Auf die Erstattung einer Gegenschrift wurde verzichtet.
II. Rechtslage
§10 AsylG2005, BGBl I 100, idF BGBl I 38/2011 lautet auszugsweise:
"§10. (1) Eine Entscheidung nach diesem Bundesgesetz ist mit einer Ausweisung zu verbinden, wenn
1. […]
2. der Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird;
3., 4. […]
(2) Ausweisungen nach Abs 1 sind unzulässig, wenn
1. […]
2. diese eine Verletzung von Art 8 EMRK darstellen würden. Dabei sind insbesondere zu berücksichtigen:
a) die Art und Dauer des bisherigen Aufenthalts und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war;
b) das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens;
c) die Schutzwürdigkeit des Privatlebens;
d) der Grad der Integration;
e) die Bindungen zum Herkunftsstaat des Fremden;
f) die strafgerichtliche Unbescholtenheit;
g) Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts;
h) die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren;
i) die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.
(3) – (8) […]"
III. Erwägungen
A. Die Beschwerde ist zulässig und hinsichtlich der mit der angefochtenen Entscheidung ausgesprochenen Ausweisung auch begründet:
1. Ein Eingriff in das durch Art 8 EMRK verfassungsgesetzlich garantierte – unter Gesetzesvorbehalt stehende – Recht ist dann verfassungswidrig, wenn der ihn verfügende Bescheid ohne jede Rechtsgrundlage ergangen ist, auf einer dem Art 8 EMRK widersprechenden Rechtsvorschrift beruht oder wenn die Behörde bei Erlassung des Bescheides eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Rechtsgrundlage in denkunmöglicher Weise angewendet hat; ein solcher Fall liegt nur vor, wenn die Behörde einen so schweren Fehler begangen hat, dass dieser mit Gesetzlosigkeit auf eine Stufe zu stellen wäre, oder wenn sie der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen verfassungswidrigen, insbesondere einen dem Art 8 Abs 1 EMRK widersprechenden und durch Art 8 Abs 2 EMRK nicht gedeckten Inhalt unterstellt hat (vgl. VfSlg 11.638/1988, 15.051/1997, 15.400/1999, 16.657/2002).
2. Ein solcher Fehler ist dem Asylgerichtshof im vorliegenden Fall unterlaufen:
2.1. Der Beschwerdeführer beantragte am Tag seiner Einreise nach Österreich im Mai 2004 Asyl. Sein Asylverfahren dauerte vom Asylantrag bis zur nunmehr bekämpften Entscheidung des Asylgerichtshofes im Oktober 2013, also im ersten Rechtsgang, rund neun Jahre.
2.2. Wie dem beigeschafften Akt zu entnehmen ist, wurden zwischen November 2005 (Zeitpunkt der Berufung) und April 2013 (mündliche Verhandlung vor dem Asylgerichtshof) seitens der zuständigen Behörden bzw. des Asylgerichtshofes keine wesentlichen Verfahrensschritte gesetzt. Wie der Verfassungsgerichtshof schon mehrfach und beginnend mit VfSlg 19.203/2010 ausgesprochen hat, obliegt es dem Staat, die Voraussetzung zu schaffen, um Verfahren so effizient führen zu können, dass nicht bis zur ersten rechtskräftigen Entscheidung – ohne dass außergewöhnlich komplexe Rechtsfragen zu lösen wären – eine unangemessen lange Zeit, hier nahezu neun Jahre, verstreicht.
2.3. Der Asylgerichtshof begründet im Zuge der Abwägung des mit der Ausweisung verbundenen Eingriffs in das Privatleben die Dauer des Verfahrens insbesondere damit, dass der Beschwerdeführer Rechtsmittel ergriffen habe und es zweimal deshalb einen Verfahrensstillstand gegeben habe, weil der Beschwerdeführer keine aufrechte Meldeadresse gehabt habe. Dazu ist ihm bloß entgegenzuhalten, dass einem Asylwerber die Ausschöpfung der rechtlichen Möglichkeiten nicht vorzuwerfen ist (vgl. ) und dass auch einem mehrmonatigen, von ihm möglicherweise verursachten Stillstand des Verfahrens nicht ein derartiges Gewicht beigemessen werden kann, das die Untätigkeit des Asylgerichtshofes und seiner Vorgängerbehörde in den Jahren 2005 bis 2013 gänzlich rechtfertigen könnte.
2.4. Der Verfassungsgerichtshof bleibt daher auch in dem hier zu beurteilenden Fall, der im Wesentlichen der dem Erkenntnis zu VfSlg 19.203/2010 zugrunde liegenden Konstellation gleicht, bei seiner Auffassung, dass der Asylgerichtshof der während des Verfahrens entstandenen Integration des Beschwerdeführers (Deutschkenntnisse auf dem Niveau A2, Erwerbstätigkeit in einem Kfz-Unternehmen, mutmaßliche Vaterschaft zu einem minderjährigen Kind, gewisse soziale Kontakte in Österreich, strafrechtliche Unbescholtenheit u.a.) bei der Abwägung des mit der Ausweisung verbundenen Eingriffs in das Privatleben gemäß Art 8 EMRK ein nicht entsprechendes Gewicht beigemessen hat. Im Ergebnis ist daher die Abwägung des Asylgerichtshofes gemäß Art 8 EMRK nicht vertretbar.
3. Der Asylgerichtshof hat den Beschwerdeführer folglich in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung seines Privat- und Familienlebens verletzt.
Bei diesem Ergebnis erübrigt es sich, auf das weitere die Ausweisung des Beschwerdeführers aus dem österreichischen Staatsgebiet betreffende Beschwerdevorbringen einzugehen.
B. Im Übrigen wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt:
1. Der Verfassungsgerichtshof kann die Behandlung einer Beschwerde ablehnen, wenn von der Entscheidung die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage nicht zu erwarten ist (Art144 Abs 2 B-VG in der mit in Kraft getretenen Fassung). Eine solche Klärung ist dann nicht zu erwarten, wenn zur Beantwortung der maßgebenden Fragen spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen nicht erforderlich sind.
2. Soweit dem Beschwerdeführer durch die angefochtene Entscheidung der Status eines Asylberechtigten bzw. subsidiär Schutzberechtigten nicht zuerkannt wurde, wären die gerügten Rechtsverletzungen im vorliegenden Fall aber nur die Folge einer – allenfalls grob – unrichtigen Anwendung des einfachen Gesetzes. Spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen sind zur Beantwortung der aufgeworfenen Fragen nicht anzustellen.
IV. Ergebnis
1. Der Beschwerdeführer ist somit durch die angefochtene Entscheidung, soweit damit seine Beschwerde gegen die Ausweisung aus dem österreichischen Bundesgebiet abgewiesen worden ist, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt worden.
2. Die angefochtene Entscheidung ist daher insoweit aufzuheben.
3. Im Übrigen lagen die Voraussetzungen des Art 144 Abs 2 B-VG in der mit in Kraft getretenen Fassung für die Ablehnung der Beschwerde vor.
4. Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 erster Satz iVm § 19 Abs 3 Z 1 sowie § 31 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von € 436,– sowie der Ersatz der Eingabengebühr in Höhe von € 240,– enthalten.