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VfGH vom 16.06.2014, U2543/2013

VfGH vom 16.06.2014, U2543/2013

19878

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander durch Zurückweisung des Asylantrags eines Drittstaatsangehörigen und Ausweisung nach Ungarn mangels Würdigung des aktuellsten, eine erneute Gesetzesänderung berücksichtigenden Berichtsmaterials zur Lage von Asylwerbern in Ungarn

Spruch

I. Der Beschwerdeführer ist durch die angefochtene Entscheidung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs 1 Bundesverfassungsgesetz BGBl Nr 390/1973) verletzt worden.

Die Entscheidung wird aufgehoben.

II. Der Bund (Bundeskanzler) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerdevorbringen und Vorverfahren

1.1. Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger von Ruanda, stellte am einen Antrag auf internationalen Schutz. Dabei gab er hinsichtlich seines Fluchtweges an, Ruanda bereits im Jahr 2006 verlassen zu haben und nach Griechenland gereist zu sein, wo er bis Jänner 2013 als Marktverkäufer unter sklavenähnlichen Umständen gearbeitet habe. Nachdem der Besitzer des Marktstandes verstorben sei, habe der Beschwerdeführer keine Arbeit mehr gehabt und in weiterer Folge Griechenland in Richtung Ungarn verlassen. Dort sei er drei Monate im Flüchtlingslager Bicske aufhältig gewesen, danach sei er mit einem Auto nach Österreich "geschleppt" worden. Er erachte Ungarn zwar als "gutes Land", habe dort allerdings nicht genug zu essen bekommen und nicht in die Schule gehen dürfen. Würde er dorthin zurückgeschickt werden, käme er jedenfalls umgehend wieder nach Österreich.

Auf Grund dieser Angaben stellte das Bundesasylamt am an Ungarn ein Ersuchen um Aufnahme des Beschwerdeführers im Sinne des Art 17 der Verordnung (EG) Nr 343/2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (im Folgenden: Dublin II-VO). Mit Schreiben vom erklärten sich die ungarischen Behörden zur Aufnahme des Beschwerdeführers bereit.

In Bezug auf die geführten Konsultationen mit Ungarn brachte der Beschwerdeführer in einer Einvernahme vor dem Bundesasylamt am erneut vor, in Ungarn kein Essen erhalten zu haben; seine Unterkunft sei sehr schmutzig gewesen und er habe nicht einmal auf die Toilette gehen können.

1.2. Das Bundesasylamt wies daraufhin den Antrag auf internationalen Schutz mit Bescheid vom gemäß § 5 Abs 1 Asylgesetz 2005, BGBl I 100/2005 idF BGBl I 38/2011 (im Folgenden: AsylG 2005), als unzulässig zurück, weil gemäß Art 16 Abs 1 lite Dublin II-VO Ungarn für die Prüfung des Antrages zuständig sei. Gleichzeitig wurde der Beschwerdeführer gemäß § 10 Abs 1 Z 1 AsylG 2005 aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Ungarn ausgewiesen.

1.3. In seiner dagegen erhobenen Beschwerde vom machte der Beschwerdeführer zunächst geltend, dass Ungarn im Sinne der maßgeblichen Bestimmungen der Dublin II-VO gar nicht als der für die Prüfung seines Asylantrages zuständige Mitgliedstaat der Europäischen Union anzusehen sei. Darüber hinaus sei dem Bundesasylamt ein mangelhaftes Ermittlungsverfahren vorzuwerfen, weil es hinsichtlich der Lage für Asylwerber in Ungarn veraltete Länderberichte herangezogen und eine in Ungarn am in Kraft getretene Gesetzesnovelle, die für Asylwerber erhebliche Verschlechterungen mit sich gebracht habe, nicht berücksichtigt habe. Der Beschwerdeführer zitierte in diesem Zusammenhang mehrere Entscheidungen deutscher Verwaltungsgerichte, in denen den jeweiligen Rechtsmitteln die aufschiebende Wirkung zuerkannt wurde, weil "erhebliche Anhaltspunkte dafür [bestünden], dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in Ungarn systematische Mängel aufweisen und für den Antragsteller die europäischen Mindeststandards nicht gewährleistet sind". Zudem nannte der Beschwerdeführer einen Bericht der "UN-Working Group on Arbitrary Detention" vom Oktober 2013, demzufolge seit dem Inkrafttreten der Gesetzesnovelle im Juli 2013 in Ungarn die Situation der Inhaftierung von Asylwerbern und ihrer Rechtsmittelmöglichkeiten "besorgniserregend" sei. In diesem Zusammenhang verwies der Beschwerdeführer auch auf Berichte der Nichtregierungsorganisation Pro Asyl von Oktober 2013 sowie des Hungarian Helsinki Committee von Ende Juni 2013. Ersterem zufolge seien Asylwerber der Obdachlosigkeit ausgesetzt und mit daraus resultierenden Verwaltungsstrafen bedroht. Auf Grund der überaus prekären und menschenunwürdigen Lage in Ungarn sowie der drohenden Inhaftierung des Beschwerdeführers als "Dublin-Rückkehrer", der prekären medizinischen Versorgungslage und der hygienischen Bedingungen stelle eine Abschiebung nach Ungarn "jedenfalls eine Art 3 EMRK Verletzung dar".

1.4. Der Asylgerichtshof wies diese Beschwerde mit der angefochtenen Entscheidung vom gemäß §§5 und 10 AsylG 2005 ab. Der Beschwerdeführer habe in Ungarn einen Asylantrag gestellt, weshalb an der Zuständigkeit dieses Mitgliedstaates zur Prüfung des Antrages "keine Zweifel" bestünden. Ungarn habe nach einem ordnungsgemäßen Konsultationsverfahren der Übernahme des Beschwerdeführers zugestimmt. Anhaltspunkte für die zwingende Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art 3 Abs 2 Dublin II-VO lägen nicht vor. Eine Überstellung nach Ungarn bedeute für den Beschwerdeführer keine Verletzung in seinem Recht auf Familien- und Privatleben, weil er keine familiären Bezugspunkte in Österreich habe und erst seit kurzer Zeit im Bundesgebiet aufhältig sei. Hinsichtlich des Asylwesens in Ungarn und der dortigen Versorgungslage hielt der Asylgerichtshof fest:

"Relevant wären im vorliegenden Zusammenhang schon bei einer Grobprüfung erkennbare grundsätzliche schwerwiegende Defizite im Asylverfahren des zuständigen Mitgliedstaates (also etwa: grundsätzliche Ablehnung aller Asylanträge oder solcher bestimmter Staatsangehöriger oder Angehöriger bestimmter Ethnien; kein Schutz vor Verfolgung 'Dritter', kein Rechtsmittelverfahren).

Solche qualifizierten Defizite (die bei einem Mitgliedstaat der Europäischen Union nicht vorausgesetzt werden können, sondern zunächst einmal mit einer aktuellen individualisierten Darlegung des Antragstellers plausibel zu machen sind, dies im Sinne der Regelung des § 5 Abs 3 AsylG 2005) sind auf Basis der Feststellungen des Bundesasylamtes nicht erkennbar.

Den weiteren Erwägungen vorauszuschicken ist, dass der Asylgerichtshof zum heutigen Datum auch in Kenntnis aller in das gegenständliche Verfahren eingeführten Beweismittel (weiterhin) nicht davon ausgeht, dass Überstellungen nach Ungarn allgemein die EMRK oder die Grundrechtecharta/Unionsrecht verletzen (so auch EGMR , Rs 2293/12, Mohammed, vgl auch die Beschwerdeablehnung des VfGH in einem vergleichbaren Fall zu Ungarn , U174-2013-13 und aus der deutschen obergerichtlichen Rechtsprechung, OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom , 4 L 169/12, 5 A180/12 MD).

Aus den Feststellungen im angefochtenen Bescheid wird deutlich, dass das ungarische Asylwesen starker Kritik ausgesetzt war, dass aber nichtsdestotrotz ein Vergleich mit den systemischen Mängeln, wie sie in Griechenland bestanden haben und bestehen, nicht gerechtfertigt ist. Zwischenzeitig (mit Jahresbeginn 2013) sind Gesetzesänderungen in Ungarn eingetreten, die nach bisherigem Kenntnisstand zu einer Verbesserung der Situation beigetragen haben. Dass weitere Änderungen mit Mitte Juli 2013, beziehungsweise für Anfang 2014 dies wieder entscheidend relativieren würden, ist nicht ersichtlich (dazu siehe sogleich näher unten 3.2.).

In diesem Zusammenhang hat UNHCR zunächst ein mit 'Note on Dublin Transfers to Hungary of People who transited through Serbia – Update' übertiteltes Dokument von UNHCR im Dezember 2012 verfasst, das bereits durch das Bundesasylamt (wie in der Verfahrenserzählung dargestellt) in das Verfahren eingeführt wurde. Darin wird ausgeführt, dass UNHCR bisher Bedenken bezüglich der Behandlung von Asylanträgen der meisten Dublin-II-Rückkehrer (als Folgeantragsteller ohne garantierten Schutz vor Zurückweisung in Drittstaaten vor einer inhaltlichen Prüfung der Asylanträge) geäußert hätte.

UNHCR hätte nun aber positive Entwicklungen festgestellt.

Im November 2012 hätte das ungarische Parlament ein umfassendes Paket von rechtlichen Änderungen angenommen. UNHCR begrüße diese Initiativen.

UNHCR beobachte, dass Ungarn nicht länger die inhaltliche Überprüfung eines Asylantrages verneine, wenn die Asylbewerber vor ihrer Ankunft in Ungarn über Serbien oder die Ukraine gereist seien. Solche Asylbewerber würden nicht länger nach Serbien oder in die Ukraine zurückgestellt. Zusätzlich hätte der Zugang zum Asylverfahren für jene Asylbewerber, die nach dem Dublin-II-System nach Ungarn zurückkämen, Verbesserungen erfahren, wenn die entsprechenden Asylverfahren noch keine endgültige inhaltliche Entscheidung erfahren hätten.

Solche Asylwerber hätten Zugang zu einer inhaltlichen Überprüfung ihrer Anträge nach ihrer Rückkehr, wenn sie einen formalen Antrag stellten, die Überprüfung des früheren Asylantrages wiederaufzunehmen. Sie würden dann nicht inhaftiert werden und könnten den Ausgang ihrer Verfahren in Ungarn abwarten.

Im Übrigen wären Verbesserungen bezüglich der Inhaftierung von Asylwerbern zu konstatieren. Die Zahl von Inhaftierungen sei stark zurückgegangen. Asylwerber, die sofort nach ihrer Ankunft um Asyl ansuchten, würden nicht länger inhaftiert.

Das Monitoring der Haftbedingungen sei besser geworden. Nichtsdestotrotz bleibe eine umfassende und strukturierte Überprüfung notwendig, um grundsätzliche Verbesserungen der strengen Haftbedingungen zu erzielen. UNHCR und seine Partner würden die entsprechenden Entwicklungen genau beobachten.

In Zusammenhang mit einer möglichen Inhaftierung ist grundsätzlich festzuhalten, dass der Umstand, dass ein Asylbewerber nach einer Dublin-Rücküberstellung in Haft genommen werden könnte, nicht allein ausreicht, eine Überstellung nach der Dublin-II-VO für unzulässig zu erklären (vergleiche Zl. 2005/20/0095). Angesichts der Ausführungen in der erwähnten Meinungsäußerung von UNHCR aus Dezember 2012 kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass die ungarischen Behörden als Behörden eines EU-Mitgliedstaates keine Konsequenzen aus verschiedenen Verurteilungen durch den EGMR im Jahre 2012 wegen schlechter Haftbedingungen bei Drittstaatsangehörigen gezogen hätten. Gegenteilige Informationen liegen nicht vor und sind auch der letzten Stellungnahme des Hungarian Helsinki Komitees keine Ausführungen über schlechte Haftbedingungen zu entnehmen.

Was nun die Kritik in der Beschwerde darin betrifft, dass nunmehr wieder verstärkt Inhaftierungen durchgeführt werden könnten und dass die gesetzlichen Bestimmungen dazu in Ungarn unklar formuliert seien, so ist klar festzuhalten, dass es sich hierbei um Befürchtungen, beziehungsweise (unbelegte) Annahmen handelt. Auch die Anwendung von Gesetzen, die den Entzug der persönlichen Freiheit zum Inhalt haben, stand und steht in Ungarn weiterhin unter Kontrolle der ungarischen Gerichte und letztlich auch unter Kontrolle des EGMR. Hier (ohne tatsächliche Belege des Gegenteils) von vornherein anzunehmen, dass Ungarn systematisch entsprechende gesetzliche Bestimmungen entgegen seinen völkerrechtlichen Verpflichtungen anwenden würde, verbietet sich angesichts der Mitgliedschaft Ungarns bei der EU, beziehungsweise angesichts des Fehlens eines Verfahrens nach § 39 Abs 2 AsylG.

Somit kann also gegenwärtig nicht davon ausgegangen werden, dass der Beschwerdeführer Gefahr liefe, willkürlich inhaftiert zu werden. Dabei wird nicht allgemein in Abrede gestellt, dass sich im Falle einer Inhaftierung Schwierigkeiten bei der Führung ordnungsgemäßer Asylverfahren ergeben könnten und dass auch die Frage der hinreichenden Rechtsmittelfrist hier von besonderer Relevanz ist. Das Hungarian Helsinki Committee verlangt in diesem Zusammenhang eine entsprechend genaue Beobachtung; dies hat aber keine konkreten Auswirkungen auf den hier zu prüfenden Einzelfall insofern, als dass man daraus schon die Gefahr einer Verletzung des Art 3 EMRK mit hinreichender Sicherheit annehmen müsste. Auch eine nur 8-tägige Rechtsmittelfrist kann (noch) nicht per se als unzulässige rechtliche Sonderposition angesehen werden. Dass Hilfsorganisationen auch in geschlossenen Zentren für Asylbewerber Hilfestellungen bei einer Beschwerde geben können, ist nach der vorliegenden Erkenntnislage anzunehmen.

Auch allgemein liegen keine Informationen dahingehend vor, dass in Ungarn keine positiven Asylentscheidungen ergingen und dass daraus unzulässige rechtliche Sonderpositionen im ungarischen Verfahren abzuleiten wären. Trotz aller Kritik am ungarischen Asylsystem hat UNHCR immer wieder zum Ausdruck gebracht, dass eine Zusammenarbeit mit ungarischen Behörden besteht und jedenfalls auch nicht dargelegt, dass das inhaltliche Asylverfahren in Ungarn bloß ein Scheinverfahren wäre, wie dies in anderen, Ungarn betreffenden, hiergerichtlichen Beschwerdeverfahren in den Raum gestellt wurde. So zeigen etwa die allgemein zugänglichen Zahlen von Eurostat, dass im ersten Quartal 2012 in Ungarn 330 Entscheidungen über Asylanträge getroffen worden sind, wobei davon 90 positive waren. Diese Zahl zeigt sohin keine auffälligen Abweichungen zu vergleichbaren Verfahrenszahlen anderer Staaten in der EU auf.

Es haben sich auch keine Hinweise darauf ergeben, dass dem Beschwerdeführer in Ungarn die notwendige Versorgung nicht gewährt würde. Wesentlich erscheint hierbei insbesondere, dass nach den vorliegenden verwaltungsbehördlichen Feststellungen NGOs in verschiedenen Unterbringungsstätten für Asylwerber in Ungarn aktiv sind, sohin man sich also an diese bei allfälligen Problemen wenden könnte. Der Beschwerdeführer hat ferner auch den verwaltungsbehördlichen Feststellungen nichts Konkretes entgegen gesetzt, wonach die medizinische Versorgung gewährleistet ist.

Das Vorbringen des Beschwerdeführers, es gebe in Ungarn keine Arbeit, keine Verpflegung und seien die Lager schmutzig, vermögen eine systematisch Art 3 EMRK-widrige Behandlung oder eine solche im Einzelfall jedenfalls nicht zu belegen und ergibt sich zusammengefasst kein Anlass, aufgrund drohender Verletzung des Art 3 EMRK das Selbsteintrittsrecht Österreichs auszuüben.

Es handelt sich beim Beschwerdeführer somit zum Entscheidungszeitpunkt um einen 27-jährigen gesunden Mann und sind keine Hinweise auf besondere Vulnerabilitätsaspekte erkennbar. Auch in der Beschwerde wird nichts vorgebracht, was eine Untersuchung seines körperlichen und geistigen Zustandes für notwendig erscheinen ließe. Aus der Aktenlage sind keine Hinweise auf einen aktuellen existenzbedrohenden Zustand ersichtlich.

Zusammenfassend sieht der Asylgerichtshof im Einklang mit der diesbezüglichen Sichtweise der erstinstanzlichen Behörde keinen Anlass, Österreich zwingend zur Anwendung des Art 3 Abs 2 VO 343/2003 infolge drohender Verletzung von Art 3 oder Art 8 EMRK zu verpflichten."

2. In der gegen diese Entscheidung gemäß Art 144 B-VG iVm § 7 VwGbk-ÜG erhobenen Beschwerde wird die Verletzung der verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte nach Art 3 EMRK, Art 47 GRC sowie auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander geltend gemacht und die kostenpflichtige Aufhebung der angefochtenen Entscheidung beantragt. Der Asylgerichtshof habe jegliches Eingehen auf das Vorbringen des Beschwerdeführers zu den Zuständen im Lager Bicske, in welchem er interniert gewesen sei, unterlassen. Ebenso sei der Asylgerichtshof nicht auf die in der Beschwerde genannten Berichte eingegangen. Das ungarische Asylwesen sei "unter der enormen Anzahl der Asylsuchenden kollabiert", was durch aktuelle Berichte belegt werden könne. Diese Berichte habe der Asylgerichtshof ebenso wenig berücksichtigt wie die am in Ungarn in Kraft getretene Änderung der Gesetzeslage, die eine wesentliche Verschärfung hinsichtlich der Inhaftierungsmöglichkeiten für im Rahmen des Dublin II-Systems rücküberstellte Asylwerber mit sich gebracht habe. Indem der Asylgerichtshof auch keine mündliche Verhandlung durchgeführt habe, habe er den Beschwerdeführer in seinem Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf im Sinne des Art 47 Abs 2 GRC verletzt.

3. Der Asylgerichtshof sah von der Erstattung einer Gegenschrift ab und übermittelte die Verfahrensakten.

II. Erwägungen

Der Verfassungsgerichtshof hat über die – zulässige – Beschwerde erwogen:

1. Nach der mit VfSlg 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s. etwa VfSlg 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs 1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.

Diesem einem Fremden durch ArtI Abs 1 leg.cit. gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl. zB VfSlg 16.214/2001), wenn der Asylgerichtshof dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s. etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001) oder wenn er bei Fällung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001 sowie 18.614/2008).

Ein willkürliches Verhalten der Behörde, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, ins-besondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001). Ein willkürliches Vorgehen liegt insbesondere dann vor, wenn die Behörde den Bescheid mit Ausführungen begründet, denen jeglicher Begründungswert fehlt (s. etwa VfSlg 13.302/1992 mit weiteren Judikaturhinweisen, 14.421/1996, 15.743/2000). Schließlich ist von einem willkürlichen Verhalten auch auszugehen, wenn die Behörde die Rechtslage gröblich bzw. in besonderem Maße verkennt (zB VfSlg 18.091/2007, 19.283/2010 mwN, 19.475/2011).

2. Ein solches willkürliches Verhalten ist dem Asylgerichtshof vorzuwerfen:

2.1. Mit Urteil vom , Rs. C-394/12, Abdullahi , stellte der Gerichtshof der Europäischen Union in Auslegung des Art 19 Abs 2 Dublin II-VO Folgendes fest:

"Art19 Abs 2 der Verordnung (EG) Nr 343/2003 des Rates vom zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist, ist dahin auszulegen, dass in einem Fall, in dem ein Mitgliedstaat der Aufnahme eines Asylbewerbers nach Maßgabe des in Art 10 Abs 1 der Verordnung niedergelegten Kriteriums zugestimmt hat, d. h. als der Mitgliedstaat der ersten Einreise des Asylbewerbers in das Gebiet der Europäischen Union, der Asylbewerber der Heranziehung dieses Kriteriums nur damit entgegentreten kann, dass er systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat geltend macht, die ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass er tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ausgesetzt zu werden."

2.2. Auch der Verfassungsgerichtshof geht in Übereinstimmung mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (s. etwa EGMR , Fall Soering , EuGRZ1989, 314 [319]; , Fall Vilvarajah ua., ÖJZ1992, 309 [309]; , Fall Hilal , ÖJZ2002, 436 [436 f.]) davon aus, dass die Entscheidung eines Vertragsstaates, einen Fremden auszuweisen – oder in welcher Form immer außer Landes zu schaffen –, unter dem Blickwinkel des Art 3 EMRK (bzw. des Art 4 GRC) erheblich werden und demnach die Verantwortlichkeit des Staates nach der EMRK bzw. der GRC begründen kann, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme glaubhaft gemacht worden sind, dass der Fremde konkret Gefahr liefe, in dem Land, in das er ausgewiesen werden soll, Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen zu werden (vgl. VfSlg 13.837/1994, 14.119/1995, 14.998/1997).

Dies gilt auch für den Fall, dass ein anderer Mitgliedstaat der Europäischen Union gemäß Dublin II-VO für die Prüfung eines im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten gestellten Asylantrages zuständig ist. Grundsätzlich begründet die Dublin II-VO zwar ein System wechselseitiger Verpflichtungen zwischen den Mitgliedstaaten zur Einhaltung eines rechtsstaatlich und menschenrechtlich geordneten Asylwesens, auf das die Mitgliedstaaten auch vertrauen können (vgl. und C-493/10, N.S. ua., Rz 78 – 80, sowie , Abdullahi , Rz 52 – 55). Dies allerdings nur solange, als nicht systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen im Sinne der Rechtsprechung des EuGH bestehen. Insofern muss geprüft werden, ob ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme vorliegen, dass ein Asylwerber tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ausgesetzt zu werden ( und C-493/10, N.S. ua., Rz 86, sowie , Abdullahi , Rz 62). So können zum Beispiel eine Krankheit des Asylwerbers oder die ihn erwartenden Zustände im Aufnahmemitgliedstaat zur Unzulässigkeit einer Überstellung in diesen Staat im Hinblick auf die reale Gefahr einer Verletzung der durch Art 3 EMRK geschützten Rechte führen (vgl. VfSlg 18.407/2008 sowie EGMR , Fall M.S.S. , Appl. 30.696/09). In einem solchen Fall ist das Selbsteintrittsrecht gemäß Art 3 Abs 2 Dublin II-VO zwingend auszuüben. Daraus ergibt sich die Verpflichtung der Asylbehörde, den zur Beurteilung der Verpflichtung zum Selbsteintritt wesentlichen Sachverhalt festzustellen und zu würdigen (vgl. etwa VfSlg 19.264/2010; ).

2.3. Vor diesem Hintergrund hat der Asylgerichtshof nähere Ermittlungen in einem entscheidungswesentlichen Punkt unterlassen:

2.3.1. In seiner Beschwerde an den Asylgerichtshof vom behauptete der Beschwerdeführer im Wesentlichen, dass ihm in Ungarn keine adäquate Versorgung und nur schlechte hygienische Bedingungen zuteil geworden seien. In Ungarn sei das Asylsystem de facto zusammengebrochen, das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylwerber wiesen systemische Mängel auf. Zudem würden Asylwerber dort flächendeckend inhaftiert oder andernfalls der Obdachlosigkeit ausgesetzt werden. Die Lage habe sich insbesondere durch eine am in Kraft getretene Änderung der ungarischen Asylrechtslage verschärft.

Zur Untermauerung seiner Behauptungen führte der Beschwerdeführer mehrere Beschlüsse deutscher Verwaltungsgerichte (VGFrankfurt/Oder , 1 L 213/13.A; VGMagdeburg , 9 B140/13 MD; VGMünchen , M 1 K 13.30169) ins Treffen, welchen zufolge "erhebliche Anhaltspunkte dafür [bestünden], dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in Ungarn systematische Mängel aufweisen und für den Antragsteller die europäischen Mindeststandards nicht gewährleistet sind". Laut einem Bericht der "UN-Working Group on Arbitrary Detention" vom Oktober 2013 sei seit dem Inkrafttreten der Gesetzesnovelle am in Ungarn die Situation der Inhaftierung von Asylwerbern und ihrer Rechtsmittelmöglichkeiten "besorgniserregend". Schließlich verwies der Beschwerdeführer auch auf Berichte der Nichtregierungsorganisation Pro Asyl von Oktober 2013 sowie des Hungarian Helsinki Committee von Ende Juni 2013.

2.3.2. Mit dieser Berichtslage setzt sich der Asylgerichtshof in der angefochtenen Entscheidung jedoch nicht auseinander. Überhaupt stellt er keine eigenen Ermittlungen zur Situation von im Rahmen der Dublin II-VO rücküberstellten Asylwerbern in Ungarn an, sondern legt nur die im Bescheid des Bundesasylamtes vom getroffenen Feststellungen seiner Entscheidung zugrunde. In diesem Zusammenhang berücksichtigt der Asylgerichtshof lediglich den Bericht "Note on Dublin transfers to Hungary of people who have transited through Serbia – update" des UNHCR von Dezember 2012, dem zufolge "positive Entwicklungen" festzustellen seien: Eine am in Kraft getretene Gesetzesänderung habe zu einer Verbesserung der Situation für Asylwerber geführt; die inhaltliche Prüfung eines Asylantrages werde nicht mehr verwehrt, wenn der antragstellende Asylwerber über Serbien oder die Ukraine nach Ungarn gereist sei; zudem seien Verbesserungen bezüglich der Inhaftierung von Asylwerbern zu konstatieren (unter Bezugnahme auf diesen Bericht entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte am , Fall Mohammed , Appl. 2283/12, dass Österreich mit einer Überstellung eines Asylwerbers nach Ungarn auf Grundlage der Dublin II-VO keine Verletzung von Art 3 EMRK vorzuwerfen sei).

Am trat in Ungarn aber eine neuerliche Gesetzesänderung in Kraft, die nach dem Bericht des Hungarian Helsinki Committee "Brief information note on the main asylum-related legal changes in Hungary as of 1 July 2013" vom die Möglichkeiten für die Anhaltung bzw. Inhaftierung von Asylwerbern massiv ausgeweitet und zugleich die Rechtsschutzmöglichkeiten einschränkt habe; zudem seien die Asylwerberaufnahmelager überfüllt, was zu einer gravierenden Verschlechterung der dortigen hygienischen Bedingungen geführt habe.

2.3.3. Auf diese erneute Rechtslagenänderung in Ungarn geht der Asylgerichtshof nur insoweit ein, als er dem genannten Bericht des Hungarian Helsinki Committee die Forderung nach "einer entsprechend genauen Beobachtung" der Situation für Dublin-Rückkehrer entnimmt. Die in der Beschwerde vom ins Treffen geführten Berichte und Entscheidungen, welche größtenteils aus dem Zeitraum nach dem stammen und auf die aktuelle Situation Bezug nehmen, lässt der Asylgerichtshof hingegen völlig unberücksichtigt. Vor dem Hintergrund der Entwicklung der Judikatur des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte und der Berichtslage betreffend das ungarische Asylsystem ist der Verfassungsgerichtshof der Auffassung, dass der Asylgerichtshof im Zeitpunkt seiner Entscheidung im November 2013 jedenfalls das aktuellste – die nach der am in Kraft getretenen Gesetzesänderung entstandene Situation berücksichtigende – Berichtsmaterial zur Lage für Asylwerber in Ungarn heranziehen und würdigen hätte müssen, um beurteilen zu können, ob betreffend den Beschwerdeführer "ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme [bestehen], dass er tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ausgesetzt zu werden" (, Abdullahi , Rz 60). Wie die Beschwerde vom aufzeigte, war dem Asylgerichtshof diese Berichtslage auch zugänglich. Indem er dies im vorliegenden Fall unterließ, belastete er die angefochtene Entscheidung mit Willkür.

III. Ergebnis

1. Der Beschwerdeführer ist somit durch die angefochtene Entscheidung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander verletzt worden.

Die angefochtene Entscheidung ist daher aufzuheben.

2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– enthalten.

3. Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

European Case Law Identifier

ECLI:AT:VFGH:2014:U2543.2013