VfGH vom 25.02.2013, U2241/12

VfGH vom 25.02.2013, U2241/12

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens durch Ausweisung eines russischen Staatsangehörigen infolge verfassungswidriger Interessenabwägung; keine ausreichende Berücksichtigung der besonderen Schwere des Eingriffs

Spruch

I. Der Beschwerdeführer ist durch die angefochtene Ent scheidung im ver fassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Art 8 EMRK verletzt worden. Die Entscheidung wird aufgehoben.

II. Der Bund (Bundeskanzler) ist schuldig, dem Beschwerde führer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.400,– bestimmten Prozess kosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerdevorbringen und Vorverfahren

1. Der Beschwerdeführer ist russischer Staatsangehöriger und Angehöriger der tschetschenischen Volksgruppe. Er reiste gemeinsam mit seinen Eltern und seinen vier Geschwistern im Dezember 2007 nach Österreich ein und stellte einen Antrag auf internationalen Schutz. Fluchtauslösend war nach Angaben des Beschwerdeführers seine Entführung durch unbekannte maskierte Männer im Jahr 2006 im Zuge derer er schwer misshandelt worden sei. Nach mehrmaliger Einvernahme wies das Bundesasylamt mit Bescheid vom die Anträge auf Zuerkennung von Asyl bzw. subsidiären Schutz ab und den Beschwerdeführer aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Russische Föderation aus. Begründet wurde diese Entscheidung im Wesentlichen damit, das Vorbringen des Beschwerdeführers sei nicht glaubhaft gewesen.

2. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer fristgereicht Beschwerde an den Asylgerichtshof. Mit Schriftsatz vom gab der Beschwerde führer bekannt, dass er am seine nunmehrige Gattin, eine in Österreich asylberechtigte russische Staatsangehörige geehelicht habe. Am langte beim Asylgerichtshof die Geburtsurkunde des am geborenen Sohnes des Beschwerdeführers und seiner Gattin ein. Eine im März 2012 durchgeführte Anfrage beim Zentralen Melderegister ergab, dass sich der Beschwerdeführer seit Jänner 2012 eine gemeinsame Unterkunft mit seiner Ehefrau und seinem Sohn teilte. Am führte der Asyl gerichtshof eine mündliche Verhandlung durch. Mit Entscheidung vom wies der Asylgerichtshof die Beschwerde ab und den Beschwerdeführer aus dem österreichischen Bundesgebiet aus. Die Abweisung der Beschwerde begründete der Asylgerichtshof ebenfalls mit der mangelnden Glaubwürdigkeit des Beschwerdeführers. Zur Ausweisung stellte der Asyl gerichtshof fest, dass mit dieser zwar ein Eingriff in das Recht auf Achtung des Familienlebens einhergehe, welcher aber in Anbetracht der durchgeführten Interessenabwägung zulässig sei. Die Schutzbedürftigkeit der Interessen des Beschwerdeführers sah der Asyl gerichtshof insbesondere dadurch gemindert, dass das Familienleben erst während des laufenden Asylverfahrens begründet wurde, erst seit Kurzem ein gemeinsamer Haushalt bestehe und der Beschwerdeführer bereits zweimal strafgerichtlich verurteilt worden sei.

3. Gegen die Entscheidung des Asylgerichtshofes richtet sich die vorliegende auf Art 144a B VG gestützte Beschwerde, in der der Beschwerdeführer die Ver letzung in verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten geltend macht. Der Asylgerichtshof legte die Verwaltungsakten vor, verzichtete auf einen Gegen schrift und beantragt die Beschwerde abzuweisen.

II. Erwägungen

Der Verfassungsgerichtshof hat über die – zulässige – Beschwerde erwogen:

1. Ein Eingriff in das durch Art 8 EMRK verfassungsgesetz lich garantierte – unter Gesetzesvorbehalt stehende – Recht ist dann verfassungswidrig, wenn der ihn verfügende Bescheid ohne jede Rechtsgrundlage ergangen ist, auf einer dem Art 8 EMRK wider sprechenden Rechtsvorschrift beruht oder wenn die Behörde bei Erlassung des Bescheides eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Rechts grundlage in denkunmöglicher Weise angewendet hat; ein solcher Fall liegt nur vor, wenn die Behörde einen so schweren Fehler begangen hat, dass dieser mit Gesetzlosigkeit auf eine Stufe zu stellen wäre, oder wenn sie der angewendeten Rechts vorschrift fälschlicherweise einen verfassungswidrigen, insbe sondere einen dem Art 8 Abs 1 EMRK widersprechenden und durch Art 8 Abs 2 EMRK nicht gedeckten Inhalt unterstellt hat (vgl. VfSlg 11.638/1988, 15.051/1997, 15.400/1999, 16.657/2002). Für Entscheidungen des Asylgerichtshofes gelten sinngemäß dieselben verfassungsrechtlichen Schranken.

2. Ein derartiger, in die Verfassungssphäre reichender Fehler ist dem Asylgerichts hof bei der gemäß Art 8 Abs 2 EMRK gebotenen Abwägung unter laufen:

2.1. Der Asylgerichtshof kommt zu dem Ergebnis, dass mit der Ausweisung des Beschwerdeführers zwar in sein Recht auf Familienleben eingegriffen wird, dieser Eingriff aber angesichts des überwiegenden öffentlichen Interesses an der Aufenthaltsbeendigung verhältnismäßig und daher gerechtfertigt sei. Diese Be urteilung stützt der Asylgerichtshof unter anderem auf den Umstand, dass der Betroffene sein Familienleben erst zu einem Zeitpunkt begründet hat, an dem ihm bewusst sein musste, dass sein weiterer Aufenthalt in Österreich ungewiss war, dass der Beschwerdeführer zwei Mal strafgerichtlich verurteilt worden ist und keine positive Zukunftsprognose abgegeben werden könne und dass dem Beschwerdeführer zugemutet werden könne, dass er die Beziehung zu seiner Ehefrau und seinem Sohn vorübergehend im Wege moderner Medien (Internet, Skype, Telefon, … ) in der Russischen Föderation fortsetze.

2.2. Sowohl die Ehefrau als auch der Sohn des Beschwerdeführers wurden als Flüchtlinge iSd Genfer Flüchtlingskonvention in Bezug auf jenen Staat anerkannt, in den der Beschwerdeführer ausgewiesen wird. Eine Fortsetzung des Familien lebens in diesem Staat erscheint daher ausgeschlossen. Wie der Verfassungs gerichtshof bereits in VfSlg 19.220/2010 festgestellt hat, ergibt sich aus diesem Umstand, dass der mit der Ausweisung verbundene Eingriff in das Recht auf Familienleben als besonders intensiv zu betrachten ist.

2.3. Der Verfassungsgerichtshof hat bereits in seinem Erkenntnis U119/12 vom ausgesprochen, dass die Begründung des Familienlebens zu einem Zeitpunkt an dem sich die betroffene Person der Unsicherheit ihres Auf enthaltsstatus bewusst sein musste, nicht zur Folge hat, dass eine allfällige Aus weisung keinen Eingriff in das Recht auf Achtung des Familienlebens darstellen würde. Im vorliegenden Fall bejaht der Asylgerichtshof zwar einen Eingriff in dieses verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht, wertet aber den Zeitpunkt der Begründung des Familienlebens als einen die Schutzwürdigkeit der Interessen des Beschwerdeführers mindernden Umstand. Dabei berücksichtigt der Asyl gerichtshof nicht, dass die erstinstanzliche Abweisung des Antrages des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz bereit im August 2008 ergangen ist und der Asylgerichtshof in der Folge – ohne Vorliegen außergewöhnlich komplexer Rechtsfragen und ohne, dass dem nunmehrigen Beschwerdeführer die lange Dauer des Asylverfahrens anzulasten wäre – mehr als vier Jahre be nötigte um über die fristgerecht dagegen erhobene Beschwerde zu entscheiden. Es erscheint unverhältnismäßig vom Beschwerdeführer zu erwarten, während dieser Zeit keine persönlichen Bindungen einzugehen, die in der Folge auch zur Entstehung eines schutzwürdigen Familienlebens führen können.

2.4. Als weiteres wesentliches Element, das bei der vom Asylgerichtshof vorge nommenen Interessenab wägung zu Lasten des Beschwerdeführers ausschlage, nennt der Asyl gerichtshof zwei strafrechtliche Verurteilungen, und knüpft daran den ent scheidungswesentlichen Schluss, dass diese keine positive Zukunfts prognose erlauben würden. Den vom Asylgerichtshof vorgelegten Akten lässt sich ent nehmen, dass die erste Tat bereits vier Jahre zurück liegt und zu einem Zeitpunkt begangen wurde, an dem der Beschwerdeführer noch als junger Erwachsener galt. Bei beiden Straftaten zeigt die jeweilige Höhe der verhängten Strafe (zwei Monate Haft bedingt auf drei Jahre Probezeit bzw. drei Monate Haft bedingt auf drei Jahre Probezeit), dass das Unwerturteil in beiden Fällen am unteren Rand der Skala anzusiedeln ist (was der Asylgerichtshof begründungslos außer Acht lässt). Vor allem aber bezieht der Asylgerichtshof in seine Abwägung den Umstand nicht ein, dass der Beschwerdeführer seither eine Familie ge gründet hat, mit der er auch lebt. Die Stabilisierung des Familien lebens ist aber ein für die anzustellende Zukunftsprognose nicht zu vernach lässigender Umstand und daher bei der vorzunehmenden Abwägung mit zu be rücksichtigen.

2.5. Nicht nachvollziehbar ist schließlich für den Verfassungsgerichtshof, wie der Asylgerichtshof zu der Ansicht kommt, dass der Beschwerdeführer die Beziehung zu seinem Sohn vorübergehend "im Wege moderner Medien (Internet, Skype, Telefon,…)" in der Russischen Föderation fortsetzen könne. Dementgegen ist die Annahme lebensfremd, dass die üblichen Kommunikationsvorgänge im Zu sammenhang der Beziehung zwischen einem Vater und einem etwa einjährigen Kind, nämlich vor allem körperliche Nähe und nonverbale Interaktion, durch elektronische Medien ersetzt werden können.

3. Der Asylgerichtshof hat daher bei der Abwägung zwischen dem subjektiven Interesse des Beschwerdeführers an der Aufrechterhaltung seines Familien lebens und dem öffentlichen Interesse an der Aufenthaltsbeendigung rechtlich unzulässige Bewertungskriterien herangezogen, gebotene Kriterien außer acht gelassen, und andere wieder falsch gewichtet; er hat insgesamt die besondere Schwere des Eingriffs nicht ausreichend berücksichtigt. Dadurch hat der Asyl gerichtshof das verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht des Beschwerde führers auf Achtung seines Familienlebens im Sinne des Art 8 EMRK verletzt.

4. Der Bescheid ist daher aufzuheben.

5. Die Kostenentscheidung beruht auf §§88a iVm 88 VfGG. In den zuge sprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 400,– enthalten.

6. Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 erster Satz VfGG ohne münd liche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.