TEL.: +43 1 246 30-801  |  E-MAIL: support@lindeverlag.at
Suchen Hilfe
VfGH vom 25.09.2013, U1937/2012 ua

VfGH vom 25.09.2013, U1937/2012 ua

19790

Leitsatz

Kein Verstoß des im Asylgesetz 2005 normierten Neuerungsverbotes im Berufungsverfahren gegen das in der EU-Grundrechte-Charta enthaltene Recht auf Zugang zu Gericht angesichts einer verhältnismäßigen Beschränkung; keine Verletzung im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander durch Abweisung der Asylanträge zweier afghanischer Staatsangehöriger

Spruch

Die Beschwerdeführerinnen sind durch die angefochtenen Entscheidungen weder in einem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht noch wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm in ihren Rechten verletzt worden.

Die Beschwerde wird abgewiesen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerdevorbringen und Vorverfahren

1. Die Beschwerdeführerinnen sind afghanische Staatsangehörige; bei der Zweitbeschwerdeführerin handelt es sich um die Tochter der Erstbeschwerdeführerin. Der Ehemann der Erstbeschwerdeführerin und Vater der Zweitbeschwerdeführerin reiste bereits im Jahr 2008 nach Österreich und stellte einen Antrag auf internationalen Schutz. Dabei brachte er vor, vom Iran nach Afghanistan abgeschoben worden zu sein, wo er in die Hände der Taliban gefallen wäre. Vor diesen wäre er geflüchtet.

2. Die Beschwerdeführerinnen sowie zwei weitere Kinder der Erstbeschwerdeführerin stellten am bei der Österreichischen Botschaft Islamabad einen Antrag auf Einreise und auf internationalen Schutz im Rahmen des Familienverfahrens (§§34, 35 Abs 1 iVm § 2 Abs 1 Z 13 Asylgesetz 2005, BGBl I 100/2005 idF BGBl I 122/2009). Nach rechtmäßiger Einreise nach Österreich gab die Erstbeschwerdeführerin im Rahmen der Erstbefragung vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes am für sich selbst und als gesetzliche Vertreterin der Zweitbeschwerdeführerin an, über keine eigenen Asylgründe zu verfügen, sondern den Antrag als Familienangehörige des Ehemannes beziehungsweise Vaters zu stellen.

Im Rahmen der Einvernahme vor dem Bundesasylamt am blieb die Erstbeschwerdeführerin bei ihren Angaben, wonach sie wegen ihres Mannes mit ihren Kindern nach Österreich gereist wäre. Den Iran, wo sie zunächst nach der Abschiebung ihres Mannes noch gelebt hätten, hätten sie aus Angst, ebenfalls abgeschoben zu werden, verlassen. Die Erstbeschwerdeführerin hätte in Afghanistan ohne ihren Mann nicht leben können, dort jedoch persönlich keine Probleme gehabt. Im Fall ihrer Rückkehr fürchtete sie, dass die Taliban sie und ihre gesamte Familie umbringen würden.

3. Im Hinblick auf dieses Vorbringen wurden die Anträge der Beschwerdeführerinnen mit Bescheiden des Bundesasylamtes vom hinsichtlich der Zuerkennung von Asyl abgewiesen, ihnen jedoch der Status von subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und eine auf ein Jahr befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt. Da die Beschwerdeführerinnen keine eigenen Fluchtgründe vorgebracht hätten, wäre von ihnen kein in der Genfer Flüchtlingskonvention genannter Fluchtgrund glaubhaft gemacht worden. Dem Ehemann bzw. Vater wäre lediglich subsidiärer Schutz zuerkannt worden, welcher gemäß § 34 AsylG 2005 auch den Beschwerdeführerinnen zuzuerkennen wäre.

4. Gegen den abweisenden Teil dieses Bescheides erhoben die Beschwerdeführerinnen Beschwerde an den Asylgerichtshof. Dieser führte daraufhin am eine gemeinsame Verhandlung über die Beschwerde der Erstbeschwerdeführerin sowie ihres Ehemannes durch, in der die Erstbeschwerdeführerin zu den Ereignissen, beginnend mit ihrer behaupteten Rückkehr vom Iran nach Afghanistan zum Zweck der Beschaffung von Reisedokumenten und zum weiteren Verlauf ihrer Reise über Pakistan nach Österreich, umfassend befragt wurde. Die Erstbeschwerdeführerin gab dabei an, dass sie während ihres Aufenthaltes in Afghanistan große Angst gehabt hätte, erkannt zu werden. Das Haus hätte sie daher nur in Begleitung ihres Sohnes unter einer Burka verlassen. Die älteste Tochter der Erstbeschwerdeführerin hätte in Pakistan zurück bleiben müssen, weil ein Freund ihres Ehemannes gewollt hätte, dass sein Sohn diese ehelichte.

5. Mit den angefochtenen Entscheidungen wies der Asylgerichtshof die an ihn gerichteten Beschwerden gemäß § 3 Abs 1 Asylgesetz 2005, BGBl I 100/2005 idF BGBl I 38/2011 (im Folgenden: AsylG 2005), als unbegründet ab.

5.1. In der Begründung der an die Erstbeschwerdeführerin ergangenen Entscheidung stellt der Asylgerichtshof fest, dass diese mit den Behörden ihres Herkunftsstaates niemals Probleme gehabt habe. Ein konkreter Anlass für das Verlassen des Herkunftsstaates habe nicht festgestellt werden können. Grund für die Ausreise der Erstbeschwerdeführerin seien persönliche Gründe, die dortigen prekären Lebensbedingungen und vor allem die Absicht, fortan bei ihrem in Österreich rechtmäßig aufhältigen Ehemann zu leben. Der Asylgerichtshof trifft umfangreiche Länderfeststellungen zu Afghanistan, speziell auch zur Lage von Frauen.

5.2. Im Rahmen der Beweiswürdigung kommt der Asylgerichtshof mit ausführlicher Begründung zum Ergebnis, dass die Erstbeschwerdeführerin trotz zahlreicher ihr gebotener Gelegenheiten nicht in der Lage gewesen sei, eine Verfolgung aus asylrelevanten Gründen glaubhaft zu machen. Sie habe Widersprüche in ihrem Vorbringen trotz intensiven Nachfragens in der mündlichen Verhandlung nicht aufzulösen vermocht und sei nicht bereit gewesen, ihre vagen Angaben zu konkretisieren. Bis zur mündlichen Verhandlung habe sich ihr Fluchtvorbringen ausschließlich auf die behaupteten Probleme ihres Ehemannes gestützt. Insoweit sei auf die ihn betreffende Entscheidung des Asylgerichtshofes vom selben Tag zu verweisen, in dem dessen Vorbringen als nicht glaubhaft beurteilt worden sei. Die Erstbeschwerdeführerin sei zwecks Ausstellung von Reisedokumenten nach Afghanistan zurückgekehrt, obwohl sie sich dazu auch an eine afghanische Vertretung im Iran oder in Pakistan hätte wenden können. Im Übrigen ergebe sich aus dem Umstand, dass die Erstbeschwerdeführerin zwischen dem Iran, Afghanistan und Pakistan hin- und hergereist sei, sowie aus der Tatsache, dass sie im gesamten Verfahren keinen Anlass für ihre letztmalige Ausreise aus Afghanistan vorgebracht habe, dass die Erstbeschwerdeführerin ihren Herkunftsstaat jedenfalls nicht fluchtartig verlassen habe.

5.3. Das Vorbringen, wonach die Ausreise der Erstbeschwerdeführerin ursächlich auf ihre Situation als Frau zurückzuführen sei, beurteilt der Asylgerichtshof nicht als Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention, sondern als asylrechtlich unbeachtlich. Ein dazu von der Erstbeschwerdeführerin erstmals in der mündlichen Verhandlung bzw. in einer anschließenden schriftlichen Stellungnahme erstattetes weiteres Vorbringen qualifiziert der Asylgerichtshof als "Versuch einer nach Maßgabe des § 40 AsylG 2005 unzulässigen Steigerung des bisherigen Vorbringens", um darüber hinaus einen asylrelevanten Sachverhalt zu konstruieren. Konkrete Anhaltspunkte dahingehend, dass es ihr nicht möglich gewesen wäre, den Umstand ihrer Verfolgung als Frau in Afghanistan bereits vor dem Bundesasylamt vorzubringen, seien nicht hervorgekommen und habe die Erstbeschwerdeführerin auch nicht dargelegt. Abgesehen davon habe die Erstbeschwerdeführerin die meisten Fragen zu ihrer persönlichen Lage in Afghanistan, die auch für die Beurteilung ihrer spezifischen Situation als afghanische Frau von wesentlicher Bedeutung gewesen wären, nur vage oder ausweichend beantwortet. In Bezug auf die Zweitbeschwerdeführerin und die sie betreffende Verfolgungswahrscheinlichkeit als Frau in Afghanistan trifft der Asylgerichtshof im Wesentlichen gleichlautende Ausführungen.

6. Gegen diese Entscheidungen richtet sich die vorliegende Beschwerde, in der sich die Beschwerdeführerinnen in den Rechten auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs 1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973), auf Asyl (Art18 Charta der Grundrechte der Europäischen Union, im Folgenden: GRC) sowie auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht (Art47 GRC) verletzt erachten. Weiters erachten die Beschwerdeführerinnen das Neuerungsverbot des § 40 Abs 1 AsylG 2005 als Art 47 GRC widersprechend und regen insoweit die Einleitung eines Gesetzesprüfungsverfahrens an.

7. Der Asylgerichtshof legte die Akten des Asylverfahrens vor und erstattete eine Gegenschrift, in der er die Abweisung der Beschwerde beantragte.

II. Rechtslage

1. § 3 Abs 1 und 2 sowie § 40 Asylgesetz 2005, BGBl I 100/2005 idF BGBl I 38/2011, haben folgenden Wortlaut:

"Status des Asylberechtigten

§3. (1) Einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, ist, soweit dieser Antrag nicht wegen Drittstaatsicherheit oder Zuständigkeit eines anderen Staates zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht.

(2) Die Verfolgung kann auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Fremde seinen Herkunftsstaat verlassen hat (objektive Nachfluchtgründe) oder auf Aktivitäten des Fremden beruhen, die dieser seit Verlassen des Herkunftsstaates gesetzt hat, die insbesondere Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind (subjektive Nachfluchtgründe). Einem Fremden, der einen Folgeantrag (§2 Z 23) stellt, wird in der Regel nicht der Status des Asylberechtigten zuerkannt, wenn die Verfolgungsgefahr auf Umständen beruht, die der Fremde nach Verlassen seines Herkunftsstaates selbst geschaffen hat, es sei denn, es handelt sich um in Österreich erlaubte Aktivitäten, die nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind.

[…]

Vorbringen in der Beschwerde

§40. (1) In einer Beschwerde gegen eine Entscheidung des Bundesasylamtes dürfen neue Tatsachen und Beweismittel nur vorgebracht werden,

1. wenn sich der Sachverhalt, der der Entscheidung zu Grunde gelegt wurde, nach der Entscheidung erster Instanz maßgeblich geändert hat;

2. wenn das Verfahren erster Instanz mangelhaft war;

3. wenn diese dem Asylwerber bis zum Zeitpunkt der Entscheidung erster Instanz nicht zugänglich waren oder

4. wenn der Asylwerber nicht in der Lage war, diese vorzubringen.

(2) Über die Zulässigkeit des Vorbringens neuer Tatsachen und Beweise muss nicht entschieden werden, wenn diese für die Entscheidung des Asylgerichtshofes nicht maßgeblich sind."

2. Gemäß Art 129c Z 1 B VG erkennt der Asylgerichtshof nach Erschöpfung des Instanzenzuges über Bescheide der Verwaltungsbehörden in Asylsachen.

3. § 23 Abs 1 Bundesgesetz über den Asylgerichtshof (Asylgerichtshofgesetz – AsylGHG), BGBl I 4/2008 idF BGBl I 147/2008, lautet:

"Verfahren

§23. (1) Soweit sich aus dem Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), BGBl I Nr 100, nicht anderes ergibt, sind auf das Verfahren vor dem Asylgerichtshof die Bestimmungen des Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetzes 1991 (AVG), BGBl Nr 51, mit der Maßgabe sinngemäß anzuwenden, dass an die Stelle des Begriffs 'Berufung' der Begriff 'Beschwerde' tritt.

[…]"

4. Die §§37, 45 und 46 des Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetzes 1991 – AVG, BGBl 51/1991 idF BGBl I 100/2011, lauten:

"Allgemeine Grundsätze

§37. Zweck des Ermittlungsverfahrens ist, den für die Erledigung einer Verwaltungssache maßgebenden Sachverhalt festzustellen und den Parteien Gelegenheit zur Geltendmachung ihrer Rechte und rechtlichen Interessen zu geben. Nach einer Antragsänderung (§13 Abs 8) hat die Behörde das Ermittlungsverfahren insoweit zu ergänzen, als dies im Hinblick auf seinen Zweck notwendig ist.

[…]

Allgemeine Grundsätze über den Beweis

§45. (1) Tatsachen, die bei der Behörde offenkundig sind, und solche, für deren Vorhandensein das Gesetz eine Vermutung aufstellt, bedürfen keines Beweises.

(2) Im übrigen hat die Behörde unter sorgfältiger Berücksichtigung der Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens nach freier Überzeugung zu beurteilen, ob eine Tatsache als erwiesen anzunehmen ist oder nicht.

(3) Den Parteien ist Gelegenheit zu geben, vom Ergebnis der Beweisaufnahme Kenntnis und dazu Stellung zu nehmen.

§46. Als Beweismittel kommt alles in Betracht, was zur Feststellung des maßgebenden Sachverhaltes geeignet und nach Lage des einzelnen Falles zweckdienlich ist."

5. Art 18, 47 und 52 GRC lauten (letzter auszugsweise):

"Artikel 18

Asylrecht

Das Recht auf Asyl wird nach Maßgabe des Genfer Abkommens vom und des Protokolls vom über die Rechtsstellung der Flüchtlinge sowie gemäß dem Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft gewährleistet.

[…]

Artikel 47

Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht

Jede Person, deren durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, hat das Recht, nach Maßgabe der in diesem Artikel vorgesehenen Bedingungen bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen.

Jede Person hat ein Recht darauf, dass ihre Sache von einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. Jede Person kann sich beraten, verteidigen und vertreten lassen.

Personen, die nicht über ausreichende Mittel verfügen, wird Prozesskostenhilfe bewilligt, soweit diese Hilfe erforderlich ist, um den Zugang zu den Gerichten wirksam zu gewährleisten.

[…]

Artikel 52

Tragweite und Auslegung der Rechte und Grundsätze

(1) Jede Einschränkung der Ausübung der in dieser Charta anerkannten Rechte und Freiheiten muss gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten. Unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit dürfen Einschränkungen nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen.

[…]

(3) Soweit diese Charta Rechte enthält, die den durch die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten garantierten Rechten entsprechen, haben sie die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie ihnen in der genannten Konvention verliehen wird. Diese Bestimmung steht dem nicht entgegen, dass das Recht der Union einen weiter gehenden Schutz gewährt.

[…]"

I. Erwägungen

Der Verfassungsgerichtshof hat über die – zulässige – Beschwerde erwogen:

1. Nach Ansicht der Beschwerdeführerinnen widerspreche das in § 40 Abs 1 AsylG 2005 normierte Neuerungsverbot dem Recht auf eine wirksame Beschwerde, welches nicht nur aus Art 47 GRC hervorgehe, sondern auch in Art 39 der Richtlinie 2005/85/EG des Rates vom über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft, ABl. L 326, 13-34 (im Folgenden: Verfahrensrichtlinie), verbindlich festgelegt sei. In den Verfahren der Beschwerdeführerinnen habe vor dem Bundesasylamt keine Rechtsberatung stattgefunden, erst im Beschwerdeverfahren habe nach Art 15 Abs 2 Verfahrensrichtlinie erstmals ein Recht auf kostenlose Rechtsberatung bestanden, welches durch die Beschwerdeführerinnen auch in Anspruch genommen worden sei. Wenn sich der Asylgerichtshof in der Situation einer erstmals im Beschwerdeverfahren gewährten Rechtsberatung zu Recht auf ein Verbot eines ergänzenden oder gänzlich neuen Vorbringens stützen könnte, wäre sowohl das Recht auf Beratung als auch das Recht auf eine wirksame Beschwerde unterlaufen. In diesem Zusammenhang regen die Beschwerdeführerinnen eine Gesetzesprüfung des § 40 AsylG 2005 wegen Verstoßes gegen Art 47 GRC an.

2. In seinem Erkenntnis VfSlg 19.632/2012 hat der Verfassungsgerichtshof ausgesprochen, dass der unionsrechtliche Äquivalenzgrundsatz in Verbindung mit der innerstaatlichen Verfassungsrechtslage zur Folge hat, dass auch die von der GRC garantierten Rechte vor dem Verfassungsgerichtshof als verfassungsgesetzlich gewährleistete Rechte gemäß Art 144 bzw. Art 144a B VG geltend gemacht werden können und sie im Anwendungsbereich der GRC einen Prüfungsmaßstab in Verfahren der generellen Normenkontrolle, insbesondere nach Art 139 und 140 B-VG bilden. Dies gilt jedenfalls dann, wenn die betreffende Garantie der GRC in ihrer Formulierung und Bestimmtheit verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten der österreichischen Bundesverfassung gleicht. Infolge der völlig unterschiedlichen normativen Struktur der in der GRC enthaltenen Verbürgungen ist jeweils im Einzelfall zu entscheiden, welche Rechte der GRC einen Prüfungsmaßstab für das Verfahren vor dem Verfassungsgerichtshof bilden.

Hinsichtlich Art 47 Abs 2 GRC führte der Verfassungsgerichtshof im vorzitierten Erkenntnis Folgendes aus:

"[…] Im Anwendungsbereich von Art 6 EMRK hat Art 47 Abs 2 GRC die gleiche Tragweite und Bedeutung wie jener. Jenseits dessen gelten die Garantien des Art 6 EMRK für den Anwendungsbereich des Art 47 Abs 2 GRC entsprechend (so die Erläuterungen zur Grundrechte-Charta, ABl. 2007 C303, S 30). Dabei ist zu beachten, dass die Garantien in Abhängigkeit von der Materie, vom Verfahrensgegenstand und von der Instanz in unterschiedlichem Maße gelten, das wiederum vom Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bestimmt ist. Bei Strafverfahren gelten die strengsten Anforderungen, im Rahmen von Zivilverfahren akzeptieren der Verfassungsgerichtshof und der EGMR Beschränkungen insbesondere bei der mündlichen Verhandlung und bei der Kontrolldichte, wenn es sich um Verwaltungsverfahren handelt, die bloße Auswirkungen auf Zivilrechtspositionen haben (VfSlg 11.500/1987).

[…] Überträgt man diese Überlegungen auf jenen Teil des Anwendungsbereichs der Chartagarantie, der nicht civil rights und Strafverfahren betrifft, so gelangt man auch für diesen zum Ergebnis, dass weitergehende Beschränkungen (als etwa im Strafverfahren) zulässig sind. Weil insoweit aber nicht mehr unmittelbar die Rechtsprechung des EGMR zu Art 6 EMRK herangezogen werden kann, ist das Ausmaß der Gewährleistung der Einzelgarantien letztlich durch Art 52 Abs 1 GRC, mithin vom Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bestimmt. […]"

Der Verfassungsgerichtshof kam also zum Ergebnis, dass durch Art 47 Abs 2 GRC die durch Art 6 EMRK (konkret dessen Abs 1) gewährleisteten Verfahrensgarantien über Zivil- und Strafverfahren im Sinne des Art 6 EMRK hinaus auf den Anwendungsbereich der GRC und somit jedenfalls auch auf das Asylverfahren erstreckt werden.

3. Die Beschwerdeführerinnen bringen vor, dass das in § 40 Abs 1 AsylG 2005 verankerte Neuerungsverbot gegen Art 47 GRC verstoße. Dabei ist auch zu untersuchen, in welchem Verhältnis das Neuerungsverbot zu der von Art 47 GRC geforderten vollen Kognitionsbefugnis des Gerichts steht (zum Gebot der vollen Kognitionsbefugnis eines Tribunals in Rechts- und Tatsachenfragen gemäß Art 6 EMRK vgl. zB EGMR , Fall Zumtobel , Appl. 12.235/86, Rz 52, sowie Grabenwarter/Pabel , Europäische Menschenrechtskonvention 5 , 2012, 400).

3.1. Der Verfassungsgerichtshof setzte sich bereits im Erkenntnis VfSlg 17.340/2004 (560 ff.) unter dem Aspekt des Rechtsstaatsprinzips, Art 13 EMRK und Art 11 Abs 2 B-VG eingehend mit dem Neuerungsverbot im Asylverfahren auseinander, wie es damals in § 32 Abs 1 AsylG 1997, BGBl 76/1997 idF der Novelle 2003, BGBl I 101/2003, geregelt war. Diese Bestimmung hatte folgenden Wortlaut:

"§32. (1) In Berufungen gegen Entscheidungen des Bundesasylamtes dürfen nur neue Tatsachen und Beweismittel vorgebracht werden,

1. wenn sich der Sachverhalt, der der Entscheidung zu Grunde gelegt wurde, nach der Entscheidung erster Instanz entscheidungsrelevant geändert hat;

2. wenn das Verfahren erster Instanz mangelhaft war;

3. wenn diese dem Asylwerber bis zum Zeitpunkt der Entscheidung erster Instanz nicht zugänglich waren (nova reperta) oder

4. wenn der Asylwerber auf Grund einer medizinisch belegbaren Traumatisierung nicht in der Lage war, diese vorzubringen."

Der Verfassungsgerichtshof sprach dazu im genannten Erkenntnis grundsätzlich aus, dass Beschränkungen, die bloß dazu führen, die Parteien zu einer Mitwirkung an der raschen Sachverhaltsermittlung zu verhalten, im Allgemeinen der Effektivität des Rechtsschutzes nicht entgegen stehen. Es liegt schließlich in der Hand der Parteien selbst, effektiv am Verfahren mitzuwirken und ihr Vorbringen ehestens umfangreich und rechtzeitig zu erstatten, um Rechtsnachteile zu vermeiden. Voraussetzung ist aber die Gewähr, dass die Partei im Verfahren tatsächlich eine solche Möglichkeit effektiv wahrnehmen kann. Das Asylverfahren weist allerdings bestimmte Besonderheiten (mangelndes Verstehen der deutschen Sprache, Übersetzungsprobleme, physische und psychische Sondersituationen) auf, die keine Gewähr dafür bieten, dass ein Asylwerber, der willens ist, an der Sachverhaltsermittlung mitzuwirken, bereits in erster Instanz alles für ihn Sachdienliche vorbringt. In diesen Fällen kann einem Asylwerber eine Weigerung, an der Sachverhaltsermittlung mitzuwirken, nicht subjektiv vorgeworfen werden.

Der Verfassungsgerichtshof kam daher zum Schluss, dass die Beschränkung der Ausnahme in § 32 Abs 1 Z 4 AsylG 1997, BGBl 76/1997 idF der Novelle 2003, BGBl I 101/2003, auf Fälle der Traumatisierung überschießend ist, sodass er die Worte "auf Grund medizinisch belegbarer Traumatisierung" wegen Verletzung des Rechtsstaatsprinzips, des Art 13 EMRK und somit auch wegen Verletzung des Art 11 Abs 2 B-VG als verfassungswidrig aufhob. Ausnahmen vom Neuerungsverbot seien damit "auf die in den Z 1 bis 3 [des § 32 Abs 1 leg.cit.] genannten und auf jene Fälle beschränkt […], in denen der Asylwerber aus Gründen, die nicht als mangelnde Mitwirkung am Verfahren zu werten sind, nicht in der Lage war, Tatsachen und Beweismittel bereits in erster Instanz vorzubringen" (VfSlg 17.340/2004, 563).

3.2. Die nach der Aufhebung durch das Erkenntnis VfSlg 17.340/2004 verbleibende Bestimmung des § 32 Abs 1 AsylG 1997, BGBl 76/1997 idF der Novelle 2003, BGBl I 101/2003, entspricht im Wesentlichen der heute geltenden, von den Beschwerdeführerinnen als verfassungswidrig angesehenen Regelung des § 40 Abs 1 AsylG 2005.

§ 40 Abs 1 AsylG 2005 enthält kein grundsätzliches Neuerungsverbot. In einer Beschwerde gegen eine Entscheidung des Bundesasylamtes können – neben den in § 40 Abs 1 Z 1 bis 3 AsylG 2005 enthaltenen Fällen – neue Tatsachen und Beweismittel vorgebracht werden, "wenn der Asylwerber nicht in der Lage war, diese vorzubringen" (§40 Abs 1 Z 4 AsylG 2005). Vom Neuerungsverbot wird damit nur jenes Vorbringen erfasst, das ein Beschwerdeführer bloß zur bewusst intendierten Verfahrensverzögerung erstattet.

Eine solche, auf eng abgegrenzte und nur auf Fälle, in denen der Asylwerber bereits in der Lage war, entsprechendes Vorbringen zu erstatten, eingeschränkte Regelung des Neuerungsverbots widerspricht nicht dem Recht auf Zugang zu Gericht gemäß Art 47 GRC, weil eine solche Beschränkung ein legitimes Ziel verfolgt und als solche auch verhältnismäßig ist (vgl. zu Art 6 EMRK zB EGMR , Fall Ashingdane , Appl. 8225/78, Rz 57; EGMR , Fall Philis , Appl. 12.750/87, Rz 59; EGMR , Fall Khamidov , Appl. 72.118/01, Rz 155; vgl. auch Grabenwarter/Pabel , Europäische Menschenrechtskonvention 5 , 2012, 414, mwN).

3.3. Das Erfordernis der vollen Kognitionsbefugnis des Gerichts setzt auf dem je nach Verfahrensgegenstand von den Verfahrensparteien oder von Amts wegen konstitutierten Prozessgegenstand auf und bedeutet, dass im Rahmen des solcherart festgelegten Verfahrensgegenstands das Gericht verpflichtet ist, alle für die Entscheidung maßgeblichen Rechts- und Tatsachenfragen zu behandeln. Da der Asylgerichtshof gemäß § 23 AsylGHG iVm §§37, 45 und 46 AVG im Ermittlungsverfahren von Amts wegen alle Tatsachenfragen im Einzelfall überprüfen muss und es für den Asylgerichtshof auch keine Beschränkung bei der Entscheidung der Rechtsfragen gibt, liegt ein Verstoß gegen Art 47 GRC auch unter diesem Gesichtspunkt nicht vor.

4. Nach der mit VfSlg 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s. etwa VfSlg 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs 1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.

Diesem einem Fremden durch ArtI Abs 1 leg.cit. gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl. zB VfSlg 16.214/2001), wenn der Asylgerichtshof dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s. etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001) oder wenn er bei Fällung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001 sowie 18.614/2008).

Ein willkürliches Verhalten der Behörde, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001). Für Entscheidungen des Asylgerichtshofes gelten dieselben verfassungsrechtlichen Schranken.

4.1. Ein solcher, in die Verfassungssphäre reichender Fehler ist dem Asylgerichtshof im vorliegenden Beschwerdefall nicht unterlaufen:

4.2. In seiner ausführlichen Beweiswürdigung legt der Asylgerichtshof in aus verfassungsrechtlicher Perspektive nicht zu beanstandender Weise dar, dass die Erstbeschwerdeführerin keine ausreichend substantiierten, widerspruchsfreien und plausiblen Angaben zu erstatten vermochte. Soweit die Beschwerdeführerinnen ihre Asylanträge auf das vom Ehemann bzw. Vater erstattete Vorbringen stützen, verweist der Asylgerichtshof nachvollziehbar auf die den Ehemann bzw. Vater betreffende Entscheidung vom selben Tag, in welcher das Fluchtvorbringen als nicht glaubhaft gewertet wird.

4.3. Der Asylgerichtshof erachtet das erst im Beschwerdeverfahren erhobene Vorbringen der Beschwerdeführerinnen, wonach sie in Afghanistan als Frauen von einer asylrelevanten Gefahr einer Verfolgung im Sinne des Art 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention betroffen wären, als "Versuch einer nach Maßgabe des § 40 AsylG 2005 unzulässigen Steigerung" der bisherigen Angaben. Dessen ungeachtet setzt sich aber der Asylgerichtshof mit der Situation der Beschwerdeführerinnen in Afghanistan bzw. ihrer Lage als Frauen im Fall ihrer Rückkehr dorthin in ausführlicher Weise auseinander: Er trifft auf Basis aktueller Länderberichte diesbezüglich umfangreiche Feststellungen und geht davon aus, dass die Beschwerdeführerinnen ob ihrer dargebrachten persönlichen Werthaltung und Einstellung zu ihrer familiären und persönlichen Situation in Afghanistan keine asylrelevante Verfolgungswahrscheinlichkeit zu gewärtigen hätten. Diese Beurteilung ist aus verfassungsrechtlicher Sicht unbedenklich, woran auch die Beanstandung der Beschwerdeführerinnen, sie hätten das Vorbringen betreffend ihre Verfolgung als Frauen in Ermangelung rechtlicher Beratung vor dem Bundesasylamt erst im Zuge ihres Beschwerdeverfahrens vor dem Asylgerichtshof erstatten können, nichts zu ändern vermag.

Auch aus dem Erkenntnis VfSlg 19.646/2012 ist für die Beschwerdeführerinnen nichts zu gewinnen, weil diesem eine Entscheidung des Asylgerichtshofes zugrunde lag, in der auf die Frage einer geschlechtsspezifischen Verfolgung einer minderjährigen afghanischen Staatsangehörigen in keiner Weise eingegangen wurde. Dies ist – wie dargelegt – dem Asylgerichtshof im vorliegenden Fall allerdings nicht vorzuwerfen.

II. Ergebnis und damit zusammenhängende Ausführungen

1. Die behauptete Verletzung verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte hat sohin nicht stattgefunden.

2. Das Verfahren hat auch nicht ergeben, dass die Beschwerdeführerinnen in von ihnen nicht geltend gemachten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten verletzt wurden. Angesichts der Unbedenklichkeit der angewendeten Rechtsgrundlagen ist es auch ausgeschlossen, dass sie in ihren Rechten wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm verletzt wurden.

3. Die Beschwerde ist daher abzuweisen.

4. Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

European Case Law Identifier

ECLI:AT:VFGH:2013:U1937.2012