VfGH vom 22.09.2011, U1734/10
19494
Leitsatz
Keine Verletzung verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte durch Zurückweisung des Asylantrags und Ausweisung einer nicht besonders schutzwürdigen Person nach Griechenland im Hinblick auf die - zum Entscheidungszeitpunkt - maßgebliche Rechtsprechung
Spruch
Der Beschwerdeführer ist durch die angefochtene Entscheidung weder in einem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht noch wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm in seinen Rechten verletzt worden.
Die Beschwerde wird abgewiesen.
Begründung
Entscheidungsgründe:
I. Sachverhalt, Beschwerdevorbringen und Vorverfahren
1. Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger von Afghanistan. Nachdem er sein Herkunftsland verlassen hatte, reiste der Beschwerdeführer zunächst nach Griechenland, wo er am erkennungsdienstlich behandelt wurde. Der Beschwerdeführer gab an, er habe sich zwölf Monate in Griechenland aufgehalten und sei dann nach Slowenien weiter gereist. Dort habe er einen Asylantrag gestellt. Am stellte der (nach eigenen Angaben minderjährige) Beschwerdeführer in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz. Dieser wurde mit Bescheid des Bundesasylamtes (im Folgenden: BAA) vom gemäß § 5 Abs 1 Asylgesetz 2005 (im Folgenden: AsylG 2005) zurückgewiesen und ausgesprochen, dass für die Prüfung des Antrages auf internationalen Schutz gemäß Art 10 Abs 2 iVm 18 Abs 7 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedsstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (im Folgenden: Dublin II - VO), ABl. 2003 L 50, S 1, Griechenland zuständig sei (Spruchpunkt I). Gleichzeitig wurde der Beschwerdeführer gemäß § 10 Abs 1 Z 1 AsylG 2005 aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Griechenland ausgewiesen und festgestellt, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung nach Griechenland gemäß § 10 Abs 4 AsylG 2005 zulässig sei (Spruchpunkt II).
2. Die dagegen erhobene Beschwerde an den Asylgerichtshof (im Folgenden: AsylGH) wurde mit Entscheidung vom gemäß §§5, 10 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.
2.1. Zur Frage des Alters des Beschwerdeführers führt der AsylGH aus, die Volljährigkeit sei festgestellt worden. Es seien Gutachten von drei medizinischen Sachverständigen aus verschiedenen Fachrichtungen erstellt worden, die insgesamt zu dem Ergebnis gelangen, der Beschwerdeführer sei älter als 18 Jahre. Diese Gutachten seien nachvollziehbar und schlüssig begründet, weshalb der AsylGH keinen Grund sehe, die Volljährigkeit des Beschwerdeführers zu bezweifeln.
2.2. Weiters prüft der AsylGH, ob im vorliegenden Fall das Selbsteintrittsrecht gemäß Art 3 Abs 2 der Dublin II - VO zwingend auszuüben sei. Nur bei einer ausnahmsweise vorliegenden Verletzung der EMRK dürfe die Überstellung in einen anderen Mitgliedstaat nicht stattfinden. Trotz der Berichtslage zu Griechenland bestehe keine allgemeine Pflicht, das Selbsteintrittsrecht auszuüben. Dies stehe auch im Einklang mit der maßgeblichen "europäischen" Rechtsprechung, insbesondere der Judikatur der Höchstgerichte. Fallbezogen sei auszuführen, dass der Beschwerdeführer hinsichtlich der Kritik an der Lage in Griechenland sein Vorbringen im Laufe des Verfahrens gesteigert habe. Es sei auch nicht hervorgekommen, dass der Beschwerdeführer eine besonders vulnerable Person sei. Eine besondere Integration des Beschwerdeführers oder familiäre Anknüpfungspunkte im Bundesgebiet seien nicht hervorgekommen. Insgesamt habe daher weder aus Gründen des Art 3 EMRK noch aus Gründen des Art 8 EMRK eine Pflicht zum Selbsteintritt Österreichs bestanden. Auch die Ausweisung des Beschwerdeführers verletze nicht Art 8 EMRK.
3. Gegen diese Entscheidung richtet sich die auf Art 144a B-VG gestützte Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, in der die Verletzung in den verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander, das Verbot von unmenschlicher und erniedrigender Behandlung sowie auf ein faires Verfahren geltend gemacht werden. Die Entscheidung verletze den Beschwerdeführer in verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten, weil von seiner Volljährigkeit ausgegangen werde, obwohl die Gutachten der medizinischen Sachverständigen zu keinem eindeutigen Ergebnis kommen. Dem Beschwerdeführer sei außerdem durch das Unterlassen einer mündlichen Verhandlung vor dem AsylGH das rechtliche Gehör verweigert worden.
4. Der AsylGH hat die Verwaltungs- und Gerichtsakten vorgelegt, aber keine Gegenschrift erstattet.
II. Rechtslage
1. Art 3 Dublin II - VO lautet auszugsweise:
"KAPITEL II
ALLGEMEINE GRUNDSÄTZE
Artikel 3
(1) Die Mitgliedstaaten prüfen jeden Asylantrag, den ein Drittstaatsangehöriger an der Grenze oder im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats stellt. Der Antrag wird von einem einzigen Mitgliedstaat geprüft, der nach den Kriterien des Kapitels III als zuständiger Staat bestimmt wird.
(2) Abweichend von Absatz 1 kann jeder Mitgliedstaat einen von einem Drittstaatsangehörigen eingereichten Asylantrag prüfen, auch wenn er nach den in dieser Verordnung festgelegten Kriterien nicht für die Prüfung zuständig ist. Der betreffende Mitgliedstaat wird dadurch zum zuständigen Mitgliedstaat im Sinne dieser Verordnung und übernimmt die mit dieser Zuständigkeit einhergehenden Verpflichtungen. Gegebenenfalls unterrichtet er den zuvor zuständigen Mitgliedstaat, den Mitgliedstaat, der ein Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Staates durchführt, oder den Mitgliedstaat, an den ein Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuch gerichtet wurde.
(3) - (4) […]"
2. Die maßgeblichen Bestimmungen des AsylG 2005, BGBl. I 100 idF BGBl. 4/2008 bzw. BGBl. I 122/2009, lauten auszugsweise:
"Zuständigkeit eines anderen Staates
§5. (1) Ein nicht gemäß § 4 erledigter Antrag auf internationalen Schutz ist als unzulässig zurückzuweisen, wenn ein anderer Staat vertraglich oder auf Grund der Dublin - Verordnung zur Prüfung des Asylantrages oder des Antrages auf internationalen Schutz zuständig ist. Mit der Zurückweisungsentscheidung ist auch festzustellen, welcher Staat zuständig ist.
(2) Gemäß Abs 1 ist auch vorzugehen, wenn ein anderer Staat vertraglich oder auf Grund der Dublin - Verordnung dafür zuständig ist zu prüfen, welcher Staat zur Prüfung des Asylantrages oder des Antrages auf internationalen Schutz zuständig ist.
(3) Sofern nicht besondere Gründe, die in der Person des Asylwerbers gelegen sind, glaubhaft gemacht werden oder beim Bundesasylamt oder beim Asylgerichtshof offenkundig sind, die für die reale Gefahr des fehlenden Schutzes vor Verfolgung sprechen, ist davon auszugehen, dass der Asylwerber in einem Staat nach Abs 1 Schutz vor Verfolgung findet."
"5. Abschnitt
Gemeinsame Bestimmungen
Verbindung mit der Ausweisung
§10. (1) Eine Entscheidung nach diesem Bundesgesetz ist mit einer Ausweisung zu verbinden, wenn
1. der Antrag auf internationalen Schutz zurückgewiesen wird;
2. - 4. […]
(2) Ausweisungen nach Abs 1 sind unzulässig, wenn
1. dem Fremden im Einzelfall ein nicht auf dieses Bundesgesetz gestütztes Aufenthaltsrecht zukommt oder
2. diese eine Verletzung von Art 8 EMRK darstellen würden.
Dabei sind insbesondere zu berücksichtigen:
a) die Art und Dauer des bisherigen Aufenthalts und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war;
b) das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens;
c) die Schutzwürdigkeit des Privatlebens;
d) der Grad der Integration;
e) die Bindungen zum Herkunftsstaat des Fremden;
f) die strafgerichtliche Unbescholtenheit;
g) Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts;
h) die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren.
(3) Wenn die Durchführung der Ausweisung aus Gründen, die in der Person des Asylwerbers liegen, eine Verletzung von Art 3 EMRK darstellen würde und diese nicht von Dauer sind, ist die Durchführung für die notwendige Zeit aufzuschieben.
(4) Eine Ausweisung, die mit einer Entscheidung gemäß Abs 1 Z 1 verbunden ist, gilt stets auch als Feststellung der Zulässigkeit der Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in den betreffenden Staat. Besteht eine durchsetzbare Ausweisung, hat der Fremde unverzüglich auszureisen.
(5) - (6) […]."
III. Erwägungen
Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:
1. Bedenken gegen die der angefochtenen Entscheidung zu Grunde liegenden Bestimmungen sind weder in der Beschwerde vorgebracht worden noch aus Anlass dieses Beschwerdefalles beim Verfassungsgerichtshof entstanden.
Der Beschwerdeführer ist daher nicht wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm in seinen Rechten verletzt worden.
2. Nach der mit VfSlg. 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s. etwa VfSlg. 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg. 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs 1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl. 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein - auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes - Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.
Diesem einem Fremden durch ArtI Abs 1 leg.cit. gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl. zB VfSlg. 16.214/2001), wenn der AsylGH dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der - hätte ihn das Gesetz - dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl. 390/1973, stehend erscheinen ließe (s. etwa VfSlg. 14.393/1995, 16.314/2001) oder wenn er bei Fällung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg. 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001 sowie 18.614/2008).
Ein willkürliches Verhalten der Behörde, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außer-Acht-Lassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg. 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001).
3. Ein solcher, in die Verfassungssphäre reichender Fehler ist der belangten Behörde nicht vorzuwerfen:
3.1.1. Der Verfassungsgerichtshof hat in seinem Erkenntnis vom , U694/10, erstmals ausgesprochen, dass Entscheidungen des AsylGH Art 3 EMRK verletzen, wenn sich der AsylGH bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Rücküberstellung besonders schutzwürdiger (sog. "vulnerabler") Personen nach Griechenland mit einer bloß allgemeinen Mitteilung zur Versorgungslage von Asylsuchenden in Griechenland begnügt. Solche generellen Auskünfte könnten nämlich "eine individualisierte Versorgungszusage durch griechische Behörden, wie dies im Lichte des Art 3 EMRK für besonders schutzwürdige Personen jedoch geboten ist" nicht ersetzen.
3.1.2. Im Urteil vom , Fall M.S.S. gegen Belgien und Griechenland, Appl. 30696/09, hat der EGMR ausgesprochen, der Beschwerdeführer im dortigen Verfahren sei in den durch Art 3 EMRK garantierten Rechten verletzt, weil bei der Rücküberstellung eines Asylwerbers - einer nicht besonders schutzwürdigen Person - von Belgien nach Griechenland zur Durchführung des Asylverfahrens keine Garantie für eine ernsthafte Untersuchung eines Asylantrags durch die griechischen Behörden eingeholt wurde bzw. eine ausreichende Versorgung des Asylwerbers in Griechenland nicht gegeben erschien.
3.1.3. Die hier angefochtene Entscheidung vom wurde vor dem genannten Urteil des EGMR und dem genannten Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes erlassen. Der AsylGH hat sich ausführlich mit der - zum Entscheidungszeitpunkt - maßgeblichen Rechtsprechung zur Überstellung von Asylwerbern nach Griechenland auseinander gesetzt und vor diesem Hintergrund die Ausweisung des Beschwerdeführers, der keine besonders schutzwürdige Person iSd Judikatur des Verfassungsgerichtshofes ist, nach Griechenland für zulässig erachtet. Diese ausreichend begründete Entscheidung beruht auf einer jedenfalls denkmöglichen Gesetzesanwendung (vgl. B4/11).
3.2. Zum Vorwurf, der AsylGH habe nicht von der Volljährigkeit des Beschwerdeführers ausgehen dürfen, ist auszuführen, dass der AsylGH auf Grund mehrerer Gutachten von medizinischen Sachverständigen zu dem Schluss gekommen ist, der Beschwerdeführer sei volljährig. Er hat dies in der angefochtenen Entscheidung auch nachvollziehbar und denkmöglich begründet.
3.3. Insgesamt ist dem AsylGH daher kein in die Verfassungssphäre reichender Fehler vorzuwerfen. Der Beschwerdeführer wurde durch die angefochtene Entscheidung also nicht in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander verletzt.
4. Die Verletzung in den durch Art 6 EMRK gewährleisteten Rechten durch Unterlassen einer mündlichen Verhandlung vor dem AsylGH kommt schon deshalb nicht in Betracht, weil das Asylverfahren nicht von Art 6 EMRK erfasst ist (vgl. VfSlg. 13.831/1994).
IV. Ergebnis und damit zusammenhängende Ausführungen
1. Die behauptete Verletzung verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte hat sohin nicht stattgefunden.
Das Verfahren hat auch nicht ergeben, dass der Beschwerdeführer in von ihm nicht geltend gemachten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten verletzt wurde. Angesichts der Unbedenklichkeit der angewendeten Rechtsgrundlagen ist es auch ausgeschlossen, dass er in seinen Rechten wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm verletzt wurde.
Die Beschwerde war daher abzuweisen.
2. Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
Fundstelle(n):
UAAAE-28513