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VfGH vom 01.12.2010, U1523/09

VfGH vom 01.12.2010, U1523/09

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Leitsatz

Verletzung im Recht auf Unterlassung unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung durch Zurückweisung von Asylanträgen und Ausweisung einer allein stehenden afghanischen Mutter mit ihren minderjährigen Kindern unter Hinweis auf die Zuständigkeit Griechenlands im Sinne der Dublin II-Verordnung; keine ausreichende Würdigung der Frage der Verpflichtung Österreichs zum Selbsteintritt bei besonders schutzwürdigen Personen

Spruch

Die Beschwerdeführer sind durch die angefochtene Entscheidung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht, nicht der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen zu werden, gemäß Art 3 EMRK verletzt worden.

Die Entscheidung wird aufgehoben.

Der Bund (Bundeskanzler) ist schuldig, den Beschwerdeführern zuhanden ihres Rechtsvertreters die mit € 5.280,-- insgesamt bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu bezahlen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Der Asylgerichtshof legte der angefochtenen Entscheidung

folgenden Sachverhalt zugrunde:

1.1. Die Erstbeschwerdeführerin, geboren im Jahr 1976, der Zweitbeschwerdeführer, geboren am alias , reisten mit ihren minderjährigen Kindern, dem Drittbeschwerdeführer, geboren am , der Viertbeschwerdeführerin, geboren am , und der Fünftbeschwerdeführerin, geboren am , alle Staatsangehörige Afghanistans, illegal nach Griechenland ein. Nach einem ungefähr eineinhalbmonatigen Aufenthalt reisten die Beschwerdeführer, ohne in Griechenland einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt zu haben, mit dem Flugzeug nach Österreich und stellten am einen Antrag auf internationalen Schutz.

1.2. Bei der Einvernahme vor der PI St. gaben die Erst- und der Zweitbeschwerdeführer trotz Vorhalts der ihren Aufenthalt in Griechenland belegenden Eurodac-Treffer an, nie in Griechenland gewesen zu sein. Mit E-Mail via DubliNet vom ersuchte Österreich Griechenland um Übernahme der Asylwerber. Durch Unterlassung einer fristgerechten Antwort hat Griechenland seine Zuständigkeit akzeptiert.

1.3. Vor dem Bundesasylamt gab der Zweitbeschwerdeführer an, dass er mit seiner Familie 20 Tage auf der Straße ohne Unterkunft und Verpflegung gelebt habe. Die Erstbeschwerdeführerin leide an Beschwerden im Bauchraum und Kopfschmerzen und sei wegen eines Leistenbruchs operiert worden. Mit Bescheiden des Bundesasylamts wurden die Anträge auf internationalen Schutz als unzulässig zurückgewiesen, Griechenland gemäß Art 10 Abs 1 iVm Art 18 Abs 7 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist, ABl. L 50/1 (im Folgenden: Dublin II-VO), für zuständig erklärt und die Asylwerber aus dem Bundesgebiet nach Griechenland ausgewiesen.

1.4. Die gegen diese Bescheide erhobenen Beschwerden wurden zunächst mit Erkenntnissen des Asylgerichtshofs vom abgewiesen. Dieses Erkenntnis wurde der Erstbeschwerdeführerin nicht rechtswirksam zugestellt. Mit Schriftsätzen vom wurden Anträge auf Wiederaufnahme gestellt, weil die Erstbeschwerdeführerin am wegen Anpassungsstörung, depressiver Reaktion, dissoziativer Stupor und Z.n. OP einer Leistenhernie stationär im LKH V. aufgenommen worden sei. In einer ärztlichen Stellungnahme vom wurde festgestellt, dass die Erstbeschwerdeführerin sich selbstaggressiv verhalte, kaum kontaktfähig, depressiv weinerlich und nicht flugtauglich sei. Mit Schriftsatz vom wurden Anträge auf Wiederaufnahme wegen der psychischen Erkrankung der Erstbeschwerdeführerin gestellt. Die Erkenntnisse des Asylgerichtshofs wurden behoben, weil neue Umstände eingetreten sind, die zumindest potenziell geeignet sein könnten, ein Selbsteintrittsrecht zu indizieren. Die Erstbeschwerdeführerin wurde am aus dem Krankenhaus entlassen.

Mit Erkenntnis des Asylgerichtshofs vom wurde festgestellt, dass Griechenland seine Zuständigkeit durch Unterlassen einer fristgerechten Antwort akzeptiert habe. Gemäß dem Verordnungsgeber der Dublin II-VO können alle Mitgliedstaaten untereinander als "sicher" angesehen werden und nur bei ausnahmsweiser Verletzung der EMRK darf eine Überstellung in einen anderen Mitgliedstaat nicht stattfinden. Begründend wurde ausgeführt:

"Bereits das Bundesasylamt hat ausgeführt, dass Personen, die noch nie in Griechenland einen Asylantrag gestellt haben, nach ihrer Überstellung vollen Zugang zum Asylverfahren haben (vgl. etwa Seite 23 des angefochtenen Bescheides betreffend den 1.-Beschwerdeführer). Damit in Einklang steht auch die Erfahrung des schwedischen Migrationsamtes im Rahmen der fact finding mission vom April 2008, wonach in 26 überprüften Fällen nach Rücküberstellungen für alle 26 Antragsteller ein inhaltliches Asylverfahren betrieben wurde. Zweifel am Zugang zu einem Asylverfahren liegen daher nicht vor. Die[s] gilt auch vor dem Hintergrund, dass Personen bei der Ersteinreise nach Griechenland allenfalls aufgrund von Engpässen in der Kapazität de[r] griechischen Asylbehörden faktisch Schwierigkeiten haben können, einen Asylantrag zu stellen. Es wird die Kritik des UNHCR an der hohen Belastung des griechischen Asylsystems nicht übersehen, doch darf in Fällen, in denen Asylwerber im Rahmen der Dublin II-VO von einem Staat nach Griechenland rücküberstellt werden, ebenfalls nicht übersehen werden, dass bei der Rücküberstellung naturgemäß bereits im Vorlauf der Überstellung ein zwischenstaatlicher Behördenkontakt besteht und Griechenland aufgrund von Terminvereinbarungen die Antragsteller übernimmt, sodass die Antragsteller jedenfalls Kontakt zu griechischen Behörden haben und jene bereits wissen, dass es sich um Asylwerber handelt.

Da im konkreten Fall die Asylwerber in Griechenland erst Asylanträge stellen werden, falls sie das wünschen, verbieten sich auch spekulative Erwägungen über deren Ausgang und die Erfolgsaussichten der Beschwerdeführer. In diesem Zusammenhang sei erwähnt, dass der von der Erstinstanz herangezogene Bericht des Schwedischen Migrationsamtes bestätigt, dass das reale Risiko einer Verletzung des Art 3 EMRK durch eine Kettenabschiebung infolge Verstoßes gegen das Non-Refoulement Gebot nicht besteht. Dass gerade die Beschwerdeführer bei einer Rückkehr in eine aussichtslose Situation geraten würden, lässt sich aus der allgemeinen Berichtslage, bei aller Kritik an Einzelfällen, nicht ableiten."

Auch wenn die Beschwerdeführer obdachlos gewesen seien, sei ihnen entgegenzuhalten, dass diese in Griechenland gar keinen Asylantrag gestellt hätten und deshalb keine staatliche Unterstützung in Anspruch nehmen konnten. Die Beschwerden des Drittantragstellers seien zu vage und unkonkret um daraus eine schwerwiegende psychische Erkrankung ableiten zu können. Bezugnehmend auf die psychische Erkrankung der Erstbeschwerdeführerin werde auf Entscheidungen des EGMR verwiesen und festgehalten, dass diese nicht an einer lebensbedrohlichen Erkrankung leide, bereits seit 6 Jahren ängstlich und nervös sei und zu hyperventilierendem Verhalten neige. Dies und die Selbstmorddrohungen indizieren kein "real risk" der Verletzung des Art 3 EMRK.

2. Gegen diese Entscheidung des Asylgerichtshofs richtet sich die vorliegende, auf Art 144 B-VG gestützte Beschwerde der Erstbeschwerdeführerin vom , in der die Verletzung im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander sowie die Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechts gemäß Art 3 EMRK geltend gemacht wird. Vom Asylgerichtshof sei willkürlich übergangen worden, dass auf Grund der psychischen Belastung eine Abschiebung der Erstbeschwerdeführerin aus gesundheitlichen Gründen nicht zumutbar sei. Es könne nicht davon ausgegangen werden, dass den Beschwerdeführern nach Rücküberstellung eine Unterkunft zur Verfügung gestellt werde. Sofern Familienmitglieder an einer psychischen Erkrankung leiden, müsse eine Einzelfallprüfung durchgeführt werden. Es bestünden schwerwiegende, systematische Defizite in der griechischen Asylpraxis, insbesondere völlig unzureichende Aufnahmekapazitäten.

Die Beschwerde des Zweit- bis Fünftbeschwerdeführers vom ist beinahe wortident mit der Beschwerde der Erstbeschwerdeführerin.

II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:

1. Das gemäß Art 3 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht, nicht der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen zu werden, wird durch eine Entscheidung des Asylgerichtshofs verletzt, wenn er eine Verletzung desselben nicht wahrnimmt. Ein solcher verfassungswidriger Eingriff liegt aber auch vor, wenn ein Bescheid in Anwendung eines der genannten Verfassungsvorschrift widersprechenden Gesetzes ergangen ist, wenn er auf einer dem genannten Grundrecht widersprechenden Auslegung des Gesetzes beruht oder wenn der Behörde grobe Verfahrensfehler unterlaufen sind (zB VfSlg. 13.897/1994, 15.026/1997, 15.372/1998 und 16.384/2001).

2. Ein solcher Fehler ist dem Asylgerichtshof unterlaufen:

Wie der Verfassungsgerichtshof bereits mit Erkenntnis , festgehalten hat, genügt im Falle einer Überstellung von Asylwerbern mit besonderer Schutzbedürftigkeit (vulnerabler Personen) eine bloß allgemeine Ankündigung einer Überstellung der Asylwerber nicht. Vielmehr bedarf es - um eine Verletzung des Art 3 EMRK in diesen besonders gelagerten Fällen zu vermeiden - einer individuellen Zusicherung der griechischen Behörden, dass rücküberstellte Asylwerber mit besonderer Schutzbedürftigkeit in Griechenland Unterkunft und Versorgung erhalten.

Durch Unterlassung einer fristgerechten Antwort hat Griechenland zwar seine Zuständigkeit ex lege akzeptiert, jedoch wurde vom Asylgerichtshof eine individuelle Versorgungszusage nicht angefordert. Auf Grund der psychischen Erkrankung der Erstbeschwerdeführerin und im Hinblick auf die drei minderjährigen Kinder ist diese Familie als besonders schutzbedürftig zu qualifizieren. Da es sich hier um Asylwerber mit besonderer Schutzbedürftigkeit handelt ist im Hinblick auf die im Erkenntnis , angestellten Erwägungen eine Verletzung im Recht auf Art 3 EMRK erfolgt.

III. Die Entscheidung war daher aufzuheben.

Die Kostenentscheidung stützt sich auf § 88a iVm § 88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 880,-- und ein Streitgenossenzuschlag in der Höhe von € 400,-- enthalten.

Dies konnte gemäß § 19 Abs 4 erster Satz VfGG, ohne mündlicher Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen werden.

Fundstelle(n):
EAAAE-28498