VfGH vom 21.02.2014, U152/2013
Leitsatz
Verletzung im Recht auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung durch Nichtzuerkennung subsidiären Schutzes und Ausweisung des Beschwerdeführers nach Afghanistan; Sachverhalt nicht hinreichend geklärt; Abstellen auf die Unglaubwürdigkeit des Beschwerdeführers hinsichtlich seines Herkunftsortes nicht ausreichend
Spruch
I. 1. Der Beschwerdeführer ist durch die angefochtene Entscheidung, soweit damit seine Beschwerde gegen die Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan sowie gegen seine Ausweisung aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Afghanistan abgewiesen wird, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung gemäß Art 47 Abs 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verletzt worden.
Die Entscheidung wird insoweit aufgehoben.
2. Im Übrigen wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt.
II. Der Bund (Bundeskanzler) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.400,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe
I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren
1. Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger von Afghanistan, stellte am einen Antrag auf internationalen Schutz. Zu seinen Fluchtgründen befragt, brachte er auf das Wesentliche zusammengefasst vor, Afghanistan in jungem Alter wegen familiärer Grundstücksstreitigkeiten verlassen und fortan in Pakistan gelebt zu haben. Er befürchte, dass man ihn ebenso wie seinen Bruder umbringen werde. Bis zur Ausreise aus Afghanistan habe er in einem näher genannten Dorf in der Provinz Laghman gelebt.
2. Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen; des Weiteren wurde der Beschwerdeführer aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Afghanistan ausgewiesen.
Das Bundesasylamt ging dabei von der Unglaubwürdigkeit des Fluchtvorbringens aus. Die Herkunft des Beschwerdeführers aus dem von ihm genannten Dorf wurde hingegen als glaubwürdig erachtet und dem Bescheid zugrunde gelegt.
3. Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde – in welcher der Beschwerdeführer (u.a.) die Durchführung einer mündlichen Verhandlung "gemäß Art 6 EMRK und Art 47 der EU-Grundrechtecharta" beantragte – wies der Asylgerichtshof gemäß §§3, 8 und 10 Asylgesetz 2005 in nichtöffentlicher Sitzung als unbegründet ab.
3.1. Begründend führte der Asylgerichtshof im Wesentlichen aus, dass dem Beschwerdeführer die persönliche Glaubwürdigkeit abzusprechen sei, weil der Beschwerdeführer unterschiedliche Angaben darüber getätigt habe, in welchem Alter er Afghanistan verlassen habe. Davon abgesehen hätten insbesondere die oberflächliche Schilderung vom tot aufgefundenen Bruder und die emotionslose Schilderung des Begräbnisses den Asylgerichtshof davon überzeugt, dass als Fluchtgrund nur ein gedankliches Konstrukt vorgebracht worden sei. Dem Fluchtvorbringen komme überdies – mangels eines entsprechenden Konnexes zu den Verfolgungsgründen der Genfer Flüchtlingskonvention – selbst bei Wahrunterstellung keine Asylrelevanz zu.
3.2. Hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten führte der Asylgerichtshof zunächst aus, dass in Afghanistan nicht eine solche Situation herrsche, in der "für jedermann ein reales Risiko besteht, einer Verletzung der Art 2, 3 EMRK oder des 6. oder 13. ZPEMRK oder als Zivilperson einer ernsthaften Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes zu unterliegen". Dies ergebe sich aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte und aus den dem Asylgerichtshof vorliegenden Berichten.
Nicht zu verkennen sei aber, dass die Situation in Afghanistan einerseits sehr unterschiedlich und andererseits in manchen Provinzen bzw. in manchen Distrikten so schlecht sei, dass eine Rückkehr unzumutbar sei. Die Beurteilung der Sicherheits- und Versorgungslage in einem Herkunftsgebiet setze allerdings glaubwürdige Angaben voraus, woher der Asylwerber stamme. Im vorliegenden Fall sei nicht nur das Fluchtvorbringen unglaubwürdig, sondern es leide auf Grund der widersprüchlichen Schilderung der Ausreise die persönliche Glaubwürdigkeit des Beschwerdeführers. Gerade die Ausführungen zur Ausreise seien – so diese glaubhaft seien – geeignet, die Angaben zum Herkunftsort zu überprüfen (etwa wenn die Reiseberichte mit der tatsächlichen Situation übereinstimmten).
Wörtlich führte der Gerichtshof in seiner rechtlichen Beurteilung aus:
"In Afghanistan herrscht nicht eine solche Situation, in der jedermann einem realen Risiko der Verletzung der oben genannten Rechte unterliegt; allerdings ist die Situation in manchen Gebieten so unsicher, dass eine Rückkehr im Lichte des Art 3 EMRK unzumutbar ist.
Mangels eines jedermann betreffenden Risikos einer Verletzung der relevanten, oben genannten Rechte ist das drohende Risiko einer Verletzung eben dieser Rechte allerdings glaubhaft zu machen. Hiezu bedarf es eines Mindestmaßes an persönlicher Glaubwürdigkeit, so – wie im vorliegenden Fall – keine entsprechenden Beweismittel vorliegen. Da dem Beschwerdeführer diese Glaubwürdigkeit aber auf Grund seiner widersprüchlichen Angaben nicht zukommt und dieser somit auch eine Überprüfung der Situation am (auf Grund seiner mangelnden Glaubwürdigkeit nicht feststellbaren) Herkunftsort sowie eine Überprüfung des Vorliegens einer innerstaatlichen Fluchtalternative verhindert hat, hat der Beschwerdeführer ein Risiko der Verletzung seiner relevanten, oben genannten Rechte in Bezug auf die allgemeine Sicherheitslage, dem Risiko in eine hoffnungslose Lage zu kommen oder Verfolgung zu erleiden nicht glaubhaft gemacht; somit ist diesbezüglich kein Risiko einer Verletzung seiner Rechte aus Art 3 EMRK erkennbar.
[…]
Ein den Beschwerdeführer spezifisch treffendes reales Risiko der Verletzung relevanter Rechte hat der Beschwerdeführer nicht glaubhaft gemacht, da einerseits sein Fluchtvorbringen unglaubwürdig ist und ihm andererseits nicht die notwendige persönliche Glaubwürdigkeit zur Glaubhaftmachung seines Herkunftsgebietes zukommt, die notwendig ist, um festzustellen, ob ihn in diesem Gebiet ein reales Risiko einer Verletzung der genannten Rechte trifft; ebenso ist mangels persönlicher Glaubwürdigkeit die Beurteilung, ob eine innerstaatliche Fluchtalternative vorliegt, nicht möglich."
3.3. Abschließend begründete der Asylgerichtshof, warum eine Verletzung des Beschwerdeführers in seinem Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens durch die Ausweisung nicht erkennbar sei.
4. In der gegen diese Entscheidung an den Verfassungsgerichtshof erhobenen Beschwerde wird die Verletzung in Art 3, 6 und 8 EMRK geltend gemacht und es wird die kostenpflichtige Aufhebung der angefochtenen Entscheidung beantragt.
5. Der Asylgerichtshof legte die Verwaltungs- und Gerichtsakten vor und erstattete eine Gegenschrift zu den Beschwerdeausführungen.
II. Erwägungen
Der Verfassungsgerichtshof hat über die – zulässige – Beschwerde erwogen:
A. Soweit sich die Beschwerde gegen die Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan und gegen die Ausweisung aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Afghanistan richtet, ist sie im Ergebnis begründet:
1. Für das Verfahren vor dem Asylgerichtshof regelt § 41 Abs 7 Asylgesetz 2005 den Entfall der mündlichen Verhandlung. Das Absehen von einer mündlichen Verhandlung steht – sofern zuvor bereits ein Verwaltungsverfahren stattgefunden hat, in dessen Rahmen Parteiengehör gewährt wurde – jedenfalls in jenen Fällen im Einklang mit Art 47 Abs 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC), in denen der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint oder sich aus den Ermittlungen zweifelsfrei ergibt, dass das Vorbringen tatsachenwidrig ist (s. VfSlg 19.632/2012).
Das Absehen von einer gebotenen mündlichen Verhandlung stellt hingegen eine Verletzung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht nach Art 47 Abs 2 GRC dar ( ua.; , U1257/2012).
2. Eine solche Verletzung in Art 47 Abs 2 GRC liegt aus folgenden Gründen vor:
2.1. Gemäß § 8 Abs 1 Asylgesetz 2005 ist einem Fremden der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art 2 EMRK, Art 3 EMRK oder der Protokolle Nr 6 oder Nr 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.
Der Asylgerichtshof geht in seiner Entscheidung davon aus, dass nicht in ganz Afghanistan eine solche Situation herrsche, in der für jedermann ein reales Risiko einer solchen Verletzung bestünde. In manchen Gebieten sei die Situation allerdings sehr wohl so unsicher, dass eine Rückkehr im Lichte des Art 3 EMRK unzumutbar sei. Da der Beschwerdeführer persönlich unglaubwürdig sei, habe sein Herkunftsort nicht festgestellt werden können und er habe die Verletzung relevanter Rechte nicht glaubhaft gemacht.
2.2. Mit dieser Begründung übersieht der Asylgerichtshof zunächst, dass es angesichts der notorisch fragilen Sicherheitssituation in Afghanistan nicht genügt, auf die Unglaubwürdigkeit des Beschwerdeführers hinsichtlich seiner Herkunftsregion und pauschal auf die festgestellte Lage in Afghanistan abzustellen. Vielmehr ist es erforderlich, für den konkreten Einzelfall zu begründen, inwiefern es dem Beschwerdeführer möglich ist, in Afghanistan (bzw. in welchem Landesteil) zu überleben (s. ; , U370/2012; , U2478/2012).
Dem Asylgerichtshof ist darüber hinaus aber auch vorzuwerfen, dass die – ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung getroffenen – Ausführungen zur Unglaubwürdigkeit des Herkunftsortes nicht nachvollziehbar sind. Wie unter Punkt I.3.2. wiedergegeben, spricht der Asylgerichtshof dem Beschwerdeführer die Glaubwürdigkeit diesbezüglich lediglich auf Grund eines einzigen Widerspruchs betreffend das Alter im Zeitpunkt der Ausreise aus Afghanistan ab. Die Frage des Alters im Ausreisezeitpunkt steht allerdings nicht in (unmittelbarem) Zusammenhang mit der Frage des Herkunftsortes.
Abgesehen davon, dass bereits das bloße Aufzeigen von Widersprüchen im Fluchtvorbringen regelmäßig nicht ohne weiteres eine tragfähige Begründung für die Unglaubwürdigkeit des Vorbringens über die Herkunft darstellen kann, ist auf die diesbezüglichen Feststellungen des Bundes asylamtes zu verweisen, das – ausgehend von dem durch die durchgeführte Einvernahme gewonnenen persönlichen Eindruck vom Beschwerdeführer – ausdrücklich festgestellt hat (Seite 14 bzw. 16 des Bescheides):
"Fest steht, dass Sie im Dorf […] im Bezirk […] in der Provinz Laghman geboren wurden.
[…]
Fest steht jedenfalls, dass eine Tante von Ihnen nach wie vor in der Heimat wohnt, und zwar in einem Eigentumshaus im Dorf […], welches sich etwa 20 Minuten zu Fu[ß] von Ihrem ehemaligen Elternhaus entfernt befindet. Fest steht auch, dass Ihr ehemaliges Elternhaus noch steht und nicht bewohnt ist. […]
Weiters existiert auch noch Ihr ehemaliges Elternhaus in Ihrem Heimatdorf, und ist dieses unbewohnt."
Der Asylgerichtshof hat seine davon abweichende Ansicht nicht nachvollziehbar begründet und dem Beschwerdeführer in dieser für die Gewährung des subsidiären Schutzes zentralen Frage auch keine Gelegenheit zur Stellungnahme ermöglicht.
2.3. Unter Bedachtnahme darauf, dass der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde im vorliegenden Fall daher nicht geklärt erscheint, ist festzuhalten, dass die gesetzlichen Voraussetzungen für das Unterbleiben einer mündlichen Verhandlung nicht vorlagen.
Der Beschwerdeführer ist daher im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung gemäß Art 47 Abs 2 GRC verletzt worden.
B. Soweit die Beschwerde sich im Übrigen gegen die Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz bezüglich der Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten richtet, wird ihre Behandlung aus folgenden Gründen abgelehnt:
Der Verfassungsgerichtshof kann die Behandlung einer Beschwerde ablehnen, wenn von der Entscheidung die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage nicht zu erwarten ist (Art144 Abs 2 B VG in der mit in Kraft getretenen Fassung). Ein solcher Fall liegt vor, wenn zur Beantwortung der maßgebenden Fragen spezifisch verfassungsrecht liche Überlegungen nicht erforderlich sind.
Die in der Beschwerde gerügten Rechtsverletzungen wären im vorliegenden Fall nur die Folge einer – allenfalls grob – unrichtigen Anwendung des einfachen Gesetzes. Spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen sind zur Beantwortung der aufgeworfenen Fragen nicht anzustellen.
Demgemäß wurde beschlossen, von einer Behandlung der Be schwerde, soweit sie sich gegen die Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz bezüglich der Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten richtet, abzusehen.
III. Ergebnis
1. Der Beschwerdeführer ist somit durch die angefochtene Entscheidung, soweit damit seine Beschwerde gegen die Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan sowie gegen seine Ausweisung aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Afghanistan abgewiesen wird, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung gemäß Art 47 Abs 2 GRC verletzt worden.
Die angefochtene Entscheidung ist daher insoweit aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.
2. Im Übrigen ist die Behandlung der Beschwerde abzulehnen.
3. Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 erster Satz bzw. § 19 Abs 3 Z 1 iVm § 31 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 400,– enthalten.