VfGH vom 06.06.2014, U145/2014
Leitsatz
Verletzung im Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens durch Ausweisung eines pakistanischen Staatsangehörigen wegen verfassungswidriger Interessenabwägung; lange Dauer des Verfahrens und illegale Einreise dem Beschwerdeführer nicht vorwerfbar
Spruch
I. 1. Der Beschwerdeführer ist durch die angefochtene Entscheidung, soweit mit ihr die Ausweisung ausgesprochen wird, in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt worden.
Die Entscheidung wird insoweit aufgehoben.
2. Im Übrigen wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt.
II. Der Bund (Bundeskanzler) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.856,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe
I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren
1. Der Beschwerdeführer, ein pakistanischer Staatsangehöriger, stellte am einen Antrag auf internationalen Schutz. Er gab an, in seinem Herkunftsstaat von Mitgliedern einer radikal-islamischen Gruppierung gedrängt worden zu sein, diese zu unterstützen. Dabei soll es auch zu körperlichen Angriffen und einem Entführungsversuch gekommen sein. Der Beschwerdeführer wurde zweimal vor dem Bundesasylamt (BAA) befragt, ehe sein Antrag mit Bescheid vom als unbegründet abgewiesen und die Ausweisung nach Pakistan verfügt wurde.
2. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer rechtzeitig Beschwerde an den Asylgerichtshof. Nach etwa einem Jahr, am , wurde die Rechtssache, ohne dass bis zu diesem Zeitpunkt ausweislich der Gerichtsakten nachvollziehbare Verfahrensschritte gesetzt wurden, einem neuen Senat zugeteilt. Nach weiteren beinahe zwei Jahren, am , wurde der erste dokumentierte Verfahrensschritt in der Sache vorgenommen und der Beschwerdeführer von dem Ergebnis der Beweisaufnahme informiert. Dabei wurden dem Beschwerdeführer offenbar zwei Berichte über die Lage in Pakistan übermittelt (die sich aber nicht im Gerichtsakt befinden) und er wurde aufgefordert, innerhalb einer Frist von zwei Wochen bekanntzugeben, ob sich seit der letzten Einvernahme durch das BAA am etwas an den persönlichen Verhältnissen geändert habe. In einer Stellungnahme vom teilte der Beschwerdeführer mit, dass er inzwischen gut Deutsch spreche, über einen Gewerbeschein für Güterbeförderung verfüge und als Zeitungszusteller selbsterhaltungsfähig sei. Er sei sozialversichert und bestreite die Beiträge aus seinem Einkommen.
3. Mit Entscheidung vom wies der Asylgerichtshof die Beschwerde als unbegründet ab und begründete dies damit, dass das Vorbringen des Beschwerdeführers hinsichtlich seiner Schutzbedürftigkeit auf Grund von Widersprüchlichkeiten in seinen Aussagen nicht glaubhaft sei, dass bei einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat keine Art 3 EMRK widersprechende Behandlung drohe und dass eine Ausweisung im Hinblick auf die überwiegenden öffentlichen Interessen rechtmäßig sei.
4. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art 144 B VG iVm § 7 VwGbk ÜG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten, insbesondere im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander, im Recht keiner unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung unterworfen zu werden und im Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Bescheides beantragt wird.
5. Das (gemäß Art 151 Abs 51 Z 9 B VG) anstelle des Asylgerichtshofes in das Verfahren eingetretene Bundesverwaltungsgericht legte die Verwaltung- und Gerichtsakten vor, sah aber von der Erstattung eine Gegenschrift ab.
II. Erwägungen
1. Die – zulässige – Beschwerde ist, soweit sie sich gegen die Ausweisung nach Pakistan richtet, begründet.
2. Ein Eingriff in das durch Art 8 EMRK verfassungsgesetzlich garantierte – unter Gesetzesvorbehalt stehende – Recht ist dann verfassungswidrig, wenn der ihn verfügende Bescheid ohne jede Rechtsgrundlage ergangen ist, auf einer dem Art 8 EMRK widersprechenden Rechtsvorschrift beruht oder wenn die Behörde bei Erlassung des Bescheides eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Rechts-grundlage in denkunmöglicher Weise angewendet hat; ein solcher Fall liegt nur vor, wenn die Behörde einen so schweren Fehler begangen hat, dass dieser mit Gesetzlosigkeit auf eine Stufe zu stellen wäre, oder wenn sie der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen verfassungswidrigen, insbesondere einen dem Art 8 Abs 1 EMRK widersprechenden und durch Art 8 Abs 2 EMRK nicht gedeckten Inhalt unterstellt hat (vgl. VfSlg 11.638/1988, 15.051/1997, 15.400/1999, 16.657/2002). Für Entscheidungen des Asylgerichtshofes gelten sinngemäß dieselben verfassungsrechtlichen Schranken.
3. Einen derartigen, durch Art 8 Abs 2 EMRK nicht gedeckten Inhalt hat der Asylgerichtshof § 10 Abs 2 Z 2 AsylG 2005 unterstellt:
3.1. Gemäß § 10 Abs 2 Z 2 AsylG2005 sind Ausweisungen unzulässig, wenn diese eine Verletzung von Art 8 EMRK darstellen würden. Dabei sind insbesondere zu berücksichtigen: a) die Art und Dauer des bisherigen Aufenthalts und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war; b) das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens; c) die Schutzwürdigkeit des Privatlebens; d) der Grad der Integration; e) die Bindungen zum Herkunftsstaat des Fremden; f) die strafgerichtliche Unbescholtenheit; g) Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts; h) die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren; i) die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.
3.2. Daraus (und schon unmittelbar aus Art 8 EMRK) ergibt sich, dass der Asylgerichtshof in jedem Einzelfall, in dem die Ausweisung einen Eingriff in das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens darstellt, die schutzwürdigen subjektiven Interessen des Asylwerbers mit den öffentlichen Interessen an einer Ausweisung unvoreingenommen abzuwägen und dabei insbesondere die genannten Kriterien zu berücksichtigen hat. Der in der angefochtenen Entscheidung dokumentierte Abwägungsprozess entspricht diesen verfassungsgesetzlichen Vorgaben nicht:
3.2.1. Zur Art und Dauer des Aufenthaltes bzw. zur Verfahrensdauer führt der Asylgerichtshof etwa aus, dass der beinahe vierjährige Aufenthalt nur dadurch vorübergehend legalisiert worden sei, dass der Beschwerdeführer einen unbegründeten Asylantrag gestellt hätte. Hätte der Beschwerdeführer diesen Antrag nicht gestellt, wäre sein Aufenthalt längst beendet worden. Der Beschwerdeführer hätte mit seinem wahrheitswidrigen Vorbringen das Verfahren verzögert und keine Schritte zur Beschleunigung, etwa durch Richtigstellung seines Vorbringens, geleistet. Damit ignoriert der Asylgerichtshof die ihn treffende Pflicht zur Entscheidung in angemessener Zeit (vgl. § 23 AsylGHG iVm § 73 AVG) und macht den Beschwerdeführer ohne weitere Begründung für die lange Verfahrensdauer verantwortlich.
3.2.2. Der Asylgerichtshof verkennt in diesem Zusammenhang, dass das Stellen dieses Antrages (auch wenn sich dieser im Zuge des Verfahrens als unbegründet herausstellt) rechtmäßig erfolgte und der sich daraus ergebende (vorübergehende) aufenthaltsrechtliche Status eine gesetzlich vorgesehene Konsequenz dieses Antrages ist. Freilich ergibt sich daraus nicht zwingend, dass sich der Beschwerdeführer beinahe vier Jahre in Österreich aufhalten musste. Nach den vorliegendenden Gerichtsakten ist dies jedoch überwiegend auf eine Periode der Untätigkeit des Asylgerichtshofes von über drei Jahren zurückzuführen. Der Verfassungsgerichtshof übersieht nicht, dass diese Untätigkeit im Fehlen entsprechender Ressourcen begründet sein mag. Es obliegt aber dem Staat und seinen Organen, eine angemessene Verfahrensdauer sicherzustellen. Keinesfalls kann die Dauer des Verfahrens aber dem Beschwerdeführer negativ angelastet werden (soweit es keine Anzeichen für eine bewusste Verfahrensverschleppung durch den Antragsteller gibt, wofür im vorliegenden Fall aber kein Hinweis vorliegt – so schon VfGH, , U477/2013).
3.3. Der Asylgerichtshof lastet dem Beschwerdeführer ferner die illegale Einreise als "relevante[n] Verstoß gegen das Einwanderungsrecht" und damit gegen die öffentliche Ordnung an (vgl. § 10 Abs 2 Z 2 litg AsylG 2005). Begründend verweist der Asylgerichtshof auf zwei Entscheidungen des Verwaltungsgerichtshofes (; , 2009/21/0070).
3.3.1. Damit verkennt der Asylgerichtshof die Bedeutung des in § 10 Abs 2 Z 2 litg AsylG2005 gebrauchten und durch Art 8 Abs 2 EMRK determinierten Begriffs der "Öffentlichen Ordnung". Der EGMR hat zwar wiederholt ausgesprochen, dass Faktoren der Einwanderungskontrolle und Erwägungen zur Öffentlichen Ordnung ("factors of immigration control or considerations of public order") bei einer Abwägung iSv Art 8 Abs 2 EMRK für eine Ausweisung sprechen können, dabei aber immer betont, dass damit etwa zahlreiche Verfehlungen ("a history of breaches of immigration law") oder schwere bzw. beharrliche Vergehen ("serious or persistent offences") gemeint sind (vgl. EGMR , Fall Mitchell , Appl. 40.447/98; , Fall Useinov , Appl. 61.292/00). Das einmalige Vergehen in Form der illegalen Einreise zur Stellung eines Antrages auf internationalen Schutz fällt jedenfalls nicht in diese Kategorie, insbesondere angesichts des Umstandes, dass es seit Inkrafttreten der AsylG-Novelle 2003, BGBl I 101, am , für international Schutzsuchende keine Möglichkeit mehr gibt, im Ausland einen Antrag auf Asyl in Österreich zu stellen (mit Ausnahme des Familienverfahrens), und für die meisten Schutzsuchenden gar keine Möglichkeit besteht einen Asylantrag einzubringen, ohne dafür illegal einzureisen.
3.3.2. Der vom Asylgerichtshof zur Begründung herangezogene Verweis auf zwei Entscheidungen des VwGH (; , 2009/21/0070), ist insofern irreführend, als in den verwiesenen Fällen die Beschwerdeführer zu einem Zeitpunkt illegal nach Österreich eingereist sind, als eine Antragstellung auch im Ausland noch möglich war. Außerdem betont auch der VwGH in beiden Erkenntnissen, dass der in beiden Fällen gegebene längere unrechtmäßige Aufenthalt und damit das beharrliche Missachten der fremdenrechtlichen Vorschriften zu einer Störung der öffentlichen Ordnung führen kann. Der Beschwerdeführer im vorliegenden Verfahren hielt sich demgegenüber bis zur Entscheidung des Asylgerichtshofes legal (wenn auch mit unsicherer Zukunftsprognose) in Österreich auf. Die vom Asylgerichtshof gezogenen Schlüsse können also auch aus diesen Entscheidungen nicht gewonnen werden.
3.4. Damit unterstellt der Asylgerichtshof den in § 10 Abs 2 Z 2 AsylG 2005 genannten Kriterien zum Teil einen anderen, als von Art 8 Abs 2 EMRK vorgegebenen Inhalt. Eine solche nicht den Anforderungen des Art 8 Abs 2 EMRK entsprechende Abwägung kann aber einen Eingriff in das durch Art 8 Abs 1 EMRK garantierte Recht nicht rechtfertigen.
4. Der Verfassungsgerichtshof kann die Behandlung einer Beschwerde gemäß Art 144 B VG ablehnen, wenn von der Entscheidung die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage nicht zu erwarten ist (Art144 Abs 2 B VG). Ein solcher Fall liegt vor, wenn zur Beantwortung der maßgebenden Fragen spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen nicht erforderlich sind.
Die zur Entscheidung über die Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten und über die Zuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten gerügten Rechtsverletzungen wären im vorliegenden Fall nur die Folge einer – allenfalls grob – unrichtigen Anwendung des einfachen Gesetzes. Spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen sind zur Beantwortung der aufgeworfenen Fragen nicht anzustellen.
4.1. Demgemäß wurde beschlossen, von einer Behandlung der Beschwerde, soweit die Abweisung des Antrages auf Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten und die Abweisung des Antrages auf Zuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten bekämpft wird, abzusehen.
III. Ergebnis
1. Der Beschwerdeführer ist durch die angefochtene Entscheidung, soweit mit ihr die Ausweisung aus dem österreichischen Bundesgebiet ausgesprochen wird, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privatlebens verletzt worden. Die angefochtene Entscheidung wird daher insoweit aufgehoben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.
2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– enthalten.
3. Im Übrigen wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt.
4. Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 3 Z 1 iVm § 31 letzter Satz VfGG sowie § 19 Abs 4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
European Case Law Identifier
ECLI:AT:VFGH:2014:U145.2014
Fundstelle(n):
HAAAE-28484