VfGH vom 29.06.2013, U1446/2012 ua
Leitsatz
Verletzung im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander durch Zurückweisung der Asylanträge zweier minderjähriger afghanischer Schwestern und ihres Bruders und Ausweisung nach Ungarn wegen (objektiver) Willkür im Hinblick auf ein die Dublin-II-VO auslegendes Urteil des EuGH betreffend die Frage der Zuständigkeit zur Prüfung der Asylanträge unbegleiteter Minderjähriger
Spruch
I. Die Beschwerdeführer sind durch die angefochtene Entscheidung in dem durch das Bundesverfassungsgesetz BGBl Nr 390/1973 verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander verletzt worden.
Die Entscheidung wird aufgehoben.
II. Der Bund (Bundeskanzler) ist schuldig, den Beschwerdeführern zuhanden ihrer Rechtsvertreterin die mit € 2.760,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe
I. Sachverhalt, Beschwerdevorbringen und Vorverfahren
1. Bei den Beschwerdeführern, die alle afghanische Staatsangehörige sind, handelt es sich um drei Geschwister, die im Alter von 13, 15 bzw. 19 Jahren ohne Begleitung ihrer Eltern oder sonstiger Familienangehöriger aus Ungarn nach Österreich eingereist sind. Nach eigenen Angaben seien die Beschwerdeführer im Jänner 2012 aus Afghanistan über die Türkei nach Griechenland und von dort über eine unbekannte Route nach Ungarn gelangt, wo die Geschwister am Anträge auf internationalen Schutz stellten, bevor sie nach Österreich weiterreisten und hier am erneut Asylanträge stellten.
2. Am richteten die österreichischen Behörden gemäß Art 16 Abs 1 litc der Verordnung (EG) Nr 343/2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist, ABl. 2003 L 50, 1 ff. (im Folgenden: Dublin-II-VO) ein Wiederaufnahmeersuchen an Ungarn. Mit Fax vom akzeptierte Ungarn die Wiederaufnahme der Beschwerdeführer, woraufhin deren in Österreich gestellte Asylanträge mit Bescheiden des Bundesasylamt jeweils vom zurückgewiesen und die Beschwerdeführer nach Ungarn ausgewiesen wurden.
3. Mit Entscheidung vom hob der Asylgerichtshof diese im ersten Rechtsgang erlassenen Bescheide des Bundesasylamtes mit der Begründung auf, dass das Bundesasylamt weder Ausführungen zum Vorbringen der Beschwerdeführer, die zwei (13- bzw. 15jährigen) Schwestern seien in Ungarn getrennt von ihrem 19jährigen Bruder untergebracht worden, gemacht habe, noch auf die Frage eingegangen sei, wie in Ungarn die Unterbringung von Minderjährigen mit einem erwachsenen Angehörigen, der jedoch nicht im engeren Rechtsverständnis der Dublin-II-VO als "Familienangehöriger" anzusehen ist, erfolge.
4. In Beantwortung einer in der Folge vom Bundesasylamt gestellten Anfrage teilten die ungarischen Behörden mit Schreiben vom u.a. mit, dass die Beschwerdeführer im Falle ihrer Überstellung nach Ungarn gemeinsam untergebracht würden. Nach Einholung dieser Auskunft wies das Bundesasylamt die Asylanträge der Beschwerdeführer mit Bescheiden jeweils vom im zweiten Rechtsgang erneut zurück und sprach die Ausweisung nach Ungarn aus. Gegen diese Bescheide erhob der 19jährige Erstbeschwerdeführer (der mit Beschluss des Bezirksgerichts Leopoldstadt vom zum Obsorgeberechtigten für seine zwei minderjährigen Schwestern bestellt worden war) für alle drei Geschwister Beschwerden an den Asylgerichtshof.
5. Mit Entscheidung vom wies der Asylgerichtshof die Beschwerden als unbegründet ab. Begründend führt der Asylgerichtshof aus, Ungarn habe in einem fehlerfrei erfolgten Konsultationsverfahren akzeptiert, die Beschwerdeführer wieder rückzuübernehmen und ihre Asylanträge zu prüfen. Da es den Beschwerdeführern möglich gewesen sei, am in Ungarn Asylanträge zu stellen, könnten keine Zweifel daran bestehen, dass sie in Ungarn Zugang zu einem Asylverfahren hatten und haben. Da – insbesondere im Hinblick darauf, dass die ungarischen Behörden zugesagt hätten, die Beschwerdeführer im Fall einer Rücküberstellung gemeinsam unterzubringen – nicht von einer Verletzung von Art 3 oder 8 EMRK auszugehen sei, habe das Bundesasylamt zu Recht nicht vom Selbsteintrittsrecht gemäß Art 3 Abs 2 Dublin-II-VO Gebrauch gemacht.
6. Gegen diese Entscheidung richtet sich die auf Art 144a B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten behauptet und die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung beantragt wird.
7. Der Asylgerichtshof legte die Verfahrensakten vor, sah aber von der Erstattung einer Gegenschrift ab.
II. Rechtslage
Die maßgeblichen Bestimmungen der Verordnung (EG) Nr 343/2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist, ABl. 2003 L 50, 1 ff. (im Folgenden: Dublin-II-VO), lauten wie folgt:
"KAPITEL 1
ZIEL UND DEFINITIONEN
Artikel 1
Diese Verordnung legt die Kriterien und Verfahren fest, die bei der Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist, zur Anwendung gelangen.
Artikel 2
Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck
[…]
h) 'unbegleiteter Minderjähriger' unverheiratete Personen unter 18 Jahren, die ohne Begleitung eines für sie nach dem Gesetz oder dem Gewohnheitsrecht verantwortlichen Erwachsenen in einen Mitgliedstaat einreisen, solange sie sich nicht tatsächlich in der Obhut eines solchen Erwachsenen befinden; dies schließt Minderjährige ein, die nach ihrer Einreise in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats ohne Begleitung gelassen werden;
i) 'Familienangehörige' die folgenden im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten anwesenden Mitglieder der Familie des Antragstellers, sofern die Familie bereits im Herkunftsland bestanden hat:
i) den Ehegatten des Asylbewerbers oder der nicht verheiratete Partner des Asylbewerbers, der mit diesem eine dauerhafte Beziehung führt, sofern gemäß den Rechtsvorschriften oder den Gepflogenheiten des betreffenden Mitgliedstaats nichtverheiratete Paare nach dessen Ausländerrecht ähnlich behandelt werden wie verheiratete Paare;
ii) die minderjährigen Kinder von in Ziffer i) genannten Paaren oder des Antragstellers, sofern diese ledig und unterhaltsberechtigt sind, gleichgültig, ob es sich nach dem einzelstaatlichen Recht um eheliche oder außerehelich geborene oder adoptierte Kinder handelt;
iii) bei unverheirateten minderjährigen Antragstellern oder Flüchtlingen den Vater, die Mutter oder den Vormund;
[…]
KAPITEL II
ALLGEMEINE GRUNDSÄTZE
Artikel 3
(1) Die Mitgliedstaaten prüfen jeden Asylantrag, den ein Drittstaatsangehöriger an der Grenze oder im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats stellt. Der Antrag wird von einem einzigen Mitgliedstaat geprüft, der nach den Kriterien des Kapitels III als zuständiger Staat bestimmt wird.
(2) Abweichend von Absatz 1 kann jeder Mitgliedstaat einen von einem Drittstaatsangehörigen eingereichten Asylantrag prüfen, auch wenn er nach den in dieser Verordnung festgelegten Kriterien nicht für die Prüfung zuständig ist. Der betreffende Mitgliedstaat wird dadurch zum zuständigen Mitgliedstaat im Sinne dieser Verordnung und übernimmt die mit dieser Zuständigkeit einhergehenden Verpflichtungen. Gegebenenfalls unterrichtet er den zuvor zuständigen Mitgliedstaat, den Mitgliedstaat, der ein Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Staates durchführt, oder den Mitgliedstaat, an den ein Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuch gerichtet wurde.
[…]
Kapitel III
RANGFOLGE DER KRITERIEN
Artikel 5
(1) Die Kriterien zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats finden in der in diesem Kapitel genannten Rangfolge Anwendung.
(2) Bei der Bestimmung des nach diesen Kriterien zuständigen Mitgliedstaats wird von der Situation ausgegangen, die zu dem Zeitpunkt gegeben ist, zu dem der Asylbewerber seinen Antrag zum ersten Mal in einem Mitgliedstaat stellt.
Artikel 6
Handelt es sich bei dem Asylbewerber um einen unbegleiteten Minderjährigen, so ist der Mitgliedstaat, in dem sich ein Angehöriger seiner Familie rechtmäßig aufhält, für die Prüfung seines Antrags zuständig, sofern dies im Interesse des Minderjährigen liegt.
Ist kein Familienangehöriger anwesend, so ist der Mitgliedstaat, in dem der Minderjährige seinen Asylantrag gestellt hat, zuständig.
[…]
Artikel 13
Lässt sich anhand der Kriterien dieser Verordnung nicht bestimmen, welchem Mitgliedstaat die Prüfung des Asylantrags obliegt, so ist der erste Mitgliedstaat, in dem der Asylantrag gestellt wurde, für dessen Prüfung zuständig.
[…]
KAPITEL V
AUFNAHME UND WIEDERAUFNAHME
Artikel 16
(1) Der Mitgliedstaat, der nach der vorliegenden Verordnung zur Prüfung des Asylantrags zuständig ist, ist gehalten:
a) einen Asylbewerber, der in einem anderen Mitgliedstaat einen Antrag gestellt hat, nach Maßgabe der Artikel 17 bis 19 aufzunehmen;
b) die Prüfung des Asylantrags abzuschließen;
c) einen Antragsteller, der sich während der Prüfung seines Antrags unerlaubt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats aufhält, nach Maßgabe des Artikels 20 wieder aufzunehmen;
d) einen Asylbewerber, der seinen Antrag während der Antragsprüfung zurückgezogen und in einem anderen Mitgliedstaat einen Antrag gestellt hat, nach Maßgabe des Artikels 20 wieder aufzunehmen;
e) einen Drittstaatsangehörigen, dessen Antrag er abgelehnt hat und der sich unerlaubt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats aufhält, nach Maßgabe des Artikels 20 wieder aufzunehmen.
(2) Erteilt ein Mitgliedstaat dem Antragsteller einen Aufenthaltstitel, so fallen diesem Mitgliedstaat die Verpflichtungen nach Absatz 1 zu.
(3) Die Verpflichtungen nach Absatz 1 erlöschen, wenn der Drittstaatsangehörige das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten für mindestens drei Monate verlassen hat, es sei denn, der Drittstaatsangehörige ist im Besitz eines vom zuständigen Mitgliedstaat ausgestellten gültigen Aufenthaltstitels.
(4) Die Verpflichtungen nach Absatz 1 Buchstaben d) und e) erlöschen auch, wenn der für die Prüfung des Antrags zuständige Mitgliedstaat nach der Rücknahme oder der Ablehnung des Antrags die notwendigen Vorkehrungen getroffen und tatsächlich umgesetzt hat, damit der Drittstaatsangehörige in sein Herkunftsland oder in ein anderes Land, in das er sich rechtmäßig begeben kann, zurückkehrt."
III. Erwägungen
1. Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.
2. Nach der mit VfSlg 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s. etwa VfSlg 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs 1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sach lichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkenn bar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.
3. Diesem einem Fremden durch ArtI Abs 1 leg.cit. ge währleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl. zB VfSlg 16.214/2001), wenn der Asylgerichtshof dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Dis kriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s. etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001) oder wenn er bei Fällung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001 sowie 18.614/2008).
4. Ein derartiger Fall objektiver Willkür liegt hier vor:
4.1. Der Asylgerichtshof geht in der angefochtenen Entscheidung davon aus, dass Ungarn, wo die Beschwerdeführer zuerst Asylanträge gestellt hatten, zur Prüfung der Asylanträge zuständig sei. Dies begründet der Asylgerichtshof damit, dass Ungarn auf Grundlage von Art 16 Abs 1 litc. Dublin-II-VO akzeptiert habe, die Beschwerdeführer wieder rückzuübernehmen und ihre Asylanträge zu prüfen. Darüber hinaus führt der Asylgerichtshof lediglich aus, es gebe keine Hinweise darauf, dass das Konsultationsverfahren fehlerhaft erfolgt sei und prüft dann – ausgehend von der Auffassung, dass Ungarn zuständig sei –, ob Österreich auf Grund von Art 3 bzw. 8 EMRK von seinem Selbsteintrittsrecht hätte Gebrauch machen müssen.
4.2. Dieses Auslegungsergebnis ist (nunmehr) im Lichte des Urteils des Gerichtshofes der Europäischen Union vom , Rs. C 648/11, MA ua. (noch nicht in der Slg. veröffentlicht), nicht mit der Dublin-II-VO vereinbar:
Die 15jährige Zweit- und die 13jährige Drittbeschwerdeführerin sind ohne ihre Eltern und nur in Begleitung ihres 19jährigen Bruders, dem nunmehrigen Erstbeschwerdeführer, zunächst nach Ungarn und dann nach Österreich eingereist, wo sie jeweils auch ohne gesetzlichen Vertreter Asylanträge stellten. Das Bundes-asylamt, das den Geschwistern entgegenhielt, dass der Anfragebeantwortung der Staatendokumentation und der Auskunft der österreichischen Botschaft in Ungarn zufolge "unbegleitete Minderjährige gemeinsam mit ebenfalls eingereisten volljährigen Geschwistern in Ungarn untergebracht und deren Verfahren gemeinsam geführt würden", und auch der Asylgerichtshof, in dessen Entscheidung diese Auffassung des Bundesasylamtes zustimmend wiedergegeben wird, gehen offenbar davon aus, dass es sich bei der 15jährigen Zweit- und der 13jährigen Drittbeschwerdeführerin um unbegleitete Minderjährige handelt. Dies ist im Hinblick auf den Umstand, dass der 19jährige Erstbeschwerdeführer erst vier Monate nach der Stellung der Asylanträge zum gesetzlichen Vertreter seiner minderjährigen Schwestern bestellt wurde, auch naheliegend (vgl. Art 2 lith Dublin II-VO, demzufolge "unverheiratete Personen unter 18 Jahren, die ohne Begleitung eines für sie nach dem Gesetz oder dem Gewohnheitsrecht verantwortlichen Erwachsenen in einen Mitgliedstaat einreisen, solange sie sich nicht tatsächlich in der Obhut eines solchen Erwachsenen befinden", als unbegleitete Minderjährige zu verstehen sind).
Für durch einen unbegleiteten Minderjährigen gestellte Asylanträge bestimmt Art 6 der Dublin-II-VO als erstes Kriterium bei der Prüfung der Zuständigkeit, dass jener Mitgliedsstaat zuständig ist, in dem sich ein Angehöriger seiner Familie rechtmäßig aufhält. Von dieser Regel kann abgegangen werden, wenn dies im Interesse des Minderjährigen liegt. Ist kein Familienangehöriger anwesend, so ist gemäß Art 6 der Dublin-II-VO jener Mitgliedstaat zuständig, "in dem der Minderjährige seinen Asylantrag gestellt hat". Der Inhalt dieser Regel ist in den Fällen, in denen der unbegleitete Minderjährige einen (einzigen) Asylantrag stellt, unzweifelhaft. Nur dann, wenn es in einem anderen Mitgliedstaat rechtmäßig aufhältige Familienangehörige gibt, ist dieser andere Mitgliedstaat zur Prüfung des Asylantrages zuständig, ansonsten ist jener Mitgliedstaat zuständig, in dem der Asylantrag gestellt wurde (und in dem sich der Minderjährige demnach auch befindet). Unklar war zum Zeitpunkt der Entscheidung des Asylgerichtshofes, was aus dieser Bestimmung abzuleiten ist, wenn sich – wie im vorliegenden Fall – zwar kein Familienangehöriger des Minderjährigen in einem anderen Mitgliedstaat befindet, der Minderjährige aber nicht nur im Staat seines gegenwärtigen Aufenthalts, sondern (davor) auch in einem anderen Mitgliedstaat einen Asylantrag gestellt hat.
4.3. Wie der Gerichtshof der Europäischen Union im Urteil in der Rs. C-648/11, MA ua., nunmehr entschieden hat, ist der Ausdruck "der Mitgliedstaat", in dem der Minderjährige seinen Asylantrag gestellt hat, nicht mit dem in Art 13 der Dublin II-VO verwendeten Ausdruck "der erste Mitgliedstaat", in dem der Asylantrag gestellt wurde, gleichzusetzen (vgl. , MA ua., Rz 53). Bei der Auslegung der Dublin-II-VO ist nach diesem Urteil nämlich zu berücksichtigen, dass unbegleitete Minderjährige im System der Verordnung als besonders schutzwürdig behandelt werden, was etwa dadurch zum Ausdruck kommt, dass Art 6 leg.cit. als erste und damit wichtigste Regelung zur Klärung der Zuständigkeitsfrage heranzuziehen ist und dass diese Bestimmung ausdrücklich auf das Interesse des Minderjährigen Bezug nimmt. Um das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedsstaates nicht länger als unbedingt nötig hinzuziehen und dem Wohl des Minderjährigen bestmöglich zu entsprechen, ist Art 6 der Dublin-II-VO daher so zu verstehen, dass unbegleitete Minderjährige – solange noch keine rechtskräftige Entscheidung über einen Asylantrag in einem anderen Mitgliedstaat getroffen wurde – nicht in einen anderen Mitgliedstaat zu überstellen sind und jener Mitgliedstaat zur Prüfung des Asylantrages zuständig ist, in dem sich der Minderjährige aufhält, nachdem er dort einen Asylantrag gestellt hat (vgl. , MA ua., Rz 66).
Im Hinblick auf die durch den Gerichtshof der Europäischen Union geklärte Rechtslage hätte der Asylgerichtshof ausgehend von der Annahme, dass es sich bei den von der 15jährigen Zweit- und der 13jährigen Drittbeschwerdeführerin gestellten Anträgen um Asylanträge unbegleiteter Minderjähriger handelt, hinsichtlich dieser Asylanträge nicht von einer Zuständigkeit Ungarns ausgehen dürfen. Das muss dann auch bei Beurteilung der Frage, ob Österreich im Hinblick auf den 19jährigen Bruder – bei dem es sich zwar um keinen Familienangehörigen iSv Art 2 liti Dublin II-VO handelt, der mit seinen minderjährigen Schwestern aber ein durch Art 8 EMRK geschütztes Familienleben führt – von seinem Selbsteintrittsrecht Gebrauch machen hätte müssen, eine Rolle spielen.
4.4. Indem der Asylgerichtshof aber eine Zuständigkeit Ungarns hinsichtlich aller drei Beschwerdeführer angenommen hat, hat er die durch die Entscheidung des Gerichtshofes der Europäischen Union geklärte Rechtslage in maßgeblicher Weise verkannt und damit objektiv Willkür geübt.
Der Verfassungsgerichtshof hat nach Klärung der unionsrechtlichen Rechtsfrage durch den Gerichtshof der Europäischen Union den nun offenkundig gewordenen Fehler in der rechtlichen Beurteilung des Asylgerichtshofes aufzugreifen. Er hat näm lich die festgestellte Rechtswidrigkeit der Gesetzesanwendung im Sinne der effektiven Durchsetzung des Unionsrechts in jedem Stadium des Verfahrens zu beachten, und zwar auch dann, wenn die korrekte Auslegung des Unionsrechts erst im Zuge des Verfahrens vor dem Verfassungsgerichtshof offenkundig wurde (vgl. VfSlg 15.448/1999 und ; , U 706/2012).
IV. Ergebnis
1. Die angefochtene Entscheidung ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen war.
2. Die Kostenentscheidung stützt sich auf §§88 iVm 88a VfGG; im zugesprochenen Betrag ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 460,– enthalten.
Da im gegenständlichen Beschwerdeverfahren die Beschwerdeführer eine gemeinsame Beschwerde eingebracht haben, war bloß der einfa che Pauschalsatz, erhöht um einen entsprechenden Streitgenossen zuschlag, zuzusprechen (vgl. VfSlg 14.788/1997; ua.; , B1798/00 ua.).
3. Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.