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VfGH vom 19.09.2014, U1327/2012 ua

VfGH vom 19.09.2014, U1327/2012 ua

Leitsatz

Verletzung der Erstbeschwerdeführerin im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander durch Aberkennung des subsidiären Schutzes und Ausweisung in die Russische Föderation (Tschetschenien) mangels Berücksichtigung ihrer psychischen Erkrankung bei Beurteilung des Fluchtvorbringens und wegen Unterlassung von Ermittlungen zur Lage alleinstehender Frauen in Tschetschenien; Verletzung des minderjährigen Zweitbeschwerdeführers im Recht auf Achtung des Familienlebens

Spruch

I. Die Erstbeschwerdeführerin ist durch die angefochtene Entscheidung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs 1 Bundesverfassungsgesetz BGBl Nr 390/1973) verletzt worden. Der Zweitbeschwerdeführer ist durch die angefochtene Entscheidung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Familienlebens gemäß Art 8 EMRK verletzt worden.

Die Entscheidungen werden aufgehoben.

II. Der Bund (Bundeskanzler) ist schuldig, den Beschwerdeführern zuhanden ihrer Rechtsvertreterin die mit € 2.758,40 bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Die Beschwerdeführer, die Erstbeschwerdeführerin ist die Mutter des minderjährigen Zweitbeschwerdeführers, sind Staatsangehörige der Russischen Föderation (Tschetschenien). Sie reisten gemeinsam mit einem weiteren Kind der Erstbeschwerdeführerin, der zum damaligen Zeitpunkt minderjährigen Tochter, am erstmals in das österreichische Bundesgebiet ein und stellten Anträge auf internationalen Schutz. Mit im zweiten Rechtsgang ergangenem Bescheid des Unabhängigen Bundesasylsenates vom wurden die Anträge auf internationalen Schutz der beiden nunmehrigen Beschwerdeführer sowie deren damals minderjährigen Tochter/Schwester wegen der Zuständigkeit Polens zur Prüfung der Anträge gemäß Dublin-II VO als unzulässig zurückgewiesen und die genannten Personen aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Polen ausgewiesen. Nach der Ausreise nach Polen reisten die Erstbeschwerdeführerin und ihre beiden Kinder abermals illegal in das österreichische Bundesgebiet ein und stellten am einen zweiten Antrag auf internationalen Schutz. Die Erstbeschwerdeführerin gab an, sie habe in Polen einen jener Unbekannten wiedererkannt, der sie und ihre Kinder zuvor in ihrem Heimatstaat bedroht habe.

2. Die Erstbeschwerdeführerin gab sowohl bei der Erstbefragung am als auch bei weiteren Einvernahmen an, ihr Heimatland verlassen zu haben, weil ihr Mann im Jahre 2004 verschleppt worden sei. Ihr Mann habe ein paar Mal tschetschenische Kämpfer mit Essen unterstützt, möglicherweise habe ihn jemand verraten. Seit seiner Entführung sei die Erstbeschwerdeführerin wiederholt von unbekannten Männern bedroht und nach dem Aufenthalt ihres Mannes befragt worden. Als die Erstbeschwerdeführerin schließlich einen Zettel vor ihrer Tür gefunden habe, auf dem damit gedroht wurde, sie umzubringen oder ihre Tochter am Schulweg zu entführen, habe sie sich entschlossen, mit ihren Kindern das Land zu verlassen. Im Jahr 2006 habe die Erstbeschwerdeführerin einen schweren Autounfall gehabt und dabei Kopfverletzungen verbunden mit Bewusstlosigkeit erlitten. Im Übrigen sei auch das Haus der Beschwerdeführer angezündet worden.

3. Die minderjährige Tochter hat, nach Ehemündigerklärung durch das Bezirksgericht Rohrbach am , in Österreich einen Asylwerber geheiratet und mit diesem zwei gemeinsame Kinder. Im Zuge eines Familienverfahrens wurde ihr, abgeleitet vom Asylstatus ihres Ehemannes, gemäß § 3 Abs 5 AsylG 2005 ebenfalls Flüchtlingsstatus zuerkannt.

3.1. Mit Bescheiden des Bundesasylamtes [im Folgenden: BAA] vom wurden die Anträge der beiden nunmehrigen Beschwerdeführer auf internationalen Schutz jeweils abgewiesen, jedoch der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt sowie eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum erteilt. Begründend führte das BAA in diesen Bescheiden aus, das Vorbringen der Erstbeschwerdeführerin zu ihren Fluchtgründen sei unglaubwürdig, es fehle am zeitlichen Konnex zur Ausreise, die Ausführungen seien völlig unkonkret und nicht nachvollziehbar. In Bezug zur mittlerweile für ehemündig erklärten und verheirateten Tochter/Schwester liege kein Familienverfahren gemäß § 34 AsylG 2005 vor. Bezüglich der psychischen Erkrankung der Erstbeschwerdeführerin sei ein psychologisches Gutachten vom zu berücksichtigen, wonach die Erstbeschwerdeführerin an einer posttraumatischen Belastungsstörung mit dissoziativen Bewusstseinsstörungen (dissoziativen Anfällen) leide. Unter der bisherigen Therapie sei eine teilweise Remission der posttraumatischen Belastungsstörung zu verzeichnen. Im Falle einer Überstellung in die Russische Föderation (Tschetschenien) bestehe die erhöhte Wahrscheinlichkeit des Auftretens einer Retraumatisierung bzw. die Gefahr einer zunehmenden Chronifizierung. Da sich der medizinische Gutachter für die Fortsetzung der Therapie für eine Dauer von zumindest einem Jahr ausspreche, werde jeweils subsidiärer Schutz zuerkannt und eine befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt.

4. Gegen diese Bescheide erhoben die Beschwerdeführer Beschwerden an den Asylgerichtshof. In der mündlichen Verhandlung vom zogen die Beschwerdeführer die Beschwerden gegen die Abweisung der Anträge auf Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I) zurück.

4.1. Am untersuchten zwei gerichtlich zertifizierte Sachverständige die Erstbeschwerdeführerin im Auftrag des BAA und erstatteten am ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten, wonach die Erstbeschwerdeführerin an dissoziativen Anfällen (ICD10 F44.5) sowie einer Anpassungsstörung mit einer leichtgradigen depressiven Reaktion (ICD10 F43.2) leide. Eindeutige Hinweise für eine posttraumatische Belastungsstörung fänden sich entgegen der bisher gestellten Diagnose nicht, von einer dauerhaften Behandlungsbedürftigkeit sei nicht auszugehen.

4.2. Mit im Wesentlichen gleichlautenden Bescheiden vom erkannte das BAA den subsidiären Schutz beider Beschwerdeführer gemäß § 9 Abs 1 AsylG 2005 von Amts wegen ab. Begründend führte das BAA jeweils zusammengefasst aus, aus dem eingeholten Gutachten gehe hervor, dass der Gesundheitszustand der Erstbeschwerdeführerin, welcher zur Zuerkennung des subsidiären Schutzes geführt habe, nicht mehr vorliege. Durch die Ausweisung in die Russische Föderation (Tschetschenien) liege bei beiden Beschwerdeführern kein Eingriff in das Recht auf Familienleben vor, da sie gemeinsam ausgewiesen würden. Zur Tochter/Schwester bestehe keine Beziehung, welche als Familienleben iSd Art 8 EMRK zu qualifizieren sei. Die Interessenabwägung zum Eingriff in das Recht auf Privatleben ergäbe, dass das öffentliche Interesse an der Einhaltung der fremdenrechtlichen Bestimmungen und am Schutz der öffentlichen Ordnung überwiege. Die Beschwerdeführer hätten den Großteil ihres Lebens in Tschetschenien verbracht und sprächen die dortige Sprache. In Tschetschenien würden die Schwester und Freunde der Erstbeschwerdeführerin leben.

4.3. Gegen diese Bescheide erhoben die Beschwerdeführer Beschwerden an den Asylgerichtshof. Der Asylgerichtshof wies die beiden Beschwerden nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am gemäß §§9 und 10 AsylG 2005 als unbegründet ab. Begründend führte der Asylgerichtshof aus, dass er den "fundierten und nachvollziehbaren Gutachten […] vom folge" und sich daraus ergäbe, dass bei der Überstellung in die Russische Föderation (Tschetschenien) keine reale Gefahr bestünde, dass die Erstbeschwerdeführerin in einen lebensbedrohlichen Zustand gerate. Die maßgeblichen Umstände für die Zuerkennung des subsidiären Schutzes hätten sich insofern geändert. Das Fluchtvorbringen könne der Entscheidung auf Grund von Widersprüchen (zB zum Zeitpunkt des Anzündens des Hauses der Beschwerdeführer; der Dauer der Bewusstlosigkeit der Erstbeschwerdeführerin unmittelbar nach dem Verkehrsunfall; zum Hergang des Verkehrsunfalles; zu den angeblichen Übergriffen durch Sicherheitsbehörden und Bedrohungen durch Unbekannte) und wegen gesteigerten Vorbringens nicht zugrunde gelegt werden. Die Fluchtgeschichte sei ein erfundenes Konstrukt. Darüber hinaus ergäbe sich aus den Länderberichten, dass sich die Lage in Tschetschenien stabilisiert habe, die Zahl der Übergriffe und Menschenrechtsverletzungen zurückgegangen und die Phase der aktuellen Krisensituation vorbei sei. Ein Eingriff in das Recht auf Familienleben sei mit einer Ausweisung nicht verbunden und eine diesbezügliche Abwägung daher nicht erforderlich. Bei der Abwägung hinsichtlich des Eingriffs in das Recht auf Privatleben würden die öffentlichen Interessen an der Einhaltung der fremdenrechtlichen Bestimmungen und am Schutz der öffentlichen Ordnung überwiegen.

5. Gegen diese Entscheidungen des Asylgerichtshofes richten sich die vorliegenden, auf Art 144a B VG gestützten Beschwerden, in der die Beschwerdeführer die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten geltend machen. Der Asylgerichtshof legte die Verwaltungs- und Gerichtsakten vor, verzichtete auf die Erstattung einer Gegenschrift, verwies auf die Begründung in den angefochtenen Entscheidungen und beantragte, die Beschwerden abzuweisen.

II. Erwägungen

1. Die – zulässigen – Beschwerden sind begründet.

2. Nach der mit VfSlg 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s. etwa VfSlg 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs 1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.

Diesem einem Fremden durch ArtI Abs 1 leg.cit. gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl. zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s. etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001) oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001 sowie 18.614/2008).

Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001).

2.1. Ein solcher Fehler ist dem Asylgerichtshof unterlaufen:

2.2. Gemäß § 8 Abs 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, dessen Antrag auf internationalen Schutz in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird, der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art 2, Art 3 oder der Protokolle Nr 6 oder Nr 13 zur EMRK bedeuten oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde. Das Vorhandensein einer Unterkunft und die Möglichkeit der Versorgung im Zielstaat können unter dem Gesichtspunkt des Art 3 EMRK relevant sein (VfSlg 19.602/2011 mwN).

2.3. Im vorliegenden Fall hat der Asylgerichtshof bei der Beurteilung des Vorbringens die Auswirkungen der psychischen Erkrankung der Erstbeschwerdeführerin auf deren Fähigkeit, die relevanten Ereignisse schlüssig und widerspruchsfrei zu schildern, nicht berücksichtigt. Der Asylgerichtshof stützt sich in seiner Entscheidung, ebenso wie das BAA zuvor, auf das medizinische Gutachten vom , wonach die Erstbeschwerdeführerin nicht mehr an einer posttraumatischen Belastungsstörung leide und ihre psychische Beeinträchtigung nunmehr kein lebensbedrohliches Ausmaß bei der Überstellung in die Russische Föderation (Tschetschenien) erreiche. Aus diesem Gutachten, das den Verwaltungsakten beigelegt ist, geht aber auch hervor, dass die Erstbeschwerdeführerin (weiterhin) an dissoziativen Anfällen (ICD10 F44.5) sowie einer Anpassungsstörung mit einer leichtgradigen depressiven Reaktion (ICD10 F43.2) leide. Allgemeines Kennzeichen der dissoziativen Störungen ist – nach der von der Weltgesundheitsorganisation herausgegebenen Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD) – der teilweise oder völlige Verlust der normalen Integration der Erinnerung an die Vergangenheit, des Identitätsbewusstseins, der Wahrnehmung unmittelbarer Empfindungen sowie der Kontrolle von Körperbewegungen. Der Asylgerichtshof wirft der Erstbeschwerdeführerin ungeachtet dieses Gutachtens aber vor, ihr Vorbringen zu den Fluchtgründen, insbesondere im Zusammenhang mit der behaupteten Entführung ihres Ehemannes im Jahr 2004, mit den nächtlichen Befragungen durch unbekannte Männer, mit dem Verstecken mit ihren Kindern bei "fremden" Leuten, dem Zeitpunkt des Anzündens ihres Hauses sowie dem Erhalt eines Drohbriefes, sei widersprüchlich gewesen und in unglaubwürdiger Weise gesteigert worden. Sogar aus den unterschiedlichen Angaben zur Dauer der Bewusstlosigkeit unmittelbar nach dem Verkehrsunfall leitet der Asylgerichtshof die Unglaubwürdigkeit des Fluchtvorbringens ab.

2.4. Aus dem medizinischen Gutachten vom geht unter anderem hervor, dass die dissoziativen Anfälle, unter denen die Erstbeschwerdeführerin leide, "im Zusammenhang mit der unvollständigen Aufarbeitung eines Verkehrsunfalles im Jahr 2006" stehen, bei dem die Erstbeschwerdeführerin "eine Kopfverletzung mit Bewusstlosigkeit" erlitten habe. Vor diesem Hintergrund ist es unschlüssig, wenn der Umstand, dass die Erstbeschwerdeführerin zu diesem Verkehrsunfall keine regelmäßig gleichlautenden Angaben machen kann, beweiswürdigend gegen sie verwendet wurde. Wenn die Erstbeschwerdeführerin ferner zu Ereignissen in der Vergangenheit keine widerspruchsfreien Angaben macht, kann daraus ebenso wenig ihre Unglaubwürdigkeit abgeleitet werden, wenn der teilweise oder völlige Verlust der normalen Integration der Erinnerung an die Vergangenheit zum Krankheitsbild gehört (vgl. zB ).

2.5. Vor dem Hintergrund der – vom Asylgerichtshof nicht in Zweifel gezogenen – psychischen Erkrankung der Erstbeschwerdeführerin und der der Entscheidung des Asylgerichtshofes zugrunde gelegten Länderberichte, wonach Angehörige vermeintlicher Rebellen unter Druck gesetzt würden und Häuser von Familien angeblicher Untergrundkämpfer angezündet würden [aE S 25f], die sozial schwächste Gruppe Familien ohne Männer seien [aE S 32], es kaum Schutzmöglichkeiten für Frauen gäbe, die Polizei meist passiv bleibe [aE S 33] und die wirtschaftliche Lage alleinstehender Frauen bei einer Rückkehr stark von der Unterstützung ihrer Großfamilien abhänge [aE S 34], hätte der Asylgerichtshof ungeachtet der Widersprüche im Vorbringen der Erstbeschwerdeführerin weitergehende Ermittlungen anstellen müssen.

2.6. Mit diesem Unterlassen der erforderlichen Ermittlungen in einem wesentlichen Punkt hat der Asylgerichtshof die angefochtene Entscheidung hinsichtlich der Erstbeschwerdeführerin daher mit Willkür iSd o.a. Judikatur des Verfassungsgerichtshofes belastet. Dieser Mangel führt auch zur Rechtswidrigkeit und Aufhebung der die Ausweisung betreffenden Teile der vom Zweitbeschwerdeführer angefochtenen Entscheidung: Da zwischen diesem und der Erstbeschwerdeführerin ein schützenswertes Familienleben iSd Art 8 EMRK vorliegt, wird dieser durch die rechtswidrige Ausweisung der Erstbeschwerdeführerin in seinem durch Art 8 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Familienlebens verletzt (vgl. u.a.).

3. Zur Vermeidung überflüssigen Verfahrensaufwandes weist der Verfassungsgerichtshof im Übrigen auf Folgendes hin:

3.1. Soweit der Asylgerichtshof im vorliegenden Fall erkennbar davon ausgeht, dass eine Ausweisung des minderjährigen Zweitbeschwerdeführers nach Tschetschenien keine Verletzung des Art 8 EMRK darstelle, wird das Bundesverwaltungsgericht im fortgesetzten Verfahren – anders als bislang der Asylgerichtshof – ausreichende Ermittlungen dazu anzustellen haben.

3.2. Der Asylgerichtshof geht im vorliegenden Fall des Weiteren erkennbar davon aus, dass zwischen der Erstbeschwerdeführerin und ihrer Tochter kein von Art 8 EMRK geschütztes Familienleben bestehe. Im Hinblick darauf, dass sich dazu aus den Verwaltungsakten unter anderem Hinweise darauf ergeben, dass die Erstbeschwerdeführerin eigens von Oberösterreich nach Wien übersiedelt ist, um die Tochter bei der Betreuung derer beiden Kleinkinder zu unterstützen, wird das Bundesverwaltungsgericht im fortgesetzten Verfahren – insbesondere unter Berücksichtigung des Erkenntnisses des – auf dieses Vorbringen einzugehen und auch dazu entsprechende Ermittlungen anzustellen haben.

III. Ergebnis

1. Die Erstbeschwerdeführerin ist durch die angefochtene Entscheidung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs 1 Bundesverfassungsgesetz BGBl 390/1973) verletzt worden. Der Zweitbeschwerdeführer ist durch die angefochtene Entscheidung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Familienlebens gemäß Art 8 EMRK verletzt worden.

2. Die angefochtenen Entscheidungen sind daher aufzuheben.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf §§35 Abs 1 und 88 VfGG iVm § 43 Abs 1 ZPO. In den zugesprochenen Kosten sind ein Streitgenossenzuschlag in der Höhe von € 200,– und Umsatzsteuer in der Höhe von € 440,– enthalten sowie ferner die nachgewiesenen und zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung auch notwendigen Kosten für die außergerichtliche Beiziehung eines Dolmetschers (vgl. zB OLG Wien, 1 R 67/12y) zur Informationsaufnahme in der Höhe von € 118,40. Der geltend gemachte Kopieraufwand ist hingegen mit dem zuerkannten Pauschalsatz abgegolten.

4. Die Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

European Case Law Identifier

ECLI:AT:VFGH:2014:U1327.2012