VfGH vom 03.10.2012, U119/12
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Leitsatz
Verletzung im Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens durch Ausweisung eines kosovarischen Staatsangehörigen infolge verfassungswidriger Interessenabwägung
Spruch
I. Der Beschwerdeführer ist durch die angefochtene Entscheidung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt worden.
Die Entscheidung wird aufgehoben.
II. Der Bund (Bundeskanzler) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.400,- bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe:
I. Anlassverfahren, Beschwerdevorbringen und Vorverfahren
1. Der Beschwerdeführer, ein am geborener kosovarischer Staatsangehöriger, stellte am einen Antrag auf internationalen Schutz.
2. Das Bundesasylamt (im Folgenden: BAA) wies den Antrag auf internationalen Schutz mit Bescheid vom bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs 1 iVm § 2 Abs 1 Z 13 Asylgesetz 2005 (im Folgenden: AsylG 2005) (Spruchpunkt I.) und bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Republik Kosovo gemäß § 8 Abs 1 iVm § 2 Abs 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) ab und wies den Beschwerdeführer aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Republik Kosovo gemäß § 10 Abs 1 AsylG 2005 aus (Spruchpunkt III.).
3. Die dagegen erhobene Beschwerde vom wies der Asylgerichtshof (im Folgenden: AsylGH) mit Entscheidung vom gemäß §§3 Abs 1, 8 Abs 1 Z 1 und 10 Abs 1 Z 2 AsylG 2005 als unbegründet ab.
Seine Entscheidung im Hinblick auf die Ausweisung des Beschwerdeführers (Spruchpunkt III.) begründet der AsylGH insbesondere damit, dass der Beschwerdeführer in Österreich kein Familienleben führe, in welches durch die Ausweisung eingegriffen wird. Weiters führt er aus, dass eine bestehende Lebensgemeinschaft des Beschwerdeführers zu einem Zeitpunkt entstanden sei, in dem er sich seines unsicheren Aufenthalts bewusst war. Andere entscheidungswesentliche familiäre Anknüpfungspunkte des Beschwerdeführers in Österreich seien im Verfahren nicht hervorgekommen. Andere wesentliche Gesichtspunkte für die Ausweisungsentscheidung seien die kurze Aufenthaltsdauer des Beschwerdeführers in Österreich (ungefähr dreieinhalb Jahre) und eine strafgerichtliche Verurteilung.
4. In seiner gegen diese Entscheidung gerichteten, auf Art 144a B-VG gestützten Beschwerde behauptet der Beschwerdeführer die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten und beantragt die kostenpflichtige Aufhebung der angefochtenen Entscheidung. In seiner Beschwerde monierte der Beschwerdeführer u.a., dass der AsylGH nicht berücksichtigt habe, dass er bereits seit mit einer österreichischen Staatsbürgerin verheiratet ist und seine Ehefrau Zwillinge erwartet.
5. Der belangte AsylGH legte die Gerichts- und Verwaltungsakten vor und beantragte die Abweisung der Beschwerde, nahm jedoch von der Erstattung einer Gegenschrift Abstand.
II. Rechtslage
§10 AsylG 2005, BGBl. I 100/2005 idF BGBl. I 38/2011, lautet:
"Verbindung mit der Ausweisung
§10 (1) Eine Entscheidung nach diesem Bundesgesetz ist mit einer Ausweisung zu verbinden, wenn
[...]
2. der Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird.
(2) Ausweisungen nach Abs 1 sind unzulässig, wenn
[...]
2. diese eine Verletzung von Art 8 EMRK darstellen würden. Dabei sind insbesondere zu berücksichtigen:
a) die Art und Dauer des bisherigen Aufenthalts und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war;
b) das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens;
c) die Schutzwürdigkeit des Privatlebens;
d) der Grad der Integration;
e) die Bindungen zum Herkunftsstaat des Fremden;
f) die strafgerichtliche Unbescholtenheit;
g) Verstöße gegen die öffentliche Ordnung,
insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts;
h) die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren;
i) die Frage, ob die Dauer des bisherigen
Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist."
III. Erwägungen
Der Verfassungsgerichtshof hat zur - zulässigen - Beschwerde erwogen:
1. Ein Eingriff in das durch Art 8 EMRK verfassungsgesetzlich garantierte - unter Gesetzesvorbehalt stehende - Recht ist dann verfassungswidrig, wenn der ihn verfügende Bescheid ohne jede Rechtsgrundlage ergangen ist, auf einer dem Art 8 EMRK widersprechenden Rechtsvorschrift beruht oder wenn die Behörde bei Erlassung des Bescheides eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Rechtsgrundlage in denkunmöglicher Weise angewendet hat; ein solcher Fall liegt nur vor, wenn die Behörde einen so schweren Fehler begangen hat, dass dieser mit Gesetzlosigkeit auf eine Stufe zu stellen wäre, oder wenn sie der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen verfassungswidrigen, insbesondere einen dem Art 8 Abs 1 EMRK widersprechenden und durch Art 8 Abs 2 EMRK nicht gedeckten Inhalt unterstellt hat (vgl. VfSlg. 11.638/1988, 15.051/1997, 15.400/1999, 16.657/2002).
2. Dem AsylGH ist ein in die Verfassungssphäre reichender Fehler vorzuwerfen:
2.1. Wie bereits in der zur fremdenrechtlichen Ausweisung ergangenen Judikatur ausgeführt (vgl. u.a. VfSlg. 18.223/2007, 18.223/2007) bezweifelt der Verfassungsgerichtshof nicht, dass die Schaffung eines Ordnungssystems, mit dem die Einreise und der Aufenthalt von Fremden geregelt wird, auch im Lichte der Entwicklungen auf europäischer Ebene notwendig ist. Dem öffentlichen Interesse an der Einhaltung der die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regelnden Bestimmungen kommt im Interesse des Schutzes der öffentlichen Ordnung (Art8 Abs 2 EMRK) daher ein hoher Stellenwert zu. Nichts anderes gilt auch für den Fall einer mit einer Abweisung oder Zurückweisung eines Asylantrags ausgesprochenen Ausweisung eines Asylwerbers.
Wie die zuständige Fremdenpolizeibehörde ist aber
auch der eine Ausweisung aussprechende Asylgerichtshof bzw. das BAA stets dazu verpflichtet, das öffentliche Interesse an der Aufenthaltsbeendigung gegen die persönlichen Interessen des Fremden an einem weiteren Verbleib in Österreich am Maßstab des Art 8 EMRK abzuwägen (vgl. VfSlg. 18.524/2008).
2.2. Im vorliegenden Fall erweist sich die vom AsylGH durchgeführte Interessensabwägung insofern als fehlerhaft, als sie gegen Art 8 EMRK verstößt:
Der AsylGH legt seiner Entscheidung einen falschen Familienbegriff zugrunde. Nach der Feststellung, dass sich der Beschwerdeführer in einer Lebensgemeinschaft befindet (Seite 5) führt der AsylGH auf Seite 46 der angefochtenen Entscheidung Folgendes aus:
"Ein in Österreich bestehendes Familienleben des Beschwerdeführers, in welches durch die Ausweisung eingegriffen werden würde, liegt im gegenständlichen Fall nicht vor. Selbst wenn man davon ausgehen würde, dass sich der Beschwerdeführer in einer Lebensgemeinschaft und in gemeinsamem Haushalt mit dieser Person befindet, ist anzuführen, dass er diese Beziehung erst nach seiner Ausreise aus dem Herkunftsstaat eingegangen ist und sich zu diesem Zeitpunkt seines unsicheren Aufenthaltes bewusst war und nicht mit der Fortsetzung dieses Zustandes hätte rechnen dürfen (vgl. - wie bereits oben zitiert - Rodrigues da Silva und Hoogkamer gg Niederlande, EuGRZ 2006). Andere entscheidungswesentliche familiäre Anknüpfungspunkte des Beschwerdeführers in Österreich sind im Verfahren ebenfalls nicht hervorgekommen."
Der AsylGH geht offenbar davon aus, dass Lebensgemeinschaften nicht unter den Familienbegriff des Art 8 EMRK fallen, wenn sie erst während der Dauer des Asylverfahrens begründet wurden. Doch ist weder die Eheschließung Voraussetzung für den Schutz von Art 8 EMRK (vgl. VfGH B1405/10 mwN; u.a. EGMR , 9697/82 [Johnston u. a. gg Irland] Rz. 56) noch beseitigt der bloße Hinweis auf den unsicheren Aufenthaltsstatus des Asylwerbers während der Dauer des Asylverfahrens den Schutz des Familienlebens. Einer mit der Ausweisung verbundenen Trennung von Familienmitgliedern kommt jedenfalls eine entscheidungswesentliche Bedeutung zu, mit der sich der AsylGH auseinander setzen muss (vgl. VfSlg. 18.388/2008, 18.389/2008, 18.392/2008).
Der AsylGH verneint in seinen rechtlichen Erwägungen von vornherein einen Eingriff in das Familienleben des Beschwerdeführers durch die Ausweisungsentscheidung und nimmt daher keine Interessensabwägung vor. Er misst der mit der Ausweisung verbundenen Trennung des Beschwerdeführers von seiner Ehefrau keine entscheidungswesentliche Bedeutung bei. Im Rahmen der gebotenen Interessensabwägung käme der Frage, ob das Familienleben in einem ungewissen Aufenthaltszustand entstanden ist, ein wesentliches Gewicht zu. Die öffentlichen Interessen an der Ausweisung sind aber den privaten Interessen gegenüberzustellen, u.a. die Frage der Zumutbarkeit der Fortführung des Familienlebens im Kosovo.
IV. Ergebnis und damit zusammenhängende Ausführungen
1. Der Beschwerdeführer ist somit durch die
angefochtene Entscheidung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt worden.
Die angefochtene Entscheidung war daher schon aus dem Grund aufzuheben, ohne dass auf das übrige Beschwerdevorbringen einzugehen war.
2. Die Kostenentscheidung beruht auf §§88a iVm 88
VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 400,- enthalten.
Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.