VfGH vom 14.03.2012, U1083/11
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Leitsatz
Verletzung im Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens durch Ausweisung eines armenischen Staatsangehörigen; keine Berücksichtigung des in Österreich bestehenden Familienlebens bei der Interessenabwägung
Spruch
1. Der Beschwerdeführer ist durch die angefochtene Entscheidung, soweit damit durch deren Spruchpunkt 3. seine Beschwerde an den Asylgerichtshof gegen die mit Bescheid des Bundesasylamtes verfügte Ausweisung abgewiesen wird, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Art 8 EMRK verletzt worden.
Die Entscheidung wird insoweit aufgehoben.
2. Der Bund (Bundeskanzler) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seiner Rechtsvertreterin die mit € 2.620,-- bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu bezahlen.
Begründung
Entscheidungsgründe:
I. Sachverhalt, Beschwerdevorbringen und Vorverfahren
1.1. Der Beschwerdeführer, sein Vater und seine
Mutter sind armenische Staatsangehörige, die am illegal nach Österreich einreisten. Am selben Tag brachte der Vater einen Asylantrag ein. Die Mutter stellte für sich und ihren (zum Zeitpunkt der Asylantragstellung als minderjährig bezeichneten) Sohn - also den nunmehrigen Beschwerdeführer - am Asylerstreckungsanträge (die in weiterer Folge abgewiesen wurden).
Am stellten der Sohn und am die Mutter jeweils einen weiteren (eigenen) Asylantrag (jener des Sohnes datiert mit ).
1.2.1. Das Bundesasylamt wies den Asylantrag des Vaters mit Bescheid vom gemäß § 7 Asylgesetz 1997, BGBl. I 76/1997 idgF, ab und erklärte gemäß § 8 (Abs1) leg.cit. die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Vaters nach Armenien für zulässig. Seine Ausweisung wurde mit diesem Bescheid nicht ausgesprochen.
1.2.2. Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom erging eine gleichartige Entscheidung gegenüber dem Sohn (Abweisung seines Asylantrages vom und Ausspruch der Zulässigkeit seiner Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung nach Armenien). Darüber hinaus wurde mit diesem Bescheid gemäß § 8 Abs 2 AsylG 1997 die Ausweisung des Sohnes aus dem österreichischen Bundesgebiet verfügt.
1.2.3. Schließlich entschied das Bundesasylamt mit Bescheid vom hinsichtlich der Mutter in gleicher Weise wie im Fall des Sohnes (Abweisung ihres Asylantrages vom ; Ausspruch der Zulässigkeit ihrer Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung nach Armenien; Ausweisung aus dem österreichischen Bundesgebiet).
1.3. Gegen die sie betreffende Entscheidung erhoben Vater, Sohn und Mutter mit Schreiben vom , bzw. Berufung (nunmehr: Beschwerde).
Der Asylgerichtshof wies (nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung) alle drei Beschwerden mit einer gemeinsamen Entscheidung vom ab. Von dem gegenüber der Mutter ergangenen Bescheid wurde allerdings Spruchpunkt III. - das ist die Verfügung der Ausweisung aus dem österreichischen Bundesgebiet - aufgehoben.
Der den Sohn betreffende Teil der Entscheidung des Asylgerichtshofes - das ist deren Spruchpunkt 3. - wird auf folgende Gesetzesbestimmungen gestützt: §§7 und 8 Abs 1 AsylG 1997 idF BGBl. I 129/2004 iVm § 75 Abs 1 und Abs 8 Asylgesetz 2005, BGBl. I 100/2005 idF BGBl. I 135/2009, § 10 Abs 1 Z 2 und § 75 Abs 8 AsylG 2005.
2. Die vorliegende, vom Sohn erhobene, auf Art 144a B-VG gestützte Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof richtet sich gegen die eben genannte Entscheidung des Asylgerichtshofes "hinsichtlich der Ausweisung (hinsichtlich § 10 Abs 1 Z 2 AsylG)". Ausdrücklich festgehalten wird in der Beschwerde, dass die Entscheidung des Asylgerichtshofes nicht angefochten werde, soweit sie die Eltern des Beschwerdeführers betrifft. (Das sind die Spruchpunkte 1. und 2. der Entscheidung.)
Der Beschwerdeführer macht die Verletzung der verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs 1 des Bundesverfassungsgesetzes BGBl. 390/1973) sowie auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Art 8 EMRK geltend und beantragt die kostenpflichtige Aufhebung der angefochtenen Entscheidung im bekämpften Umfang.
3. Der Asylgerichtshof legte die Verwaltungs- und Gerichtsakten vor. Von der Erstattung einer Gegenschrift nahm er Abstand und verwies auf die Begründung in der angefochtenen Entscheidung.
II. Erwägungen
Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:
Die Beschwerde ist begründet.
1. In der Sache
1. Ein Eingriff in das durch Art 8 EMRK verfassungsgesetzlich garantierte - unter Gesetzesvorbehalt stehende - Recht ist dann verfassungswidrig, wenn der ihn verfügende Bescheid ohne jede Rechtsgrundlage ergangen ist, auf einer dem Art 8 EMRK widersprechenden Rechtsvorschrift beruht oder wenn die Behörde bei Erlassung des Bescheides eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Rechtsgrundlage in denkunmöglicher Weise angewendet hat; ein solcher Fall liegt nur vor, wenn die Behörde einen so schweren Fehler begangen hat, dass dieser mit Gesetzlosigkeit auf eine Stufe zu stellen wäre, oder wenn sie der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen verfassungswidrigen, insbesondere einen dem Art 8 Abs 1 EMRK widersprechenden und durch Art 8 Abs 2 EMRK nicht gedeckten Inhalt unterstellt hat (vgl. VfSlg. 11.638/1988, 15.051/1997, 15.400/1999, 16.657/2002). Dieser Maßstab gilt auch für Entscheidungen des Asylgerichtshofes (s. etwa VfSlg. 18.832/2009).
2. Dem belangten Asylgerichtshof ist ein in die Verfassungssphäre reichender Fehler vorzuwerfen:
2.1. In der Frage der Ausweisung stellt sich nach
Erlass der (teilweise) angefochtenen Entscheidung des Asylgerichtshofes die Situation wie folgt dar:
Tabelle in neuem Fenster öffnen
- | Hinsichtlich des Vaters ist keine Ausweisung |
verfügt (weder in der Entscheidung des Asylgerichtshofes noch im bekämpften Bescheid des Bundesasylamtes vom ). |
Tabelle in neuem Fenster öffnen
- | Bezüglich der Mutter ist gleichfalls keine |
Ausweisung verfügt. (Der Asylgerichtshof hat Spruchpunkt III. des Bescheides des Bundesasylamtes vom - und damit den Ausspruch der Ausweisung - aufgehoben.) |
Tabelle in neuem Fenster öffnen
- | Hinsichtlich des Sohnes besteht eine aufrechte Ausweisungsentscheidung. (Der Asylgerichtshof hat den Ausspruch der Ausweisung im Bescheid des Bundesasylamtes vom nicht aufgehoben.) |
2.2.1. Die Aufhebung der gegenüber der Mutter
gefällten Ausweisungsentscheidung begründet der Asylgerichtshof in seiner Erledigung wie folgt (BF1 bezeichnet den Erstbeschwerdeführer vor dem Asylgerichtshof, nämlich den Vater; BF2 bezeichnet die Zweitbeschwerdeführerin vor dem Asylgerichtshof, also die Mutter):
"Im vorliegenden Fall war über die Ausweisung des BF1 aufgrund der damaligen Rechtslage nicht zu entscheiden, sodass eine allfällige Ausweisung dieses in die Kompetenz der örtlich zuständigen Fremdenpolizei fällt. Die BF2 lebt derzeit in Österreich im Familienverband mit dem BF1.
Da hinsichtlich des BF1 zum Entscheidungszeitpunkt keine Ausweisungsentscheidung vorliegt, erscheint es daher möglich, dass die BF2 ohne ihren Gatten Österreich zu verlassen hat.
Ein solches Ergebnis, das zu einer Trennung der Kernfamilie führen würde, widerspräche den [...] Intentionen des Gesetzgebers bei Einführung des Familienverfahrens und wäre ein Eingriff [gemeint wohl: für einen Eingriff] in das durch Art 8 EMRK geschützte Recht auf Familienleben - auch unter Berücksichtigung der öffentlichen Interessen - keine Rechtfertigung zu erkennen.
Somit ist im Hinblick auf eine zeitlich einheitliche Ausweisung aller Familienmitglieder unter Wahrung der Familieneinheit eine allfällige Ausweisung durch eine Behörde - sohin durch die örtlich zuständige Fremdenpolizei - im Sinne einer analogen Anwendung der höchstgerichtlichen Judikatur geboten.
Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hat eine asylrechtliche Ausweisung zu unterblieben, wenn der betreffende Fremde das Bundesgebiet unter Zurücklassung eines Familienangehörigen, mit dem er ein Familienleben iSd Art 8 Abs 1 EMRK führt, zu verlassen hat (sog. 'partielle Ausweisung'), sodass die Fremdenbehörden in die Lage versetzt werden, über die Zulässigkeit der Ausweisung aller Familienmitglieder gemeinsam zu entscheiden (vgl. , mit Verweis auf ; , 2007/19/1054; , 2007/19/0851).
Um das vom Gesetzgeber intendierte und verfassungsrechtlich gebotene Ergebnis zu erzielen, hat eine Ausweisung durch die Asylbehörden daher in einem Fall wie dem vorliegenden zu unterbleiben.
Spruchpunkt III. des angefochtenen Bescheides der BF2 war daher ersatzlos zu beheben."
2.2.2. In Zusammenhang mit der Ausweisung des Sohnes heißt es in der Entscheidung des Asylgerichthofes auszugsweise:
"Der Drittbeschwerdeführer lebt seit gemeinsamer Asylantragstellung mit seinen Eltern in Österreich. Er möchte offensichtlich sein künftiges Leben in Österreich gestalten und hält sich bereits seit , also seit
ca. 8,5 Jahre[n] im Bundesgebiet auf. [...]
Die Ausweisung stellt somit einen Eingriff in das Recht auf das Privat- und Familienleben dar.
[...]
Es ist in weiterer Folge zu prüfen, ob ein Eingriff in das Recht auf Achtung des Privat- und/oder Familienlebens des Beschwerdeführers im gegenständlichen Fall durch den Eingriffsvorbehalt des Art 8 EMRK gedeckt ist und ein in einer demokratischen Gesellschaft legitimes Ziel, nämlich die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung iSv. Art 8 (2) EMRK, in verhältnismäßiger Weise verfolgt."
Der Asylgerichtshof hat im Anschluss auch tatsächlich eine solche Prüfung anhand verschiedener (in § 10 Abs 2 Z 2 AsylG 2005 vorgegebener) Kriterien vorgenommen (unter anderem:
Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes, Grad der Integration, Bindungen zum Herkunftsstaat, strafrechtliche Unbescholtenheit, Verstöße gegen die öffentliche Ordnung).
2.2.3. Die Interessenabwägung fasst der Asylgerichtshof in dem folgenden, wörtlich wiedergegebenen Satz zusammen:
"Letztlich ist festzustellen, dass sich insbesondere aus der Art und bezogen auf das Lebensalter des BF relativ kurzen Dauer des bisherigen Aufenthaltes, welcher nur durch die illegale Einreise geschaffen und durch die schon von Anfang an unbegründete Stellung eines Asylantrages vorübergehend legalisiert werden konnte, der fehlenden Schutzwürdigkeit des Privatlebens, den festgestellten Grad der Integration, der festgestellten nach wie vor noch als gegeben anzunehmenden Bindungen an den Herkunftsstaat, der Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, des Umstandes, dass das Privatleben zu einem Zeitpunkt entstand, als sich der BF3 seines ungewissen Aufenthaltsstatus bewusst war bzw. dieser obwohl er behaupteter maßen über einen großen Freundeskreis verfüge, diesen nicht namhaft machen konnte im Rahmen einer Gesamtschau nicht festgestellt werden kann, dass eine Gegenüberstellung der vom Drittbeschwerdeführer in seinem Herkunftsstaat vorzufindenden Verhältnissen mit jenen in Österreich im Rahmen einer Interessensabwägung zu einem Überwiegen der privaten Interessen des Beschwerdeführers am Verbleib in Österreich gegenüber den öffentlichen Interessen an einem Verlassen des Bundesgebietes führen würde."
Es kann dahingestellt bleiben, ob derartigen Ausführungen in Anbetracht ihrer gravierenden sprachlichen Mangelhaftigkeit und der dadurch bewirkten weitgehenden inhaltlichen Unverständlichkeit überhaupt ein Begründungswert zukommt.
2.2.4. Bei der Interessenabwägung nach Art 8 EMRK ist nämlich jedenfalls das in Österreich bestehende Familienleben des Beschwerdeführers letztlich unberücksichtigt geblieben. Der Asylgerichtshof begnügt sich diesbezüglich mit folgender lapidarer Aussage:
"- das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens
Der BF verfügt über die bereits beschriebenen
familiären Anknüpfungspunkte, wobei festzuhalten ist, dass auch seine Eltern nach Abschluss deren Asylverfahren rechtswidrig im Bundesgebiet aufhältig sind."
Der Asylgerichtshof hat es unterlassen, die
familiären Beziehungen zwischen dem Sohn und seinen Eltern nach den gleichen Maßstäben zu prüfen, wie er das in Bezug auf das Familienleben zwischen den beiden Elternteilen getan hat (s. dazu oben, Pkt. 2.2.1) und wie das nach Art 8 EMRK geboten gewesen wäre.
Am Erfordernis einer solchen Prüfung ändert auch der Umstand nichts, dass der Sohn im Jahr 1981 geboren wurde und daher im Entscheidungszeitpunkt bereits volljährig war. (Das von ihm bei der Asylantragstellung genannte Geburtsjahr 1986 hatte sich als falsche Angabe seinerseits erwiesen.) Das Bestehen eines Familienlebens zwischen dem Sohn und seinen Eltern wurde vom Asylgerichtshof gar nicht in Abrede gestellt, wie die oben wiedergegebenen Zitate belegen.
2.3. Der Asylgerichtshof hat also in Zusammenhang mit dem von ihm als gegeben erachteten Familienleben zwischen dem Beschwerdeführer und seinen Eltern die gebotene Interessenabwägung nach Art 8 EMRK unterlassen. Schon allein deshalb wurde der Beschwerdeführer durch die verfügte Ausweisung in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt.
2. Ergebnis und damit in Zusammenhang stehende Ausführungen
1. Die angefochtene Entscheidung ist aufzuheben,
soweit damit die Beschwerde des Einschreiters an den Asylgerichtshof gegen die mit Bescheid des Bundesasylamtes verfügte Ausweisung abgewiesen wird.
2. Die Kostenentscheidung stützt sich auf §§88 iVm 88a VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 400,-- sowie die Eingabengebühr gemäß § 17a VfGG in der Höhe von € 220,-- enthalten.
3. Eine mündliche Verhandlung war entbehrlich (§19 Abs 4 erster Satz VfGG).
Fundstelle(n):
KAAAE-28431