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VfGH vom 13.12.2016, KI5/2016

VfGH vom 13.12.2016, KI5/2016

Leitsatz

Vorliegen eines verneinenden Kompetenzkonfliktes zwischen einem ordentlichen Gericht und dem Landesverwaltungsgericht Tirol; Feststellung der Zuständigkeit des Verwaltungsgerichtes zur Entscheidung über eine Beschwerde betreffend ein exzessives Handeln durch Beamte der Kriminalpolizei bei einer gerichtlich angeordneten Hausdurchsuchung im Rahmen eines Privatanklageverfahrens; keine Anwendbarkeit der Regelung über den speziellen Rechtsschutz der StPO mangels eines in Privatanklageverfahren stattfindenden Ermittlungsverfahrens

Spruch

I. Das Landesverwaltungsgericht Tirol ist zur Entscheidung über die Beschwerde der ***-************ GmbH und der ***-************* GmbH gegen die Durchsuchung der Räumlichkeiten der Antragstellerinnen durch Beamte des Landeskriminalamts Tirol zuständig.

II. Der entgegenstehende Beschluss des Landesverwaltungsgerichts Tirol vom , LVwG-2015/23/0622-17, und das diesem Beschluss zugrunde liegende Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofs vom , Zlen. Ra 2015/01/0133-6 und Ra 2015/01/0136-7, soweit damit das Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichts Tirol vom , ZLVwG 2015/23/0622 9, wegen Rechtswidrigkeit in Folge Unzuständigkeit aufgehoben wurde, werden aufgehoben.

III. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, den antragstellenden Parteien zuhanden ihres Rechtsvertreters die mit € 2.856,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Antrag und Vorverfahren

1. Gegen mehrere Organe der ***-************ GmbH und der ***-************* GmbH, die nunmehrigen Antragstellerinnen, ergingen mehrere Hausdurchsuchungsbeschlüsse durch das Landesgericht Innsbruck, u.a. am zZ 23 Hv 146/14y auf Antrag der Privatanklägerin im Rahmen eines Privatanklageverfahrens wegen Verletzung von Geschäfts- oder Betriebsgeheimnissen nach § 11 Abs 2 Bundesgesetz gegen den unlauteren Wettbewerb – UWG und wegen Urheberrechtsverletzungen nach § 91 UrheberrechtsgesetzUrhG. Sämtliche angeordneten Hausdurchsuchungen wurden u.a. in Objekten der Antragstellerinnen von Beamten des Landeskriminalamts Tirol am durchgeführt.

2. Gegen die Durchführung der Hausdurchsuchung auf Grund des gerichtlichen Beschlusses vom , Z 23 Hv 146/14y, erhoben die Antragstellerinnen sowohl Beschwerde an das Oberlandesgericht Innsbruck (gemeinsam mit einer Beschwerde gegen den Bewilligungsbeschluss des Landesgerichts Innsbruck) als auch eine Maßnahmenbeschwerde an das Landesverwaltungsgericht Tirol. In diesen Beschwerden machten sie eine Verletzung in Rechten wegen Durchsuchung ihrer Objekte geltend. Begründend führten sie aus, dass die Durchsuchung der Produktionsstätte der Antragstellerin ***-************* in der B-Straße 20 nicht vom gerichtlichen Hausdurchsuchungsbeschluss gedeckt gewesen sei und die Beamten des Landeskriminalamts Tirol der Durchsuchung ohne rechtliche Grundlage Mitarbeiter der Privatanklägerin beigezogen hätten, die private Fotoaufnahmen angefertigt hätten.

3. Das Oberlandesgericht Innsbruck gab der Beschwerde der Antragstellerinnen mit Beschluss vom , Z 6 Bs 46/15p, nicht Folge. Die Bewilligung der Hausdurchsuchung erachtete es für rechtmäßig. Soweit sich die Beschwerde gegen die Durchführung der Hausdurchsuchung durch Beamte des Landeskriminalamts Tirol wendete, verneinte es ein Beschwerderecht der Antragstellerinnen iSd § 106 Abs 1 StPO [idF BGBl I 195/2013]. Dieser Einspruch stünde lediglich im Ermittlungsverfahren zur Verfügung, um die Verletzung in Rechten durch Akte der Kriminalpolizei zu bekämpfen. Mit Einbringen der Privatanklage beginnt das Hauptverfahren, womit ein Einspruch nach § 106 StPO [idF BGBl I 195/2013] dem Betroffenen nicht zur Verfügung stehe.

4. Das Landesverwaltungsgericht Tirol gab der Maßnahmenbeschwerde der Antragstellerinnen zunächst statt und sprach aus, dass sie durch die Hausdurchsuchung in ihren Rechten verletzt worden seien, weil an der Durchsuchung Privatpersonen teilgenommen hätten und Räumlichkeiten durchsucht worden seien, die von der gerichtlichen Bewilligung nicht gedeckt gewesen seien.

4.1. Diese Entscheidung hob der Verwaltungsgerichtshof mit Erkenntnis vom , Ra 2015/01/0133-6 und Ra 2015/01/0136-7, nach Erhebung einer Amtsrevision auf. Begründend führte er aus, dass seit dem Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofs vom , G233/2014 ua. [VfSlg 19.991/2015], für die Abgrenzung der Maßnahmenbeschwerde vom Rechtsschutz nach § 106 Abs 1 StPO entscheidend sei, nach welcher Rechtsgrundlage die Sicherheitsbehörden bzw. deren Exekutivorgane eingeschritten seien und damit strafprozessuale oder sicherheits- bzw. verwaltungspolizeiliche Befugnisse ausgeübt hätten. Im vorliegenden Fall sei es für alle von der Amtshandlung Betroffenen eindeutig erkennbar gewesen, dass es sich um ein Einschreiten der Exekutivorgane im Dienste der Strafjustiz gehandelt habe und somit seitens der Beamten der Kriminalpolizei strafprozessuale Befugnisse ausgeübt worden seien. Damit sei für die Bekämpfung dieser Handlungen der Rechtsschutz des § 106 Abs 1 StPO zur Verfügung gestanden, der als spezieller Rechtsschutz der Maßnahmenbeschwerde gemäß Art 130 Abs 1 Z 2 B VG vorgehe. Das Verwaltungsgericht sei daher zur Entscheidung über die Rechtmäßigkeit dieser Handlungen nicht zuständig. Die Maßnahmenbeschwerde wäre zurückzuweisen gewesen.

4.2. Unter Zugrundelegung dieser Rechtsansicht wies das Landesverwaltungsgericht Tirol mit Beschluss vom , ZLVwG-2015/23/0622-17, die Maßnahmenbeschwerde der Antragstellerinnen wegen Unzuständigkeit zurück.

4.3. Die von den Antragstellerinnen daraufhin erhobene Revision wurde vom Verwaltungsgerichtshof mit Beschluss vom , Ro 2016/01/0009-3, zurückgewiesen.

5. Vor diesem Hintergrund begehren die Antragstellerinnen nunmehr, der Verfassungsgerichtshof möge den entstandenen verneinenden Kompetenzkonflikt zwischen dem Landesverwaltungsgericht Tirol und dem Oberlandesgericht Innsbruck entscheiden. Begründend führen sie im Wesentlichen aus, dass die Zuständigkeit zur Entscheidung über ihr Vorbringen, die Produktionsstätte in der B-Straße 20 der Antragstellerin ***-************* GmbH sei ohne gerichtliche Bewilligung durchsucht worden und die Beamten des Landeskriminalamts Tirol hätten in rechtswidriger Weise Mitarbeiter der Privatanklägerin zur Durchsuchung der Geschäftsräumlichkeiten der Antragstellerinnen beigezogen, im Ergebnis sowohl vom ordentlichen Gericht als auch von der Verwaltungsbehörde [richtig: dem Verwaltungsgericht] in derselben Sache verneint worden sei.

6. Das Landesverwaltungsgericht Tirol legte den bezughabenden Akt vor, das Oberlandesgericht Innsbruck übermittelte den bezughabenden Akt, der sich auf eine Ausfertigung seiner Entscheidung beschränkt.

II. Rechtslage

Die maßgebliche Rechtslage stellt sich wie folgt dar:

Art130 Abs 1 Z 2 B VG:

"Artikel 130. (1) Die Verwaltungsgerichte erkennen über Beschwerden

[…]

2. gegen die Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt wegen Rechtswidrigkeit;

[…]"

§106 StPO idF BGBl I 195/2013:

"Einspruch wegen Rechtsverletzung

§106. (1) Einspruch an das Gericht steht jeder Person zu, die behauptet, im Ermittlungsverfahren durch Kriminalpolizei oder Staatsanwaltschaft in einem subjektiven Recht verletzt zu sein, weil

1. ihr die Ausübung eines Rechtes nach diesem Gesetz verweigert oder

2. eine Ermittlungs- oder Zwangsmaßnahme unter Verletzung von Bestimmungen dieses Gesetzes angeordnet oder durchgeführt wurde.

[…]

(2) Soweit gegen die Bewilligung einer Ermittlungsmaßnahme Beschwerde erhoben wird, ist ein Einspruch gegen deren Anordnung oder Durchführung mit der Beschwerde zu verbinden. In einem solchen Fall entscheidet das Beschwerdegericht auch über den Einspruch.

[…]"

Mit Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofs vom , G233/2014 ua., VfSlg 19.991/2015, kundgemacht in BGBl I 85/2015, wurde die Wortfolge "Kriminalpolizei oder" in § 106 Abs 1 StPO, BGBl 631/1975 idF BGBl I 195/2013, als verfassungswidrig aufgehoben. Der Verfassungsgerichtshof hat in diesem Erkenntnis ausgesprochen, dass die Aufhebung mit Ablauf des in Kraft tritt. Mit Ausnahme des Anlassfalles ist die Bestimmung somit sowohl auf die vor der Aufhebung verwirklichten Tatbestände als auch auf alle bis zum Fristablauf verwirklichten Tatbestände anwendbar (Art140 Abs 7 B VG). In der vorliegenden Rechtssache ist § 106 StPO idF BGBl I 195/2013, also mit der Wortfolge "Kriminalpolizei oder", sohin weiterhin anwendbar.

§71 StPO:

"Privatankläger

§71. (1) Strafbare Handlungen, deren Begehung nur auf Verlangen des Opfers zu verfolgen sind, bezeichnet das Gesetz. Das Hauptverfahren wird in diesen Fällen auf Grund einer Anklage des Privatanklägers oder seines selbstständigen Antrags auf Erlassung vermögensrechtlicher Anordnungen nach § 445 durchgeführt; ein Ermittlungsverfahren findet nicht statt.

(2) bis (4) […]

(5) Der Privatankläger hat grundsätzlich die gleichen Rechte wie die Staatsanwaltschaft. Zwangsmaßnahmen zu beantragen ist er jedoch nur insofern berechtigt, als dies zur Sicherung von Beweisen oder vermögensrechtlichen Anordnungen erforderlich ist. Die Festnahme des Beschuldigten oder die Verhängung oder Fortsetzung der Untersuchungshaft zu beantragen ist er nicht berechtigt.

(6) […]"

III. Erwägungen

1. Gemäß Art 138 Abs 1 Z 2 B VG iVm § 46 Abs 1 Z 2 VfGG besteht ein vom Verfassungsgerichtshof zu entscheidender verneinender Kompetenzkonflikt u.a. dann, wenn ein ordentliches Gericht und ein Verwaltungsgericht seine Zuständigkeit in derselben Sache verneint haben, obwohl eines der beiden Gerichte zuständig gewesen wäre.

2. Zu klären ist demnach, ob das Landesverwaltungsgericht Tirol oder das Oberlandesgericht Innsbruck seine Zuständigkeit in der Sache zu Unrecht verneint hat. Maßgeblich für die Beurteilung dieser Frage ist, ob den Antragstellerinnen gegen die Durchsuchung ihrer Räumlichkeiten durch Beamte des Landeskriminalamts Tirol ein Einspruch nach § 106 Abs 1 StPO [idF BGBl I 195/2013] zur Verfügung steht, der als spezieller Rechtsschutz die Maßnahmenbeschwerde nach Art 130 Abs 1 Z 2 B VG zurücktreten ließe (vgl. zur Subsidiarität der Maßnahmenbeschwerde etwa VfSlg 19.281/2010).

3. Zwar ist, wie der Verfassungsgerichtshof in VfSlg 19.991/2015 und ihm folgend der Verwaltungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom , Ra 2015/01/0133-6 und Ra 2015/01/0136-7, ausgeführt haben, nach § 106 Abs 1 StPO in der Fassung der Novelle BGBl I 195/2013 allein maßgebend, auf Grund welcher Rechtsgrundlage Organe der Sicherheitsbehörden eingeschritten sind. Allerdings betrifft § 106 StPO [idF BGBl I 195/2013] ausschließlich das strafprozessuale Ermittlungsverfahren. In diesem Ermittlungsverfahren blieb nach § 106 Abs 1 StPO [idF BGBl I 195/2013] für eine "Exzessbeurteilung" durch die Verwaltungsgerichte kein Raum mehr (VfSlg 19.991/2015).

4. Das Oberlandesgericht Innsbruck lehnt seine Zuständigkeit zur Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Durchführung der Hausdurchsuchung durch Beamte des Landeskriminalamts Tirol der Sache nach mit dem Argument ab, dass in Privatanklageverfahren kein Ermittlungsverfahren stattfinde, weshalb ein Einspruch nach § 106 StPO nicht zur Verfügung stehe.

Diese Auffassung trifft zu, das Oberlandesgericht Innsbruck hat seine Zuständigkeit zu Recht verneint: Strafverfahren auf Grund einer Privatanklage sind seit ausschließlich als Hauptverfahren zu führen (vgl. dazu ). Demgemäß findet ein Ermittlungsverfahren im Sinne des zweiten Teiles der Strafprozessordnung nicht statt (§71 Abs 1 letzter Halbsatz StPO). Damit scheidet in der hier vorliegenden Konstellation eine Anwendung des § 106 StPO von vornherein aus.

5. Wie das Landesverwaltungsgericht Tirol in seiner ursprünglichen, in der Folge vom Verwaltungsgerichtshof aufgehobenen Entscheidung zu Recht angenommen hat, sind die hier in Rede stehenden behördlichen Akte, soweit sie in Durchführung richterlicher Anordnungen gesetzt worden sind, funktionell der Gerichtsbarkeit zuzurechnen; bei offenkundiger Überschreitung der richterlichen Anordnung liegt hingegen insoweit ein der Verwaltungsbehörde zuzurechnendes Organhandeln ([eindeutiges] Überschreiten eines gerichtlichen Befehls ["Exzess"] vgl. mit Hinweis auf die Vorjudikatur VfSlg 19.281/2010) vor, das nach Art 130 Abs 1 Z 2 B VG als Maßnahmenbeschwerde vor dem zuständigen Verwaltungsgericht in Beschwerde gezogen werden kann.

Da im strafprozessualen Hauptverfahren § 106 StPO [idF BGBl I 195/2013] nicht zur Anwendung kommt und im Hauptverfahren auch keine vergleichbare Bestimmung besteht (auch § 87 Abs 1 StPO eröffnet eine Beschwerdemöglichkeit nur gegen "gerichtliche Beschlüsse" und nicht gegen diese Ermächtigung übersteigendes, exzessives behördliches Handeln), steht gegen "exzessives Handeln" der Kriminalpolizei bei Erhebungen im Hauptverfahren, die in der gerichtlichen Bewilligung behauptetermaßen eindeutig keine Deckung finden, der Rechtsweg zum Verwaltungsgericht nach Art 130 Abs 1 Z 2 B VG offen.

Der Verwaltungsgerichtshof und ihm folgend das Landesverwaltungsgericht Tirol haben also in ihren, mit Spruchpunkt II. dieses Erkenntnisses aufgehobenen Entscheidungen die Zuständigkeit des Landesverwaltungsgerichts Tirol in der Sache zu Unrecht verneint.

6. Das Landesverwaltungsgericht Tirol ist daher zuständig, über die Beschwerde der Antragstellerinnen, soweit sie sich gegen Akte der einschreitenden Polizeiorgane richtet, durch die im Zuge einer gerichtlich angeordneten Hausdurchsuchung die Ermächtigung durch den Gerichtsbeschluss behauptetermaßen eindeutig überschritten wurde, in der Sache zu entscheiden. Es hätte daher über die Beschwerde der Antragstellerinnen eine Sachentscheidung treffen müssen.

IV. Ergebnis

1. Der Verwaltungsgerichtshof und ihm folgend das Landesverwaltungsgericht Tirol haben dadurch, dass sie die Zuständigkeit des Landesverwaltungsgerichts Tirol, über die Beschwerde der Antragstellerinnen betreffend ein "exzessives Handeln" durch Beamte der Kriminalpolizei bei der gerichtlich angeordneten Durchsuchung der Räumlichkeiten der Antragstellerinnen zu entscheiden, verneint haben, zu Unrecht die Zuständigkeit des Landesverwaltungsgerichts Tirol abgelehnt.

2. Es ist daher auszusprechen, dass die Entscheidung darüber in die Zuständigkeit des Landesverwaltungsgerichts Tirol fällt. Die entgegenstehenden Entscheidungen des Verwaltungsgerichtshofs und des Landesverwaltungsgerichts Tirol sind insoweit aufzuheben.

3. Der Kostenausspruch gründet sich auf § 52 VfGG. Im zugesprochenen Betrag ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– und die Eingabengebühr gemäß § 17a VfGG in der Höhe von € 240,– enthalten.

4. Dies konnte gemäß § 19 Abs 4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nicht-öffentlicher Sitzung entschieden werden.

European Case Law Identifier

ECLI:AT:VFGH:2016:KI5.2016