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VfGH vom 29.02.2016, KI4/2015

VfGH vom 29.02.2016, KI4/2015

Leitsatz

Entscheidung eines bejahenden Kompetenzkonfliktes zwischen einem ordentlichen Gericht und dem Landesverwaltungsgericht Tirol betreffend einen Besitzstörungsstreit über ein agrargemeinschaftliches Grundstück; keine Einschränkung der auf Grund einer Sondervorschrift des Tiroler Flurverfassungslandesgesetzes 1996 normierten Zuständigkeit der Agrarbehörde für Streitigkeiten über Eigentum und Besitz an in das Zusammenlegungsverfahren einbezogenen Grundstücken

Spruch

I. Zur Entscheidung über den Besitzstörungsstreit zwischen ** **** ***** und der *** ****** ******** **** * ** ** ist das Landesverwaltungsgericht Tirol zuständig.

II. Der entgegenstehende Beschluss des Landesgerichtes Innsbruck vom , 2 R 151/15t, wird aufgehoben.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Anzeige, Vorverfahren

1. Mit einer auf § 43 VfGG gestützten Anzeige teilt das Landesverwaltungsgericht Tirol dem Verfassungsgerichtshof einen bejahenden Kompetenzkonflikt zwischen dem Landesverwaltungsgericht Tirol und dem Bezirksgericht Reutte mit. Dieser Anzeige liegt folgender Sachverhalt zugrunde:

1.1. Mit im Wesentlichen gleichlautenden Eingaben beantragte der Einschreiter bei der Tiroler Landesregierung als Agrarbehörde und beim Bezirksgericht Reutte festzustellen, "dass die Antragsgegnerin [bzw. beklagte Partei] den ruhigen Besitz des Antragstellers [bzw. der klagenden Partei] an dem Recht des Gehens und Fahrens ob Gst.Nr 4 in EZ 361 des Grundbuches 86026 Nesselwängle, das entlang der Süd[ost]grenze dieses Grundstückes ob einer Trasse in der Breite von 3 Metern ausgeübt wird, durch Aufstellung eines Bauzaunes, der diese Trasse blockiert, gestört hat[, …] den ruhigen Besitz des Antragstellers [Klägers] an diesem Recht durch Entfernung des auf der Dienstbarkeitstrasse errichteten Bauzaunes wiederherzustellen [und …] künftighin Eingriffe in den ruhigen Besitz des Antragstellers an dem [bezeichneten …] Recht des Gehens und Fahrens ob Gst.Nr 4 in EZ 361 des Grundbuches Nesselwängle zu unterlassen [habe]". Zur Begründung führte der Antragsteller bzw. Kläger aus, er sei Eigentümer des Grundstückes Nr 7 in EZ 581 des Grundbuches 86026 Nesselwängle, die Antragsgegnerin bzw. Beklagte sei Eigentümerin der Liegenschaft in EZ 361 (bestehend aus den Grundstücken Nr 4, 5 und 6) desselben Grundbuches. Den Eigentümern des Grundstückes Nr 7 stehe das Recht des Gehens und Fahrens ob des Grundstückes Nr 4 entlang der südöstlichen Grenze des Grundstückes Nr 4 bis zum Haldensee zu. Es existiere eine idente Dienstbarkeit des Gehens und Fahrens für das Grundstück Nr 5 in EZ 580, die auch im Grundbuch einverleibt sei. Die Dienstbarkeit werde auf einer Trasse von 3 m Breite ausgeübt und als Zu- und Abgang zum Haldensee und auch als Transportweg für ein Boot verwendet. Dieses Dienstbarkeitsrecht sei vom Antragsteller bzw. Kläger im Rahmen der Anhörung im anhängigen Zusammenlegungsverfahren angesprochen worden. Er habe darauf bestanden, dass dieses Dienstbarkeitsrecht aufrecht bleibe, zumal es ein unverzichtbares Recht zum Zugang zum See darstelle.

Der Antragsteller bzw. Kläger habe am festgestellt, dass von einem von der Antragsgegnerin bzw. Beklagten beauftragten Bauunternehmen der Zugang zum See, der sich aus der umschriebenen Dienstbarkeit ergebe, durch einen Bauzaun komplett blockiert sei. Dieser aus Stahlrohren und Gittern zusammengesetzte Zaun sei exakt in dem Bereich aufgestellt worden, wo die Trasse (vom Grundstück Nr 7 ausgehend) beginne. Diese Vorgehensweise sei unzulässig und stelle eine Besitzstörung iSd § 339 ABGB dar. Der Antragsteller bzw. Kläger sei bis zum im ruhigen Besitz des beschriebenen Dienstbarkeitsrechtes gewesen. Die eigenmächtige Störung durch die Antragsgegnerin bzw. Beklagte sei in jedem Fall unzulässig. Im Übrigen bestehe auch nach den Bestimmungen des ABGB zu den Dienstbarkeiten ein Anspruch des Antragstellers bzw. Klägers, dass Eingriffe in dieses Recht unterbleiben.

In der Eingabe an die Tiroler Landesregierung führte der Einschreiter aus, deren Zuständigkeit ergebe sich auf Grund des anhängigen Zusammenlegungsverfahrens. Gemäß § 72 Tiroler Flurverfassungslandesgesetz 1996 (in der Folge: TFLG 1996) erstrecke sich die Zuständigkeit der Agrarbehörde von der Einleitung bis zum Abschluss eines Zusammenlegungsverfahrens auf die Verhandlung und Entscheidung über alle tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse, die zum Zweck der Durchführung der Zusammenlegung, Flurbereinigung, Teilung, Regulierung oder Auseinandersetzung in das Verfahren einbezogen werden müssen. Insbesondere erstrecke sich die Zuständigkeit der Agrarbehörde auf Streitigkeiten über Eigentum und Besitz an den in das Verfahren einbezogenen Grundstücken, weshalb die angerufene Behörde zur Behandlung dieser Besitzstörungsklage zuständig sei.

Zur Zuständigkeit des Bezirksgerichtes Reutte führte der Einschreiter in seiner Eingabe an dieses aus, die Grundstücke Nr 4 (in EZ 361) und 7 (in EZ 581) seien vom Zusammenlegungsverfahren Nesselwängle erfasst. Dennoch sei die Zuständigkeit der Agrarbehörde gemäß § 72 TFLG 1996 nicht gegeben, weil mit der Liegenschaft in EZ 361 die Mitgliedschaft an der Agrargemeinschaft Nesselwängle verbunden sei. Gemäß Abs 7 des § 72 leg.cit. seien von der Zuständigkeit der Agrarbehörde Streitigkeiten ausgeschlossen, die über Eigentum und Besitz an Liegenschaften geführt würden, mit denen ein Anteil an den agrargemeinschaftlichen Grundstücken verbunden sei.

1.2. Die Tiroler Landesregierung als Agrarbehörde wies den Antrag mit Bescheid vom als unbegründet ab. Zu ihrer Zuständigkeit führte sie – nach der Wiedergabe der Absätze 4, 5 und 6 des § 72 TFLG 1996 – aus, dass nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes und des Obersten Gerichtshofes in derartigen Fällen Verfahren über Besitzstörungsklagen jeweils von der Agrarbehörde abzuhandeln seien. So vertrete der Verfassungsgerichtshof (, KI 5/12 [dieser Fall habe ebenfalls einen Antrag des Einschreiters im Zusammenlegungsverfahren Nesselwängle betroffen]) die Ansicht, dass die Zuständigkeit der Agrarbehörde für Streitigkeiten über Eigentum und Besitz in Bezug auf in das Zusammenlegungsverfahren einbezogene Grundstücke umfassend sei und durch die sich aus § 72 Abs 4 leg.cit. scheinbar ergebenden Ausnahmen (zB ob der entstandene Streit in einem tatsächlichen Zusammenhang mit der Zusammenlegung stehe) nicht eingeschränkt werde. Da die in diesem Verfahren betroffenen Grundstücke im Zusammenlegungsgebiet des Zusammenlegungsverfahrens Nesselwängle liegen würden, es sich dabei um unterzogene bzw. in Anspruch genommene Grundstücke handle und dieses Zusammenlegungsverfahren noch aufrecht sei, seien somit alle Voraussetzungen für die örtliche und sachliche Zuständigkeit der Agrarbehörde zur Entscheidung über den vorliegenden Antrag erfüllt.

1.3. In seiner dagegen erhobenen Beschwerde an das Landesverwaltungsgericht Tirol führte der Antragsteller u.a. zur Nichtigkeit des Verfahrens iSd § 477 Abs 1 Z 6 ZPO aus, die Erstbehörde habe ihre sachliche Zuständigkeit damit begründet, dass sich gemäß § 72 Abs 5 lita TFLG 1996 die Zuständigkeit der Agrarbehörde insbesondere auf Streitigkeiten über Eigentum und Besitz an den in das Zusammenlegungsverfahren einbezogenen Grundstücken erstrecke. Die Erstbehörde habe aber übersehen, dass das Grundstück Nr 4 der Antragsgegnerin die Mitgliedschaft an der Agrargemeinschaft Nesselwängle besitze. Gemäß § 72 Abs 7 litb leg.cit. seien jedoch Streitigkeiten von der Zuständigkeit der Agrarbehörde ausgeschlossen, die über Eigentum und Besitz an Liegenschaften geführt würden, mit denen ein Anteil an den agrargemeinschaftlichen Grundstücken verbunden sei. Damit sei jedoch die Zuständigkeit der ordentlichen Gerichtsbarkeit (Bezirksgericht Reutte) zur Behandlung dieses Rechtsstreites gegeben. Die von der Erstbehörde angeführte Generalkompetenz des § 72 Abs 4 bis 6 TFLG 1996 sei damit durchbrochen. Dadurch sei der Nichtigkeitsgrund des § 477 Abs 1 Z 6 ZPO (Unzulässigkeit des Rechtsweges) verwirklicht, weshalb das Verfahren und der bekämpfte Bescheid nichtig seien.

1.4. In ihrer Stellungnahme bestreitet die Antragsgegnerin, dass es sich beim vorliegenden Verfahren um einen Streit über Eigentum und Besitz an Liegenschaften handle. Das österreichische Sachenrecht kenne nur eine begrenzte Zahl (Typen) von dinglichen Rechten (vgl. § 308 ABGB). Bei richtiger Auslegung könne das Wort "Besitz" in § 72 Abs 7 litb TFLG 1996 nur als dingliches Recht "Sach" Besitz verstanden werden, das klar vom dinglichen Recht "Dienstbarkeit" abgegrenzt sei. Die Störung der Ausübung eines Rechtes, das gerade nicht dieser Sachbesitz oder das Eigentum sei, auch wenn unter dem Terminus "Besitzstörung" bekannt, könne gerade nicht darunter fallen. Eine Auslegung, wie vom Antragsteller unterstellt, würde zum absurden und vom Gesetzgeber sicher nicht beabsichtigten Ergebnis führen, dass ein Verfahren auf Feststellung des Bestehens einer Dienstbarkeit, eines Baurechtes oder eines sonstigen Rechtsverhältnisses iSd § 72 Abs 4 TFLG 1996 wegen der Generalkompetenz der Agrarbehörde von dieser zu behandeln wäre, während eine behauptete Störung eines dieser Rechte unter Anwendung des Ausnahmetatbestandes des § 72 Abs 7 litb leg.cit. davon ausgenommen wäre. Dieses Ergebnis widerspreche einer teleologischen Auslegung, sodass auch die wörtliche Interpretation dieser Norm nur im dargelegten Sinn richtig sein könne. Die Erstbehörde sei demnach zu Recht von einer Kompetenz zur Sachentscheidung ausgegangen.

1.5. Mit Schriftsatz vom stellte der Einschreiter beim Landesverwaltungsgericht Tirol den Antrag, dieses wolle in Anbetracht des vorliegenden positiven Kompetenzkonfliktes gemäß § 48 iVm § 43 Abs 1 VfGG an den Verfassungsgerichtshof den Antrag auf Entscheidung des Kompetenzkonfliktes stellen.

1.6. Das Bezirksgericht Reutte wies mit Beschluss vom die Klage mit der Begründung zurück, dass das Verfahren eine in ein Zusammenlegungsverfahren einbezogene Liegenschaft betreffe, sodass gemäß § 72 Abs 5 TFLG 1996 das Gericht nicht zuständig sei.

1.7. In seinem dagegen erhobenen Rekurs führte der Einschreiter aus, diese Begründung sei unrichtig. Es sei bereits in der Klage dargestellt worden, dass in den beiden betroffenen Einlagezahlen 581 und 361 die Einleitung des Zusammenlegungsverfahrens angemerkt worden sei. Das Grundstück Nr 4, auf das sich das von der klagenden Partei behauptete Recht beziehe, sei jedoch in EZ 361 vorgetragen; mit dieser Liegenschaft sei die Mitgliedschaft an der Agrargemeinschaft Nesselwängle verbunden. Gemäß § 72 Abs 7 TFLG 1996 seien jedoch Streitigkeiten von der Zuständigkeit der Agrarbehörde ausgeschlossen, die über Eigentum und Besitz an Liegenschaften geführt würden, mit denen ein Anteil an den agrargemeinschaftlichen Grundstücken verbunden sei. Damit sei aber die Zuständigkeit des Bezirksgerichtes Reutte zur Behandlung dieses Rechtsstreites sehr wohl gegeben.

1.8. Mit Beschluss vom gab das Landesgericht Innsbruck diesem Rekurs Folge, änderte den Beschluss über die Zurückweisung der Besitzstörungsklage in der Weise ab, dass er ersatzlos aufgehoben werde, und trug dem Erstgericht die Fortsetzung des Verfahrens unter Abstandnahme vom gebrauchten Zurückweisungsgrund auf. Neben der Wiedergabe des Sachverhaltes und des Inhaltes der Bestimmungen des § 72 Abs 4, 5 lita und 7 litb TFLG 1996 führte das Landesgericht Innsbruck aus, dass die Rechtsprechung Streitigkeiten, in welchen auf Basis einer behaupteten Dienstbarkeit des Gehrechtes über ein in das Zusammenlegungsverfahren einbezogenes Grundstück Unterlassung der künftigen Störung begehrt werde, unter die Bestimmung des § 72 Abs 5 lita leg.cit. subsumiere. Allerdings sei durch die Verbindung der EZ 361 der beklagten Partei mit der Mitgliedschaft an der Agrargemeinschaft Nesselwängle ein Sachverhalt gegeben, der gemäß § 72 Abs 7 litb leg.cit. die Zuständigkeit der Agrarbehörde ausschließe. Damit sei das Bezirksgericht Reutte zur Entscheidung im Besitzstörungsstreit zu berufen.

1.9. In einer Eingabe an das Bezirksgericht Reutte wies die beklagte Partei darauf hin, dass die klagende Partei mit einem undatierten Schriftsatz bei der Tiroler Landesregierung ein mit dem Klagebegehren in diesem Verfahren identes Begehren eingebracht habe. Die zuständige Abteilung für Bodenordnung des Amtes der Tiroler Landesregierung habe nach durchgeführtem Verfahren mit Bescheid vom das Besitzstörungsbegehren abgewiesen. Mit Schriftsatz vom habe die klagende Partei gegen diese Entscheidung Beschwerde an das Landesverwaltungsgericht Tirol erhoben. Nachdem das Landesverwaltungsgericht Tirol in dieser Sache eine mündliche Verhandlung anberaumt und in der Begründung zur Ladung ausgeführt habe, dass zur Behandlung der Beschwerde die Durchführung einer mündlichen Verhandlung erforderlich sei, zeige sich klar, dass das Landesverwaltungsgericht nicht von einer Unzulässigkeit des Rechtsweges, sondern von einer Kompetenz zur Sachentscheidung ausgehe. Durch die Rekursentscheidung des Landesgerichtes Innsbruck vom , worin dieses das Bezirksgericht Reutte zur Sachentscheidung für zuständig erachtet habe, liege nunmehr ein positiver Kompetenzkonflikt gemäß Art 138 Abs 1 Z 2 B VG vor.

Die Rekursentscheidung des Landesgerichtes Innsbruck beruhe allerdings auf einer unrichtigen rechtlichen Beurteilung. Es begründe seine Entscheidung nämlich damit, dass hier eine Streitigkeit über Eigentum und Besitz an Liegenschaften vorliege, mit denen ein Anteil an agrargemeinschaftlichen Grundstücken verbunden sei, und deshalb die Zuständigkeit der Agrarbehörde gemäß § 72 Abs 7 litb TFLG 1996 ausgeschlossen sei. Die Ausführungen des Obersten Gerichtshofes in der in der Entscheidung des Landesgerichtes Innsbruck zitierten Entscheidung 4 Ob 158/02t würden genau den Rechtsstandpunkt der beklagten Partei in deren Stellungnahme im Verfahren vor dem Landesverwaltungsgericht Tirol vom stützen. Da das Bezirksgericht Reutte sich nicht über den rechtlich unrichtigen Beschluss des Landesgerichtes Innsbruck hinwegsetzen könne, liege ein positiver Kompetenzkonflikt vor, der nur vom Verfassungsgerichtshof gelöst werden könne. Es ergehe daher gemäß § 48 VfGG der Antrag, das Bezirksgericht Reutte möge auf Grund des vorliegenden bejahenden Kompetenzkonfliktes gemäß § 43 Abs 1 leg.cit. an den Verfassungsgerichtshof den Antrag auf Entscheidung des Kompetenzkonfliktes stellen.

1.10. Nach der Übermittlung der auf § 43 VfGG gestützten Anzeige des Landesverwaltungsgerichtes Tirol beraumte das Bezirksgericht Reutte den für angesetzten Termin ab und beschloss, das Verfahren gemäß § 43 Abs 5 VfGG zu unterbrechen.

2. Das Landesverwaltungsgericht Tirol und das Bezirksgericht Reutte übermittelten die Bezug habenden Verwaltungs- und Gerichtsakten, sahen jedoch von der Erstattung einer Äußerung ab.

3. Der Beschwerdeführer bzw. Kläger des Verfahrens vor dem Landesverwaltungsgericht Tirol bzw. dem Bezirksgericht Reutte erstattete eine Äußerung, in der er die Meinung vertritt, dass die Zuständigkeit der Agrarbehörde gemäß § 72 Abs 7 litb TFLG 1996 nicht gegeben und das Bezirksgericht Reutte für den vorliegenden Rechtsstreit die zuständige Behörde sei.

II. Rechtslage

§72 TFLG 1996, LGBl 74 idF LGBl 70/2014, lautet:

"§72

Zuständigkeit der Agrarbehörde im Zuge eines Verfahrens

(1) Die Verordnungen über die Einleitung und den Abschluß und über die Einstellung eines Zusammenlegungsverfahrens und über die Begründung bzw. Auflösung einer Zusammenlegungsgemeinschaft sind im 'Boten für Tirol' kundzumachen.

(2) Der Eintritt der Rechtskraft der Entscheidungen über die Einleitung und über den Abschluss von Flurbereinigungs-, Regulierungs- oder Teilungsverfahren sowie von Auseinandersetzungsverfahren ist an der Amtstafel der Agrarbehörde und durch Anschlag an der Amtstafel jener Gemeinden, in denen die Grundstücke liegen, auf die sich das Verfahren bezieht, bei Grundstücken im Sinn des § 33 Abs 2 litc Z 2 jedenfalls auch durch Anschlag an der Amtstafel der substanzberechtigten Gemeinde, durch zwei Wochen öffentlich bekanntzumachen.

(3) Die Einleitung und der Abschluß eines Verfahrens sind den zuständigen Grundbuchsgerichten, Bezirksverwaltungsbehörden, Vermessungsbehörden, Gemeinden, der Landwirtschaftskammer und dem Obmann der Bezirkslandwirtschaftskammer mitzuteilen.

(4) Die Zuständigkeit der Agrarbehörde erstreckt sich von der Einleitung bis zum Abschluss eines Zusammenlegungs-, Flurbereinigungs-, Teilungs-, Auseinandersetzungs- oder Regulierungsverfahrens, sofern sich aus dem Abs 7 nichts anderes ergibt, auf die Verhandlung und Entscheidung über alle tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse, die zum Zweck der Durchführung der Zusammenlegung, Flurbereinigung, Teilung, Regulierung oder Auseinandersetzung in das Verfahren einbezogen werden müssen. Während dieses Zeitraumes ist in diesen Angelegenheiten die Zuständigkeit der Behörden ausgeschlossen, in deren Wirkungskreis die Angelegenheiten sonst gehören.

(5) Diese Zuständigkeit der Agrarbehörde erstreckt sich insbesondere auf:

a) Streitigkeiten über Eigentum und Besitz an den in das Verfahren einbezogenen Grundstücken;

b) Streitigkeiten über den Grenzverlauf der in lita angeführten Grundstücke einschließlich der Streitigkeiten über den Grenzverlauf zwischen einbezogenen und nicht einbezogenen Grundstücken;

c) Streitigkeiten über Gegenleistungen für die Benutzung von in das Verfahren einbezogenen Grundstücken.

(6) Soweit nichts anderes bestimmt ist, sind von der Agrarbehörde die Normen, die sonst für diese Angelegenheiten gelten (z. B. die Vorschriften des bürgerlichen Rechtes, des Wasser- und Forstrechtes), anzuwenden.

(7) Von der Zuständigkeit der Agrarbehörde sind ausgeschlossen:

a) Streitigkeiten der im Abs 5 erwähnten Art, die vor Einleitung des Agrarverfahrens bereits vor dem ordentlichen Richter anhängig waren;

b) Streitigkeiten über Eigentum und Besitz an Liegenschaften, mit denen ein Anteil an den agrargemeinschaftlichen Grundstücken, ein Benutzungs- und Verwaltungsrecht oder ein Anspruch auf Gegenleistungen bezüglich solcher Grundstücke verbunden ist;

c) die Angelegenheiten der Eisenbahnen, der Bundesstraßen, der Landesstraßen, der Schiffahrt, der Luftfahrt, des Bergbaues, der Jagd und der Fischerei."

III. Erwägungen

1. Zur Zulässigkeit des Verfahrens

1.1. Gemäß Art 138 Abs 1 Z 2 B VG erkennt der Verfassungsgerichtshof u.a. über Kompetenzkonflikte zwischen ordentlichen Gerichten und Verwaltungsgerichten.

1.2. Das Landesgericht Innsbruck hat dem den auf § 72 Abs 5 lita TFLG 1996 gestützten, die Besitzstörungsklage mangels gerichtlicher Zuständigkeit zurückweisenden Beschluss des Bezirksgerichtes Reutte bekämpfenden Rekurs Folge gegeben und dem Erstgericht die Fortsetzung des Verfahrens unter Abstandnahme vom gebrauchten Zurückweisungsgrund aufgetragen, weil es auf Grund des § 72 Abs 7 litb leg.cit. zur Entscheidung im Besitzstörungsstreit berufen sei. Das Bezirksgericht Reutte hat daraufhin eine Verhandlung anberaumt und damit seine Zuständigkeit in Anspruch genommen (vgl. VfSlg 16.631/2002).

1.3. Die Tiroler Landesregierung als Agrarbehörde hat sich – gestützt auf § 72 Abs 4, 5 und 6 TFLG 1996 – für den vorliegenden Besitzstörungsantrag für zuständig erachtet. Auch das mit Beschwerde angerufene Landesverwaltungsgericht Tirol hält sich für zuständig und hat in einer öffentlichen mündlichen Verhandlung die Sache inhaltlich erörtert, wodurch es seine Zuständigkeit in Anspruch genommen hat (vgl. VfSlg 16.631/2002).

1.4. Unter Bedachtnahme auf die Identität des Entscheidungsgegenstandes sowohl des gerichtlichen als auch des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens und darauf, dass noch keines der beiden Gerichte einen rechtskräftigen Spruch in der Hauptsache gefällt hat, liegt ein bejahender Kompetenzkonflikt iSd Art 138 Abs 1 Z 2 B VG und des § 43 VfGG vor, der vom Verfassungsgerichtshof zu entscheiden ist.

1.5. Das Kompetenzkonfliktsverfahren ist daher zulässig.

2. In der Sache

2.1. Der Verfassungsgerichtshof hat in ständiger Rechtsprechung – in Übereinstimmung mit der Judikatur des Obersten Gerichtshofes (vgl. [zu § 98 K-FLG]; , 8 Ob 41/09a; , 7 Ob 47/04v [zu § 50 Stmk. ZusammenlegungsG]; , 4 Ob 158/02t [zu § 97 NÖ FLG 1975]; , 4 Ob 11/01y [zu § 102 OÖ FLG 1979]; , 6 Ob 140/99b; , 6 Ob 190/98d [zu § 102 OÖ FLG 1979]; , 7 Ob 558/92 [zu § 102 OÖ FLG 1979]; SZ59/212 [zu § 72 TFLG 1978], 49/128 [zu § 71 TFLG 1969]; vgl. auch OLG Graz EvBl 1990/130 [zu § 50 Stmk. ZusammenlegungsG]; OLG Innsbruck EvBl 1985/162) und jener des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. [zu § 102 OÖ FLG 1979]) – den Standpunkt eingenommen, dass die in § 72 Abs 5 lita TFLG 1996 normierte Zuständigkeit der Agrarbehörde für Streitigkeiten über Eigentum und Besitz in Bezug auf in das Zusammenlegungsverfahren einbezogene Grundstücke umfassend ist und durch die sich aus § 72 Abs 4 leg.cit. scheinbar ergebenden Ausnahmen (zB ob der entstandene Streit in einem tatsächlichen Zusammenhang mit der Zusammenlegung steht) nicht eingeschränkt wird (vgl. KI-5/12; VfSlg 17.785/2006, 15.604/1999, 15.352/1998, 7984/1977 [zu § 71 TFLG 1969], 7800/1976 [zu § 71 TFLG 1969], 5747/1968 [zu § 89 TFLG 1952], 5733/1968 [zu § 89 Bgld. FLG 1950] und 3798/1960 [zu § 88 NÖ FLG 1934]). Es handelt sich um eine Sondervorschrift, die über die Bestimmungen des vorangegangenen Absatzes nach der Absicht des Gesetzgebers hinausgeht. Wären die Beschränkungen des vorangegangenen Absatzes auch für Streitigkeiten über Eigentum und Besitz maßgebend, so würde – entgegen dem Motivenbericht – der neue Absatz im Wesentlichen keine Erweiterung der Zuständigkeit, sondern nur eine demonstrative Anführung von Beispielen bedeuten. Die Absicht des Gesetzgebers auf Vereinfachung und Beschleunigung des Verfahrens müsste zunichte gemacht werden, wenn in jedem Fall einer § 34 Abs 4 Flurverfassungs-Grundsatzgesetz 1951, BGBl 103 idF BGBl I 189/2013, entsprechenden landesgesetzlichen Vorschrift erst zu prüfen wäre, ob der entstandene Streit in einem tatsächlichen und rechtlichen Zusammenhang mit der (zB) Zusammenlegung steht, weil die Zuständigkeit je nach dem Ergebnis der keineswegs immer leichten Unterscheidung verschieden wäre. Der Vorteil einer Konzentration der Zuständigkeit ginge aber verloren, wenn infolge Teilung der Zuständigkeit neue Möglichkeiten eines bisher nicht bestandenen Zuständigkeitsstreites geschaffen würden. Dazu kommt noch, dass dann die Gerichte kaum in der Lage wären, verlässlich zu beurteilen, ob die Lösung eines bestimmten einzelnen Rechtsstreites eine Voraussetzung für die Durchführung der Zusammenlegung bildet und demnach der Agrarbehörde überlassen werden muss oder nicht (vgl. VfSlg 15.352/1998, 5747/1968 und 3798/1960).

2.2. Unter Zugrundelegung des Verständnisses von § 72 Abs 5 lita TFLG 1996 als ein eigenständiger Zuständigkeitstatbestand folgt im vorliegenden Fall, dass diese Zuständigkeit der Agrarbehörde für Streitigkeiten über Eigentum und Besitz in keiner Weise eingeschränkt wird, sofern die Grundstücke nur überhaupt in ein Zusammenlegungsverfahren einbezogen sind (vgl. VfSlg 5747/1968); für die Anwendung von § 72 Abs 7 litb leg.cit. bleibt diesfalls kein Raum.

2.3. Da es sich im vorliegenden Fall um eine Streitigkeit über Besitz an in ein Zusammenlegungsverfahren einbezogenen Grundstücken handelt, ist gemäß § 72 Abs 5 lita TFLG 1996 das Landesverwaltungsgericht Tirol für die Entscheidung über die Beschwerde gegen den Bescheid der Tiroler Landesregierung als Agrarbehörde zuständig. Ob die Voraussetzungen des § 72 Abs 4 leg.cit. – und damit auch jene für die Ausnahme von der agrarbehördlichen Zuständigkeit nach § 72 Abs 7 litb leg.cit. – gegeben sind, ist nicht zu prüfen (vgl. VfSlg 5747/1968).

IV. Ergebnis

1. Zur Entscheidung über den Besitzstörungsstreit zwischen ** **** ***** und der *** ****** ******** **** * ** ** ist daher das Landesverwaltungsgericht Tirol zuständig. Der entgegenstehende Beschluss des Landesgerichtes Innsbruck vom , 2 R 151/15t, ist sohin aufzuheben.

2. Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

European Case Law Identifier

ECLI:AT:VFGH:2016:KI4.2015