VfGH vom 27.02.2014, G98/2013
19846
Leitsatz
Gleichheitswidrigkeit einer Bestimmung des Vorarlberger Baugesetzes 2001 betreffend eine Beschränkung der Einwendungsmöglichkeiten des Nachbarn im Bauverfahren auf vom Baugrundstück ausgehende Immissionen im Hinblick auf das Problem der heranrückenden Wohnbebauung
Spruch
I. In § 26 Abs 1 litc des Vorarlberger Baugesetzes vom , LGBl Nr 52, in der Fassung LGBl Nr 32/2009, wird die Wortfolge ", soweit mit Immissionen auf seinem Grundstück zu rechnen ist" als verfassungswidrig aufgehoben.
II. Frühere gesetzliche Bestimmungen treten nicht wieder in Kraft.
III. Der Landeshauptmann von Vorarlberg ist zur unverzüglichen Kundmachung dieser Aussprüche im Landesgesetzblatt für Vorarlberg verpflichtet.
Begründung
Entscheidungsgründe
I. Anlassverfahren, Prüfungsbeschluss und Vorverfahren
1. Beim Verfassungsgerichtshof ist zur Zahl B990/2011 eine auf Art 144 B VG gestützte Beschwerde anhängig, der folgender Sachverhalt zugrunde liegt:
1.1. Die beschwerdeführende Gesellschaft betreibt auf dem GSt. Nr 4058, KG Egg, seit Jahrzehnten ein Sägewerk samt Holzlagerplatz. Mit Eingabe vom beantragte die erstbeteiligte Partei als Bauwerberin beim Bürgermeister der zweitbeteiligten Gemeinde die baurechtliche Bewilligung zur Errichtung eines Zweifamilien-Wohnhauses auf GSt. Nr 3769/4, KG Egg. Dieses Grundstück liegt südlich des Betriebsareals der beschwerdeführenden Gesellschaft, die – insoweit unstrittig – Nachbarin iSd § 2 Abs 1 litk Vbg. Baugesetz (BauG), idF LGBl 29/2011 ist.
1.2. Im Vorfeld der mündlichen Bauverhandlung vor Ort () wurden von der beschwerdeführenden Gesellschaft schriftlich "Einwendungen" gegen das Bauvorhaben vorgebracht. Dabei wurde die dem Bauverfahren vorangegangene Umwidmung des Baugrundstücks – von "Freifläche - Freihaltegebiet" gemäß § 18 Abs 5 Vbg. Raumplanungsgesetz (RPG), LGBl 39/1996 (Novellierungen dieses Gesetzes sind für die hier relevanten Bestimmungen ohne Bedeutung), in "Baufläche - Mischgebiet" gemäß § 14 Abs 4 leg. cit. – als gesetzwidrig gerügt. Des Weiteren wurde vorgebracht, dass die Bewohner des Baugrundstücks auf Grund der starken, vom bestehenden Betrieb ausgehenden Emissionen (in Form von Lärm und Vibrationen) jedenfalls "das ortsübliche Ausmaß übersteigende Belästigungen und Gefährdungen im Sinne des § 8 BauG" zu erwarten hätten und somit die beschwerdeführende Gesellschaft in weiterer Folge mit "zusätzlichen Auflagen zum Schutz vor diesen Immissionen nach § 79 GewO" rechnen müsse. Dementsprechend sei das beabsichtigte Bauvorhaben im Hinblick auf § 8 BauG unzulässig, wobei die beschwerdeführende Gesellschaft "[a]uf die Geltendmachung dieser Unzulässigkeit […] als Nachbarin im Sinne des § 2 [Abs1] litk BauG einen nachbarrechtlichen Rechtsanspruch (§26 Abs 1 litc BauG)" habe. In diesem Zusammenhang stellte sie auch Beweisanträge auf Einholung verschiedener Sachbefunde und Gutachten.
1.3. Mit Bescheid vom erteilte der Bürgermeister der zweitbeteiligten Gemeinde die Baubewilligung, ohne im Spruch über die Einwendungen der beschwerdeführenden Gesellschaft abzusprechen. In der Begründung führte der Bürgermeister hinsichtlich der Einwendungen der beschwerdeführenden Gesellschaft u.a. aus:
"Zu den Einwendungen der Rechtsvertreter der Anrainerin ********** ******** **** * ** ist einleitend auf die bereits erläuterten Nachbarrechte im Baurechtsverfahren gem. § 26 des Baugesetzes hinzuweisen:
Diese beinhalten […] das Recht auf Einhaltung des Immissionsschutzes gem. § 8
des Baugesetzes.
Letztere Rechtsvorschrift formuliert, dass Bauwerke [...] keinen Verwendungszweck haben dürfen, der eine das ortsübliche Ausmaß übersteigende Belästigung oder eine Gefährdung des Nachbarn erwarten lässt. Ob eine Belästigung das ortsübliche Ausmaß übersteigt, ist unter Berücksichtigung der Flächenwidmung am Standort des Bauvorhabens zu beurteilen.
[…]
Das Recht auf Immissionsschutz des Nachbarn unter den genannten Rahmenbedingungen (Ortsüblichkeit, Bezugnahme auf Flächenwidmung) bezieht sich ausdrücklich auf den Gegenstand des Bauverfahrens und von diesem allenfalls ausgehende Immissionen.
Auf Grundlage der Rechtsvorschrift des § 8 des Baugesetzes kann daher kein Rechtsanspruch des Nachbarn auf Schutz des Antragstellers gegen von der Nachbarin bzw. ihren Bauwerken, Betriebszwecken usw. ausgehenden Immissionen abgeleitet werden.
Die darauf abzielenden Einwendungen der Rechtsvertreter der Anrainerin ********** ******** **** * ** sind vor diesem Hintergrund gem. § 26 Abs 2 des Baugesetzes als unzulässig zurückzuweisen.
Gleiches gilt für die behauptete Auffassung bzw. Befürchtung, dass eine das ortsübliche Ausmaß übersteigende Belästigung und Gefährdung der künftigen Bewohner des Antragsgegenstandes im Sinne des § 8 des Baugesetzes und damit deren Verlangen nach zusätzlichen Auflagen zum Schutz vor Immissionen nach § 79 der Gewerbeordnung zu erwarten sei. Dieser Einwand ist mit gleicher Begründung als unzulässig abzuweisen, da nicht das Nachbarrecht auf Immissionsschutz im Sinne des § 8 des Baugesetzes auf dem Grundstück des Nachbarn gemeint ist.
[…]
Die Feststellung, dass es aus Sicht der Nachbarin bzw. deren Rechtsvertreterin technisch und praktisch nicht möglich sei, das Baugrundstück bzw. dessen Bewohner durch Schutzmaßnahmen vor den Emissionen des bestehenden Betriebes zu schützen, ist It. amtssachverständiger Beurteilung auf Basis zweier gutachterlichen Stellungnahmen nicht haltbar. […]
Es ist hier wiederum anzumerken, dass die Erfüllung dieser Vorgabe nach Maßgabe baurechtlicher Bestimmungen durch die Baubehörde zu beurteilen ist und kein Nachbarrecht tangiert.
[…]
Eine abschließend beantragte Verifizierung zu erwartender zusätzlicher Auflagen für den bislang konsentierten Betrieb der Nachbarin nach § 79 GewO sowie raumplanerischer Zuwidersprechung ist einerseits nach Maßgabe des § 28 Abs 2 des Baugesetzes nicht Gegenstand des Bauverfahrens und betrifft andererseits kein Nachbarrecht im Sinne des § 26 des Baugesetzes."
1.4. Gegen diesen Bescheid erhob die beschwerdeführende Gesellschaft Berufung an die Gemeindevertretung. Mit Bescheid vom wurde der Berufung "keine Folge gegeben und der erstinstanzliche Bescheid bestätigt". In der Begründung führte die Gemeindevertretung u.a. aus:
"Der mehrfach in der Berufung ausgeführte Umkehrschluss der Berufungswerberin, dass eine von ihrem Betrieb ausgehende, das ortsübliche Ausmaß übersteigende Belästigung und Gefährdung der Bewohner des Grundstückes der Bauwerberin stattfinden könnte, ist auch nach Ansicht der Berufungsbehörde nicht zulässig und deshalb zurück zu weisen.
[…]
Einwendungen hiezu, ergänzt mit der geäußerten Befürchtung, dass für den Betrieb der Berufungswerberin zusätzliche Auflagen zum Schutz vor dessen Immissionen nach § 79 GewO zu erwarten seien, sind daher in Anwendung des § 26 Abs 2 BauG nach Ansicht der Berufungsbehörde klar zurückzuweisen […]."
1.5. Die dagegen erhobene Vorstellung der beschwerdeführenden Gesellschaft wies die belangte Behörde mit dem angefochtenen Bescheid ab. In der Begründung führte die belangte Behörde u.a. aus (Hervorhebungen im Original):
"Zur Frage der Flächenwidmung:
[…] Da die Vorbringen der Vorstellungswerberin hinsichtlich einer möglichen Mangelhaftigkeit der durchgeführten Umwidmung der Baufläche das gemeindebehördliche (Verordnungs-)Verfahren nach § 21 ff Raumplanungsgesetz betreffen, können diese von der Aufsichtsbehörde im Vorstellungsverfahren über einen Baubescheid nicht berücksichtigt werden. Im Übrigen stellen die diesbezüglichen Vorbringen keine in § 26 Baugesetz normierten Nachbarrechte dar. […] Zur Frage der heranrückenden Bebauung:
Der VwGH hat zur herannahenden Wohnbevölkerung dem Betriebsinhaber in einer Reihe von Entscheidungen kein Recht darauf zuerkannt, dass er sich gegen die Errichtung eines Wohnhauses in der Nähe seines Betriebes mit der Begründung wenden könne, dadurch würden sich in Zukunft für den Betrieb Schwierigkeiten usw ergeben (VwGH 82/05/0093; 82/05/0185 ua). An dieser Rechtsprechung, dass ein Betriebsinhaber die Errichtung eines Wohnhauses nicht mit der Einwendung, die künftigen Bewohner werden sich über Belästigungen durch den Betrieb beschweren, erfolgreich sein kann, hat der VwGH in der Folge festgehalten (zB VwGH 92/05/0208).
Nach ständiger Rechtsprechung des VwGH kann ein Nachbar im Baugenehmigungsverfahren zulässigerweise die Widmungswidrigkeit der Errichtung emissionsträchtiger Anlagen in Immissionsschutz gewährenden Widmungskategorien geltend machen ( Hauer, Rechtsfragen der "heranrückenden Wohnbebauung", RdU 1995, 115 f), nicht aber umgekehrt. […]
Problematisch erscheint, dass der Verfassungsgerichtshof (VfGH) ( VfSlg 4348 ua) (mögliche) künftige Vorschreibungen in einem gewerberechtlichen Verfahren als für die Baubehörde rechtlich erheblich ansieht, was dem in der Österreichischen Verfassung zum Ausdruck kommenden Kompetenztrennungsprinzip widerspricht […], während nach anderer Ansicht Rechtsfolgen gewerberechtlicher Art keine von der Baubehörde wahrzunehmende Rechte begründen können […].
[…]
§26 Vorarlberger Baugesetz sieht jedenfalls kein Recht eines Betriebsinhabers bzw. Nachbarn vor, sich gegen möglicherweise drohende (zusätzliche) gewerbebehördliche Auflagen zur Wehr setzen zu können. Die diesbezüglichen Vorbringen der Vorstellungswerberin sind somit nicht erfolgreich."
2. Bei der Behandlung der gegen diesen Bescheid gerichteten Beschwerde sind beim Verfassungsgerichtshof Bedenken ob der Verfassungsmäßigkeit der Wortfolge ", soweit mit Immissionen auf seinem Grundstück zu rechnen ist" in § 26 Abs 1 litc BauG in der im Spruch angeführten Fassung entstanden. Der Verfassungsgerichtshof hat daher am beschlossen, diese Gesetzesbestimmung von Amts wegen auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu prüfen.
3. Der Verfassungsgerichtshof legte seine Bedenken, die ihn zur Einleitung des Gesetzesprüfungsverfahrens bestimmt haben, in seinem Prüfungsbeschluss wie folgt dar:
"3.1. Die beschwerdeführende Gesellschaft hat im erstinstanzlichen Bauverfahren unmissverständlich Einwendungen hinsichtlich "heranrückender Wohnbebauung" vorgebracht. Die belangte Behörde ist, genauso wie die Vorinstanzen, davon ausgegangen, dass die beschwerdeführende Gesellschaft damit keine zulässigen Einwendungen vorgebracht hat. Zwar hat es die belangte Behörde unterlassen, der beschwerdeführenden Gesellschaft die Parteistellung hinsichtlich der baurechtlichen Sachentscheidung ausdrücklich (also im Spruch der Baubewilligung) zur Gänze abzusprechen. Jedoch kann der bekämpfte Bescheid diesbezüglich nicht anders interpretiert werden: Über die Einwendungen der beschwerdeführenden Gesellschaft wurde im Spruch des erstinstanzlichen Bescheids nicht explizit abgesprochen, weswegen diese gemäß § 59 Abs 1 AVG als miterledigt gelten. Wenngleich diese Erledigungsfiktion nichts darüber aussagt, ob die Einwendungen als ab- oder zurückgewiesen gelten, lässt doch die in der Begründung des Bescheids verwendete Wortwahl ("als unzulässig zurückzuweisen") keinen anderen Schluss zu, als dass die Behörde alle Einwendungen zurückweisen wollte. Damit hat die beschwerdeführende Gesellschaft gemäß § 42 AVG ihre (begrenzte) Parteistellung hinsichtlich der Sachentscheidung (der Frage der Zulässigkeit des Bauvorhabens) verloren. Diese zurückweisende Entscheidung hat die Berufungsbehörde und schließlich die belangte Behörde gegenüber der beschwerdeführenden Gesellschaft bestätigt. Prozessgegenstand des Berufungs- und Vorstellungsverfahrens war somit nur mehr die gänzliche Zurückweisung der Einwendungen und damit die Parteistellung der beschwerdeführenden Gesellschaft, nicht aber eine inhaltliche Beurteilung der Einwendungen ( Walter / Kolonovits / Muzak / Stöger , Grundriss des österreichischen Verwaltungsverfahrensrechts 9 , 2011, Rz 538).
3.2. Der Verfassungsgerichtshof hat sich in seinem Erkenntnis VfSlg 10.703/1985 erstmals mit dem Problemkreis der "heranrückenden Wohnbebauung" beschäftigt. Er sah damals die Widmung einer unverbauten Fläche als gemischtes Baugebiet als gesetzwidrig an, weil diese unmittelbar an ein Betriebsbaugebiet angrenzte, auf der sich bereits ein Sägewerk befand, von dem ungewöhnlich hohe Lärmemissionen ausgingen. Dies stand nach Ansicht des Verfassungsgerichtshofes mit dem Erfordernis der möglichsten Vermeidung gegenseitiger Beeinträchtigungen (§16 Abs 2 OÖ ROG 1972) nicht in Einklang.
In seiner weiteren Rechtsprechung zu dieser Frage ist der Verfassungsgerichtshof davon ausgegangen, dass es der Gleichheitssatz gebietet, die Situation der Schaffung einer Emissionsquelle – im Hinblick auf die Unterbindung der von ihr ausgehenden schädlichen Emissionen – mit dem nachträglichen Hinzutreten eines Objekts, auf das sich eine solche Emissionsquelle auswirken kann, gleich zu behandeln. Daraus folgerte der Verfassungsgerichtshof, dass eine in diese Richtung zielende Einwendung auch vom Inhaber eines Industriebetriebes als Nachbar erhoben werden kann, weil er mit Auflagen der Gewerbebehörde (gegebenenfalls mit weiteren Auflagen gemäß § 79 Abs 2 der Gewerbeordnung) zum Schutz der Nachbarschaft gegen Immissionen rechnen muss (vgl. VfSlg 12.468/1990, 13.210/1992, 14.943/1997, 15.188/1998, 15.691/1999, 15.792/2000, 16.250/2001 sowie 16.934/2003). Auch im jüngsten Erkenntnis VfSlg 18.161/2007 war der Verfassungsgerichtshof im Hinblick auf § 37 Abs 3 Tiroler Raumordnungsgesetz 2001, der einen (dem § 16 Abs 2 OÖ ROG 1972 vergleichbaren) Grundsatz, wechselseitige Beeinträchtigungen bei der Abgrenzung verschiedener Baugebiete möglichst zu vermeiden, enthält, der Ansicht, dass einem benachbarten Eisenbahnunternehmen im Baubewilligungsverfahren eines Wohnbauvorhabens das Recht zukommt, Einwendungen dahingehend zu erheben, ob für das beabsichtigte Bauvorhaben zB lärmschutzdämmende Baumaßnahmen erforderlich sind, um den nach den raumordnungsrechtlichen Vorschriften geschützten Interessen an einer Vermeidung unzulässiger Immissionen Rechnung zu tragen.
3.3. Den genannten Bestimmungen vergleichbar bestimmt auch der mit "Immissionsschutz" übertitelte § 8 Abs 1 erster Satz BauG, dass Bauwerke keinen Verwendungszweck haben dürfen, der eine das ortsübliche Ausmaß übersteigende Belästigung erwarten lässt. Dieser Grundsatz wird durch den zweiten Satz mit dem jeweiligen Bauvorhaben insofern in Verbindung gebracht, als das "ortsübliche Ausmaß" unter Berücksichtigung der Flächenwidmung am Standort des Bauvorhabens (und nur an diesem; vgl. dazu mwN) zu beurteilen ist. Da sich das Bauvorhaben im vorliegenden Fall auf einer als "Mischgebiet" iSd § 14 Abs 4 RPG gewidmeten Fläche befindet, sind auf diesem Grundstück nur Gebäude zulässig, "die das Wohnen nicht wesentlich stören". Daraus lässt sich aber im Hinblick auf die zitierte Rechtsprechung unter Heranziehung des Gleichheitssatzes ableiten, dass das Wohnen im Mischgebiet selbst nicht wesentlich gestört werden darf und sich somit aus der Lage eines bestehenden Betriebsgebiets in der Regel die Verpflichtung ergeben wird, Mischgebiete nur in einem entsprechenden Abstand zu diesem zu widmen, um die darin befindlichen Baulandgrundstücke vor Immissionen zu schützen (vgl. VfSlg 18.161/2007). Dementsprechend bestimmt auch § 13 Abs 2 litc RPG ganz allgemein, dass Flächen nicht als Bauflächen gewidmet werden dürfen, wenn deren Bebauung für die Einwohner besondere Belästigungen zur Folge haben würde. Daher ist mit der Widmung als Mischgebiet ein gewisser Immissionsschutz – genauer: ein Schutz vor Immissionen, die das Wohnen auf einem Grundstück im Mischgebiet wesentlich stören – verbunden.
3.4. Nun steckt aber § 26 BauG die Parteistellung des Nachbarn im Baubewilligungsverfahren in der Form ab, dass dieser mittels Einwendungen die Einhaltung bloß bestimmter, taxativ aufgezählter Vorschriften geltend machen kann. Gemäß Abs 2 litc leg. cit. kann der Nachbar dabei die Einhaltung des § 8 hinsichtlich des soeben erörterten "Immissionsschutzes" einwenden, wobei das Schutzniveau durch die Widmung als Mischgebiet konkretisiert wird. Der in Prüfung gezogene Satzteil scheint jedoch den in der Bestimmung des § 8 iVm der jeweiligen Flächenwidmung zum Ausdruck kommenden Immissionsschutz – und die mit ihm verbundenen Einwendungsmöglichkeiten – auf vom Baugrundstück ausgehende Belästigungen, die als Immissionen auf das Nachbargrundstück einwirken, zu beschränken. Während also § 8 in Zusammenschau mit der Flächenwidmung ein gewisses Immissionsschutzniveau sowohl den Nachbarn (nämlich gegen vom Bauvorhaben ausgehende Belästigungen) als auch dem Bauwerber (gegen von den Nachbarn ausgehende Belästigungen) objektiv-rechtlich garantiert, schränkt der in Prüfung gezogene Satzteil die subjektive Berechtigung des Nachbarn ("das Recht, durch Einwendungen die Einhaltung geltend zu machen" im Einleitungssatz des § 26 Abs 1 BauG) offensichtlich auf die Geltendmachung des ersteren Aspekts ein, weil es eben nur auf Immissionen auf seinem – also des Nachbarn – Grundstück ankommen soll.
Die durch den Satzteil ", soweit mit Immissionen auf seinem Grundstück zu rechnen ist" bewirkte Beschränkung subjektiver Rechte – und damit der Parteistellung – des Nachbarn auf das Nachbargrundstück belastende Immissionen wirft somit Bedenken im Hinblick auf den Gleichheitssatz auf: Es ist vorerst keine sachliche Rechtfertigung dafür zu erkennen, dass dem Nachbarn an der Einhaltung des Immissionsschutzes ein subjektiv-öffentliches Recht bloß an der Abwehr vom Baugrundstück ausgehender Belästigungen zukommen, dies aber – vor dem Hintergrund der ihm ansonsten in anderen Verfahren drohenden behördlichen Auflagen – nicht auch für die Wahrung der ortsüblichen Wohnqualität am Baugrundstück unter Berücksichtigung der vom Nachbargrundstück ausgehenden konsensmäßigen Emissionen gelten soll. Genau das scheint der in Prüfung gezogene Satzteil aber zu bewirken, weil er die Geltendmachung von Emissionen, die vom (Nachbar-)Grundstück der beschwerdeführenden Gesellschaft ausgehen, als subjektives Nachbarrecht ausschließt.
Die Regelung des § 26 Abs 1 litc BauG dürfte sich im Hinblick auf den in Prüfung gezogenen Satzteil, der diese Beschränkung explizit festlegt, von den in der bisherigen Judikatur des Verfassungsgerichtshofs behandelten Bestimmungen unterscheiden. Letztere waren nach Ansicht des Verfassungsgerichtshofs stets einer verfassungskonformen Interpretation zugänglich, weil sie es offen ließen, welche Aspekte des jeweiligen – idR durch die Flächenwidmung des Baugrundstücks vermittelten – Immissionsschutzes durch den Nachbarn im Baubewilligungsverfahren geltend gemacht werden können. Dies scheint im vorliegenden Fall zwar hinsichtlich des § 8 (iVm den §§13 Abs 2 und 14 Abs 4 RPG), nicht jedoch hinsichtlich des § 26 Abs 1 litc BauG möglich."
4. Innerhalb der dafür gesetzten Frist haben weder die Vorarlberger Landesregierung noch die Parteien des Anlassverfahrens eine Äußerung erstattet.
II. Rechtslage
1. Hinsichtlich der Nachbarrechte im Bauverfahren bestimmt § 26 BauG
:
"§26
Nachbarrechte, Übereinkommen
(1) Der Nachbar hat im Verfahren über den Bauantrag das Recht, durch Einwendungen die Einhaltung der folgenden Vorschriften geltend zu machen:
a) § 4 Abs 3, soweit mit Auswirkungen auf sein Grundstück zu rechnen ist;
b) §§5 bis 7, soweit sie dem Schutz des Nachbarn dienen;
c) § 8, soweit mit Immissionen auf seinem Grundstück zu rechnen ist;
d) die Festlegungen des Bebauungsplanes über die Baugrenze, die Baulinie und die Höhe des Bauwerks, soweit das Bauwerk nicht mehr als 20 Meter vom unmittelbar an das Baugrundstück angrenzenden Nachbargrundstück entfernt ist.
(2) Einwendungen des Nachbarn, mit denen die Verletzung anderer als im Abs 1 genannter öffentlich-rechtlicher Vorschriften behauptet wird, sind als unzulässig zurückzuweisen.
[…]"
2. Hinsichtlich des Immissionsschutzes bestimmt § 8 BauG:
"§8
Immissionsschutz
(1) Bauwerke, ortsfeste Maschinen und sonstige ortsfeste technische Einrichtungen dürfen keinen Verwendungszweck haben, der eine das ortsübliche Ausmaß übersteigende Belästigung oder eine Gefährdung des Nachbarn erwarten lässt. Ob eine Belästigung das ortsübliche Ausmaß übersteigt, ist unter Berücksichtigung der Flächenwidmung am Standort des Bauvorhabens zu beurteilen.
[…]"
3. Im Hinblick auf die Flächenwidmung des Baugrundstücks bestimmt § 14 RPG:
"§14
Einteilung der Bauflächen
(1) Als Bauflächen sind nach Erfordernis und Zweckmäßigkeit gesondert festzulegen: Kerngebiete, Wohngebiete, Mischgebiete und Betriebsgebiete
[…]
(4) Mischgebiete sind Gebiete, in denen Wohngebäude und sonstige Gebäude und Anlagen zulässig sind, die das Wohnen nicht wesentlich stören. In Mischgebieten können Zonen festgelegt werden, in denen Gebäude und Anlagen für land- und forstwirtschaftliche Zwecke errichtet werden dürfen.
[…]"
III. Erwägungen
1. Zur Zulässigkeit des Verfahrens
Im Verfahren hat sich nichts ergeben, was an der Präjudizialität der in Prüfung gezogenen Bestimmung zweifeln ließe. Da auch sonst keine Prozesshindernisse hervorgekommen sind, erweist sich das Gesetzesprüfungsverfahren insgesamt als zulässig.
2. In der Sache
Die im Prüfungsbeschluss dargelegten Bedenken des Verfassungsgerichtshofes erweisen sich als zutreffend. Der Verfassungsgerichtshof hält somit an seiner im Prüfungsbeschluss vertretenen Auffassung fest: Die in Prüfung gezogene Wortfolge in § 26 Abs 1 litc BauG bewirkt eine Beschränkung des subjektiven Nachbarrechts auf Einhaltung des durch § 8 BauG geregelten Immissionsschutzes auf die Geltendmachung solcher Immissionen, mit denen auf einem Nachbargrundstück zu rechnen ist. Demgegenüber können Immissionen, die vom bereits bebauten Nachbargrundstück auf das Baugrundstück einwirken und die zur Vorschreibung nachträglicher gewerberechtlicher Auflagen für das Nachbargrundstück führen können, nicht geltend gemacht werden. Eine solche Beschränkung ist mit dem Gleichheitssatz nicht vereinbar (vgl. VfSlg 12.468/1990, 13.210/1992, 14.943/1997, 15.188/1998, 15.691/1999, 15.792/2000, 16.250/2001 sowie 16.934/2003). Sie kann auch nicht mit einem allfälligen raumordnungsrechtlichen Gebot zur Vermeidung von Planungskonflikten bei der Erlassung von Flächenwidmungs- oder Bebauungsplänen gerechtfertigt werden.
IV. Ergebnis
1. Die Wortfolge ", soweit mit Immissionen auf seinem Grundstück zu rechnen ist" in § 26 Abs 1 litc BauG in der im Spruch angeführten Fassung ist daher wegen Verstoßes gegen den auch den Gesetzgeber bindenden Gleichheitssatz als verfassungswidrig aufzuheben.
2. Der Ausspruch, dass frühere gesetzliche Bestimmungen nicht wieder in Kraft treten, beruht auf Art 140 Abs 6 erster Satz B VG.
3. Die Verpflichtung des Landeshauptmanns von Vorarlberg zur unverzüglichen Kundmachung der Aufhebung und der damit im Zusammenhang stehenden sonstigen Aussprüche erfließt aus Art 140 Abs 5 erster Satz B VG und § 64 Abs 2 VfGG iVm § 2 Abs 1 litf des Vorarlberger Kundmachungsgesetzes, LGBl 35/1989 idgF.
4. Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
European Case Law Identifier
ECLI:AT:VFGH:2014:G98.2013