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VfGH vom 16.06.1994, G97/94

VfGH vom 16.06.1994, G97/94

Sammlungsnummer

13778

Leitsatz

Verfassungswidrigkeit der Neuregelung des Ausschlusses der Wiederaufnahme eines Verfahrens auf Antrag einer Partei nach Eintritt der Verjährung nach aufhebendem Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes; keine Beseitigung der Gleichheitswidrigkeit durch die Einführung einer Zehnjahresfrist ab Entstehen des Abgabenanspruchs für die Einbringung von Wiederaufnahmeanträgen

Spruch

§ 304 der Bundesabgabenordnung, BGBl. Nr. 194/1961, in der Fassung der Novelle BGBl. Nr. 12/1993 wird als verfassungswidrig aufgehoben.

Die Aufhebung tritt mit Ablauf des in Kraft.

Frühere Bestimmungen treten nicht wieder in Wirksamkeit.

Der Bundeskanzler ist zur unverzüglichen Kundmachung dieser Aussprüche im Bundesgesetzblatt verpflichtet.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. Das Recht, eine Abgabe festzusetzen, unterliegt nach Maßgabe der §§207 ff. Bundesabgabenordnung, BGBl. 194/1961, der Verjährung. Die Verjährungsfrist beträgt je nach Art der Abgabe ein Jahr, drei Jahre oder fünf Jahre, bei hinterzogenen Abgaben zehn Jahre (§207 Abs 2 BAO). Mit Ablauf des Jahres, in dem eine zur Geltendmachung des Abgabenanspruchs oder zur Feststellung des Abgabepflichtigen von der Abgabenbehörde unternommene, nach außen erkennbare Amtshandlung gesetzt - insbesondere auch: der Bescheid erlassen - wurde, beginnt die Verjährungsfrist neu zu laufen (§209 Abs 1 BAO).

Die Wiederaufnahme eines durch Bescheid abgeschlossenen Verfahrens auf Antrag einer Partei ist nur in bestimmten, in § 303 Abs 1 BAO aufgezählten Fällen zulässig. § 304 BAO bestimmte dazu in der Fassung der Novelle BGBl. 151/1980:

"Nach Eintritt der Verjährung ist eine Wiederaufnahme des Verfahrens ausgeschlossen, sofern ihr nicht ein vor diesem Zeitpunkt eingebrachter Antrag gemäß § 303 Abs 1 zugrunde liegt".

Mit Erkenntnis vom , G3/92, (VfSlg. 13114/1992) hat der Verfassungsgerichtshof diese Bestimmung als verfassungswidrig aufgehoben. Die im Verfahren nicht zerstreuten Bedenken des Gerichtshofes waren dahin gegangen, daß die Bestimmung, deren Aufgabe es sei, zu verhindern, daß nach Bewilligung einer Wiederaufnahme des Verfahrens die Abgabe wegen Verjährung des Anspruches nicht mehr festgesetzt werden kann, dieses Ziel überschießende Folgen nach sich ziehe; insbesondere sei es angesichts der zehnjährigen Frist für die hinterzogenen Abgaben unsachlich, wenn die Wiederaufnahme ohne Rücksicht auf den Wiederaufnahmsgrund mit der ein-, drei- oder fünfjährigen Verjährungsfrist begrenzt sei.

Mit der Novelle BGBl. 12/1993 wurde § 304 wie folgt neu gefaßt (Änderung hervorgehoben):

"Nach Eintritt der Verjährung ist eine Wiederaufnahme des Verfahrens ausgeschlossen, sofern ihr nicht ein vor diesem Zeitpunkt oder vor Ablauf einer Frist von zehn Jahren ab dem Zeitpunkt des Entstehens des Abgabenanspruches (§4) eingebrachter Antrag gemäß § 303 Abs 1 zugrunde liegt".

In den Erläuterungen zur Regierungsvorlage, 811 BlgNR 18.GP, wird zu dieser Ersatzregelung ausgeführt:

"Im aufhebenden Erkenntnis hatte der Verfassungsgerichtshof begründend ausgeführt, daß der für die amtswegige Wiederaufnahme durch die Abgabenbehörde praktisch wichtigste Fall durch die selbst bei sonst einjähriger Verjährungsfrist geltende zehnjährige Frist für hinterzogene Abgaben im Ergebnis berücksichtigt sei; demgegenüber schließe § 304 die Wiederaufnahme des Verfahrens auf Antrag der Partei schon nach Ablauf der ein, drei oder fünf Jahre betragenden Verjährungsfrist überhaupt aus. § 304 verstoße daher gegen den Gleichheitssatz.

Um den Bedenken des Verfassungsgerichtshofes Rechnung zu tragen, soll neben die bereits bestehende Frist, innerhalb derer die Partei einen Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens stellen kann, eine weitere - vom Eintritt der Verjährung unabhängige - Frist hinzutreten. Der Neufassung des § 304 zufolge hätte die Partei die Möglichkeit, nicht nur - wie bisher - vor Eintritt der Verjährung einen Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens zu stellen, sondern ein solcher Antrag wäre - ungeachtet des Eintritts der Verjährung - auch noch bis zum Ablauf einer Frist von zehn Jahren ab dem Zeitpunkt des Entstehens des Abgabenanspruches (§4) zulässig. Durch die vorgeschlagene Einführung einer solchen weiteren Frist erfährt die Partei insbesondere in Bereichen jener Abgaben eine wesentliche Besserstellung, in denen die Bemessungsverjährungsfrist lediglich ein Jahr oder drei Jahre beträgt."

II. Mit dem beim Verfassungsgerichtshof zu B1401/93 angefochtenen Bescheid der Finanzlandesdirektion wird ein am eingebrachter Antrag des Beschwerdeführers auf Wiederaufnahme eines mit Berufungsentscheidung vom abgeschlossenen Abgabenverfahrens betreffend die Umsatz- und Einkommensteuer für 1977 bis 1979 abgewiesen. Die Verjährung sei fünf Jahre nach Ablauf des Jahres 1986, also mit Ablauf des Jahres 1991 eingetreten, die zehnjährige Frist zur Einbringung des Wiederaufnahmsantrages habe mit Ablauf der Jahre 1987, 1988 und 1989 geendet; die Wiederaufnahme des Verfahrens sei daher schon gemäß § 304 ausgeschlossen. Außerdem lägen - wie der Bescheid im einzelnen dargelegt - die behaupteten Wiederaufnahmsvoraussetzungen nicht vor.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die Beschwerde, in der die Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes gerügt wird: Die gegen § 304 BAO alte Fassung erhobenen Bedenken träfen auch die Neufassung.

III. Der Verfassungsgerichtshof

hat aus Anlaß dieses Beschwerdeverfahrens die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des § 304 BAO beschlossen. Er ist vorläufig davon ausgegangen, daß die Beschwerde zulässig ist und er bei ihrer Erledigung auch § 304 BAO anzuwenden hätte. Es scheine nämlich, daß sich die (von der Behörde allerdings beantwortete) Frage nach der Tauglichkeit des geltend gemachten Wiederaufnahmsgrundes nur stellt, wenn eine Wiederaufnahme überhaupt noch zulässig ist.

Gegen die Verfassungsmäßigkeit des § 304 BAO in der Fassung BGBl. 12/1993 hat er folgende Bedenken:

"Es dürfte davon auszugehen sein, daß die Neufassung der Bestimmung in bezug auf den aus der alten Fassung übernommenen Teil, also die Maßgeblichkeit der Verjährungsfrist, immer noch denselben Zwecken dient wie schon die Stammfassung, sodaß insoweit das im Erkenntnis G3/92 Gesagte weiterhin gilt. Die dem Antragsteller zusätzlich eröffnete '- vom Eintritt der Verjährung unabhängige -' Frist soll nach den Materialien die im Erkenntnis G3/92 aufgezeigten verfassungsrechtlichen Mängel beheben und die Partei 'besser stellen'. Es scheint jedoch, daß eine solche Besserstellung nur teilweise und nach den zufälligen Verhältnissen eintritt, der Mangel aber in wesentlichen Bereichen noch verschärft und die gleichzeitige Koppelung mit der Verjährung sinnlos wird. Während nämlich alle Verjährungsfristen durch jede nach außen erkennbare behördliche Amtshandlung zur Geltendmachung des Abgabenanspruches oder zur Feststellung des Abgabepflichtigen unterbrochen werden, sodaß auch die ein- oder dreijährige Verjährungsfrist noch viele Jahre nach Entstehung des Abgabenanspruches neu zu laufen beginnen kann - zumal die Behörde auch die Möglichkeit der Erlassung vorläufiger Bescheide hat (vgl. § 208 Abs 1 litd BAO) -, läuft die zehnjährige Antragsfrist des neuen § 304 ohne Unterbrechung ab. Es kann also leicht der Fall eintreten, daß die Abgabe zu einem Zeitpunkt festgesetzt wird, in dem die ununterbrochene Zehnjahresfrist bereits abgelaufen ist, sodaß für die Wiederaufnahme des Verfahrens weiterhin nur die ein- oder dreijährige Frist des § 207 Abs 2 zur Verfügung steht (während der Behörde im Fall der Hinterziehung für eine Wiederaufnahme noch zehn Jahre offenstehen).

Umgekehrt kann die starre Zehnjahresfrist beispielsweise bei Verbrauchssteuern leicht dazu führen, daß die Wiederaufnahme zugunsten der Partei auch nach Eintritt der Verjährung zulässig bleibt, sodaß die Absicht, nach Verjährung keine Wiederaufnahme zuzulassen, weil dann die Abgabe nicht mehr festgesetzt werden kann, gar nicht mehr erreicht wird, und die unterschiedlichen Fristen, die sich aus der Maßgeblichkeit der Verjährung ergeben, ihren rechtfertigenden Sinn verlieren.

Die getroffene Regelung scheint daher insgesamt nicht nur ein untaugliches Mittel zur Beseitigung der Verfassungswidrigkeit des § 304 alt zu sein, sondern der bereits festgestellten Verfassungswidrigkeit eine neue hinzuzufügen.

Selbst wenn man aber - entgegen der Behauptung der Materialien - annehmen wollte, daß die Zehnjahresfrist keine Lösung der dem Gesetzgeber durch das Erkenntnis G3/92 gestellten Aufgabe bezweckt, sondern die Möglichkeit der Wiederaufnahme 'unabhängig von der Verjährung' zeitlich begrenzen soll (etwa um den Zeitraum, in dem die Akten aufbewahrt werden müssen, zu verkürzen), scheint dafür eine vom Entstehen des Abgabenanspruches an laufende Frist kein sachliches Mittel zu sein. Dafür dürfte sich nur eine vom Zeitpunkt der Verfahrensbeendigung an laufende Frist - verbunden mit der schon im Erkenntnis G3/92 erwogenen Erlaubnis nach dem Muster des § 209a Abs 1 BAO - eignen (vgl. den gleichfalls schon im Erkenntnis G3/92 bezogenen § 534 Abs 3 ZPO).

Der Gerichtshof hält es in diesem Zusammenhang aber für nützlich zu betonen, daß er es weder im Erkenntnis G3/92 als verfassungsrechtlich geboten angesehen hat, daß die Wiederaufnahme auf Antrag einer Partei immer durch zehn Jahre (ab Entstehung des Anspruches) zulässig bleibt, noch jetzt Bedenken dagegen hegt, daß dies nicht zehn Jahre ab Verfahrensbeendigung der Fall ist. Nur die rigorose Beschränkung auf die jeweilige, gegebenenfalls äußerst kurze Verjährungsfrist ohne Rücksicht auf den Wiederaufnahmsgrund hatte das Abstellen auf die Verjährungsfrist unsachlich gemacht."

Die Bundesregierung hat von einer Äußerung in der Sache abgesehen.

IV. Das Gesetzesprüfungsverfahren ist zulässig. Prozeßhindernisse sind nicht hervorgekommen.

V. Die Bedenken sind auch begründet. § 304 BAO widerspricht auch in der Fassung der Novelle BGBl. 12/1993 dem Gleichheitssatz.

Es ist nichts hervorgekommen, was die wörtlich wiedergegebenen Bedenken des Gerichtshofes zerstreut hätte. Es ist ihnen auch nichts hinzuzufügen. Von welcher Absicht des Gesetzgebers man immer ausgeht, erweist sich die getroffene Regelung als sachwidrig.

Die Bestimmung ist daher als verfassungswidrig aufzuheben.

Die Fristsetzung und die Kundmachungspflicht stützen sich auf Art 140 Abs 5 B-VG, der Ausschluß des Inkrafttretens früherer Vorschriften auf Art 140 Abs 6 B-VG.