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VfGH vom 02.12.2004, g95/04

VfGH vom 02.12.2004, g95/04

Sammlungsnummer

17394

Leitsatz

Verstoß des in der Bundesabgabenordnung normierten Verböserungsverbotes hinsichtlich der Einschränkung der Bindung der Abgabenbehörde an die Rechtsauslegung der Höchstgerichte bzw von bestimmten Erlässen gegen das Rechtsstaatsprinzip und das Legalitätsprinzip; Schaffung in der Bundesverfassung nicht vorgesehener Rechtsquellentypen; keine weitere Anwendbarkeit der Bestimmung auch in offenen Fällen

Spruch

§ 117 des Bundesgesetzes vom , betreffend allgemeine Bestimmungen und das Verfahren für die von den Abgabenbehörden des Bundes verwalteten Abgaben (Bundesabgabenordnung - BAO), BGBl. Nr. 194/1961, in der Fassung BGBl. I Nr. 97/2002, wird als verfassungswidrig aufgehoben.

Frühere gesetzliche Bestimmungen treten nicht wieder in Kraft.

Die aufgehobene Vorschrift ist nicht mehr anzuwenden.

Der Bundeskanzler ist zur unverzüglichen Kundmachung dieser Aussprüche im Bundesgesetzblatt I verpflichtet.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Die beschwerdeführende Gesellschaft, eine Bank, hat in den Monaten Oktober 2000 bis Dezember 2000 Nullkuponanleihen (Zero-Bonds) verkauft und bei Berechnung der Zinsen für Zwecke der Kapitalertragsteuer-Erstattung die sog. lineare Berechnungsmethode angewendet.

2. Mit dem im Instanzenzug ergangenen Bescheid des Unabhängigen Finanzsenates, Außenstelle Klagenfurt, vom wurde u.a. die Berufung gegen den Bescheid des Finanzamtes Klagenfurt betreffend "Haftung für zu hoch erstattete Kapitalertragsteuer" für den Zeitraum August 2000 bis Dezember 2000 als unbegründet abgewiesen.

3. Gegen diesen Bescheid erhob die beschwerdeführende Gesellschaft gemäß Art 144 B-VG Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, in der die Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechts auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Bescheides begehrt werden: Die belangte Behörde habe gegen den "unmittelbar aus der Verfassung abzuleiten[den]" Grundsatz von Treu und Glauben verstoßen, indem sie bei Berechnung der Kapitalertragsteuer für Nullkuponanleihen eine finanzmathematische Berechnung vorgenommen habe und damit zum Nachteil der beschwerdeführenden Gesellschaft von näher bezeichneten Richtlinien (Erlässen) des BM für Finanzen abgegangen sei, die eine lineare Berechnung der Kapitalertragsteuer vorgesehen bzw. zugelassen hätten. Systematische, teleologische und historische Argumente ergäben eindeutig, daß einzig diese Berechnungsform dem Gesetz entspreche. Bis zum (Veröffentlichung der ESt-Richtlinien 2000) hätte die beschwerdeführende Gesellschaft bei den Erwerbs- und Verkaufsvorgängen von der Gültigkeit der alten Richtlinien des BM für Finanzen ausgehen dürfen.

Die Beschwerde behauptet überdies - mit näherer Begründung - einen Verstoß gegen § 117 BAO (idF BGBl. I 97/2002), der auf die fraglichen Erwerbs- bzw. Verkaufsvorgänge anzuwenden sei (was jedoch die belangte Behörde abgelehnt habe). Gemäß dieser Vorschrift hätte keine Rechtsauslegung stattfinden dürfen, die zum Nachteil der betroffenen Partei führe. Jedenfalls die für den Zeitraum Oktober 2000 vorgenommene Selbstberechnung an Kapitalertragsteuer, die bis zum - somit vor Veröffentlichung der ESt-Richtlinien 2000 - einzureichen gewesen sei, sei vom "partiellen Verböserungsverbot" des § 117 BAO erfaßt.

4. Bei Behandlung dieser zu B581/03 protokollierten Beschwerde sind beim Verfassungsgerichtshof Bedenken ob der Verfassungsmäßigkeit des § 117 des Bundesgesetzes vom , betreffend allgemeine Bestimmungen und das Verfahren für die von den Abgabenbehörden des Bundes verwalteten Abgaben (Bundesabgabenordnung - BAO), BGBl. 194/1961, idF BGBl. I 97/2002, entstanden. Der Verfassungsgerichtshof hat daher mit Beschluß vom ein Gesetzesprüfungsverfahren hinsichtlich der eben genannten Bestimmung eingeleitet.

5. Zur Rechtslage:

5.1. Nach § 27 Abs 2 Z 2 EStG 1988 gehören zu den Einkünften aus Kapitalvermögen auch "Unterschiedsbeträge zwischen dem Ausgabewert eines Wertpapiers und dem im Wertpapier festgelegten Einlösungswert, wenn diese 2% des Wertpapiernominales übersteigen". Im Falle des vorzeitigen Rückkaufes tritt an die Stelle des Einlösungswertes der Rückkaufpreis.

Gemäß § 93 Abs 1 EStG 1988 wird die Einkommensteuer bei im Inland bezogenen Kapitalerträgen aus Forderungswertpapieren durch Abzug vom Kapitalertrag erhoben. Gemäß § 93 Abs 4 Z 2 EStG 1988 sind auch Unterschiedsbeträge gemäß § 27 Abs 2 Z 2 leg.cit. kapitalertragsteuerpflichtig.

Schuldner der Kapitalertragsteuer ist der Empfänger der Kapitalerträge (§95 Abs 2 EStG 1988). Die Kapitalertragsteuer ist durch Abzug einzubehalten. Der zum Abzug Verpflichtete haftet dem Bund für die Einbehaltung und Abfuhr. Bei im Inland bezogenen Kapitalerträgen dieser Art trifft die Verpflichtung zum Kapitalertragsteuer-Abzug die kuponauszahlende Stelle. Diese wird in § 95 Abs 3 Z 2 EStG 1988 definiert als:


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-
das Kreditinstitut, das an den Kuponinhaber Kapitalerträge im Zeitpunkt der Fälligkeit und anteilige Kapitalerträge anläßlich der Veräußerung des Wertpapiers auszahlt,


Tabelle in neuem Fenster öffnen
-
der inländische Emittent, der an den Kuponinhaber solche Kapitalerträge auszahlt.

Bei Kapitalerträgen gemäß § 93 Abs 3 EStG 1988 hat der zum Abzug Verpflichtete die in einem Kalendermonat einbehaltenen Steuerbeträge abzüglich gutgeschriebener Beträge unter der Bezeichnung "Kapitalertragsteuer" spätestens am 15. Tag nach Ablauf des folgenden Kalendermonats abzuführen (§96 Abs 1 Z 3 EStG 1988).

Dem Empfänger der Kapitalerträge ist die Kapitalertragsteuer ausnahmsweise vorzuschreiben, wenn der zum Abzug Verpflichtete die Kapitalerträge nicht vorschriftsmäßig gekürzt hat oder der Empfänger weiß, daß der Schuldner die einbehaltene Kapitalertragsteuer nicht vorschriftsmäßig abgeführt hat und dies dem Finanzamt nicht unverzüglich mitteilt (§95 Abs 5 EStG 1988).

Werden Kapitalerträge rückgängig gemacht, dann sind von dem zum Abzug Verpflichteten die entsprechenden Beträge an Kapitalertragsteuer gutzuschreiben. Die gutgeschriebene Kapitalertragsteuer darf die von den rückgängig gemachten Kapitalerträgen erhobene oder zu erhebende Kapitalertragsteuer nicht übersteigen (§95 Abs 6 leg.cit.).

5.2. Bei Nullkuponanleihen entstehen Kapitalerträge grundsätzlich erst am Ende der Laufzeit oder bei vorzeitiger Einlösung des Wertpapiers. Wird die Anleihe jedoch vor Laufzeitende veräußert, so werden im Kaufpreis regelmäßig auch anteilige Kapitalerträge abgegolten. Auch diese Kapitalerträge unterliegen nach h. A. dem Kapitalertragsteuer-Abzug (Punkt 4.5 der Richtlinien zur Erhebung der Kapitalertragsteuer von Kapitalerträgen aus Einlagen und Forderungswertpapieren [Erlaß des BM für Finanzen vom , AÖF 158/1993, im folgenden KESt-RL 1993]; Rz 7767 der Einkommensteuerrichtlinien 2000 [Erlaß des BM für Finanzen vom , AÖF 232/2000, im folgenden ESt-RL 2000]; Doralt, EStG-Kommentar Band II, § 95 Tz 31 ff.; Schönstein, KESt und Zero Bonds, SWK 2001, 571 ff.; Moritz, Zur Kapitalertragsteuer bei Zero Bonds, SWK 2001, 461 ff.; Niescher, Kapitalertragsteuer beim Erwerb von Nullkuponanleihen [Zero-Bonds] während der Laufzeit, ÖStZ 2001, 102 ff.). Beim Erwerber der Anleihe werden die im Kaufpreis abgegoltenen anteiligen Zinsen nach h.A. als (vorweg) rückgängig gemachter Kapitalertrag betrachtet, weil der später bei Einlösung erzielte Differenzbetrag durch die zuvor abgegoltenen Zinsen vorbelastet ist (vgl. Schönstein, SWK 2001, 574; Doralt, a.a.O., § 95 Tz 32).

Über die Art der Berechnung dieser anteiligen Kapitalerträge im Fall der Veräußerung von Nullkuponanleihen während der Laufzeit enthält das EStG 1988 keine ausdrücklichen Bestimmungen.

Mit den KESt-RL 1993, AÖF 158/1993, hat der Bundesminister für Finanzen seine Rechtsansicht zu den betreffenden Tatbeständen des EStG 1988 bekanntgegeben. Punkt 3.3 der KESt-RL 1993 hält fest, daß zu den Kapitalerträgen bei Wertpapieren auch der jeweilige Unterschiedsbetrag zwischen dem Ausgabewert und dem im Wertpapier festgelegten Einlösungswert zählt, und nennt als Beispiel eine Nullanleihe mit einem Emissionskurs von 46 und einem Einlösungswert von 100, bei der (somit) ein Kapitalertrag von 54 anfalle. Punkt 4.5 der KESt-RL 1993 betrifft den Steuerabzug bei Unterschiedsbeträgen zwischen Ausgabe- und Einlösungswert eines Wertpapiers im Sinn des Punktes 3.3. Die KESt-RL 1993 vertreten die Auffassung, daß die KESt-Abzugspflicht grundsätzlich erst am Ende der Laufzeit bzw. bei vorzeitiger Einlösung des Wertpapiers entstehe. Bei Verkauf vor dem Ende der Laufzeit sei für den zeitanteiligen Kapitalertrag des Veräußerers im Zeitpunkt der Veräußerung Abzugspflicht gegeben.

Wörtlich heißt es dann: "Es bestehen keine Bedenken, wenn der zeitanteilige Kapitalertrag unter sinngemäßer Anwendung der in Punkt 5.1 dargestellten Formel ermittelt wird." Die betreffende Formel sieht die Ermittlung des monatlichen Kapitalertrages nach einer linearen Methode vor, bei der die Differenz zwischen Einlösungswert und Ausgabewert durch die Anzahl der vollen Monate zwischen Ausgabe und Einlösung dividiert wird.

Diese Auffassung wird durch den Erlaß vom bestätigt, der offenbar nicht im Amtsblatt der österreichischen Finanzverwaltung, sondern lediglich in einer Zeitschrift veröffentlicht ist (Recht der Wirtschaft 2000, 696). In diesem Erlaß wird auf Punkt 4.5 der KESt-RL 1993 Bezug genommen und die Auffassung vertreten, daß bei Veräußerung eines Wertpapiers vor dem Ende der Laufzeit für den zeitanteiligen Kapitalertrag des Veräußerers Abzugspflicht gegeben sei. Weiter heißt es: "Die Berechnung dieser anteiligen Kapitalerträge hat grundsätzlich finanzmathematisch zu erfolgen; die KESt-Richtlinien erlauben allerdings auch eine (vereinfachte) Berechnung anhand der in Pkt 5.1 dargestellten Formel."

In Rz 6186 der ESt-RL 2000, ausgegeben am , AÖF 232/2000, wird die Auffassung vertreten, daß der für die Ermittlung des zeitanteiligen Kapitalertrages maßgebende innere Wert des Papiers sich durch Aufzinsung des Ausgabepreises mit dem Renditezinssatz errechne. Sofern sich keine wesentlichen Abweichungen zu dem sich durch Aufzinsung des Ausgabepreises ermittelten Zinsertrag ergäben, bestünden jedoch keine Bedenken, den anteiligen Zinsertrag an Hand der linearen Berechnungsmethode zu ermitteln.

Mit dem Erlaß des BM für Finanzen vom , "Änderung der EStR bei der Besteuerung von Kapitalanlagen", AÖF 145/2001, ausgegeben am , wurde die Rz 6186 der ESt-RL 2000 dahingehend geändert, daß nunmehr eine bestimmte finanzmathematische Methode zur Berechnung der anteiligen Zinserträge angegeben wird. Es bestünden jedoch keine Bedenken, wenn anläßlich von steuerpflichtigen Vorgängen, die vor dem gelegen seien, der innere Wert nach der linearen Bemessungsgrundlage ermittelt werde. Diese Art der Schätzung sei jedoch nur zulässig, wenn keine wesentliche Abweichung zum Ergebnis nach der vorher dargelegten Zinseszinsformel bestehe und somit das Schätzungsergebnis dem tatsächlichen Ergebnis nahe komme.

5.3. Mit der Novelle BGBl. I 97/2002 (Abgaben-Rechtsmittel-Reformgesetz - AbgRmRefG) wurde folgender § 117 des Bundesgesetzes vom , betreffend allgemeine Bestimmungen und das Verfahren für die von den Abgabenbehörden des Bundes verwalteten Abgaben (Bundesabgabenordnung - BAO), BGBl. 194/1961, eingefügt:

"Liegt eine in Erkenntnissen des Verfassungsgerichtshofes oder des Verwaltungsgerichtshofes oder in als Richtlinien bezeichneten Erlässen des Bundesministeriums für Finanzen vertretene Rechtsauslegung dem Bescheid einer Abgabenbehörde, der Selbstberechnung von Abgaben, einer Abgabenentrichtung in Wertzeichen (Stempelmarken), einer Abgabenerklärung oder der Unterlassung der Einreichung einer solchen zu Grunde, so darf eine spätere Änderung dieser Rechtsauslegung, die sich auf ein Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes oder des Verwaltungsgerichtshofes oder auf einen Erlass des Bundesministeriums für Finanzen stützt, nicht zum Nachteil der betroffenen Partei berücksichtigt werden."

Nach den Materialien (vgl. die EB zum IA 666/A, 21. GP) handelt es sich um eine Regelung, durch die das Vertrauen der Partei in eine bisher gehandhabte Auslegung geschützt werden soll. Wörtlich wird dazu ausgeführt:

"Nach derzeitiger Rechtslage (§307 Abs 2 BAO) besteht lediglich bei Wiederaufnahme des Verfahrens ein Schutz der Partei vor Verböserungen, die sich insbesondere aus Änderungen der Rechtsprechung ergeben könnten. Ein solcher Vertrauensschutz soll nicht nur bei Wiederaufnahme, sondern generell bei allen Abänderungen (zB gemäß § 295 BAO) und Aufhebungen (zB gemäß § 299 BAO) gelten. Dieses Vertrauen der Partei soll etwa auch im Zusammenhang mit Selbstberechnungen und mit der Einreichung von Abgabenerklärungen geschützt werden.

§ 117 BAO schützt das Vertrauen der Partei in Rechtsauslegungen der Höchstgerichte unabhängig davon, ob der Bescheid in der Begründung auf die Judikatur hinweist. Entscheidend ist, ob die dem erstmals beispielsweise über die Abgabe absprechenden Bescheid zugrunde gelegte Rechtsansicht im Ergebnis mit der (vor seiner Erlassung ergangenen) Rechtsprechung übereinstimmt; dies unabhängig davon, ob die Partei oder die Abgabenbehörde diese Judikatur kennen.

Das Abstellen auf die formale Bezeichnung als 'Richtlinie' vermeidet (im Unterschied zum derzeitigen § 307 Abs 2 BAO) Zweifel, was ein allgemeiner Erlass ist (bzw. wann eine bloße Einzelerledigung vorliegt). Dies dient der Rechtssicherheit. Die Bezeichnung als 'Richtlinie' hat nichts mit dem Umfang des Erlasses zu tun. In Hinkunft werden somit auch Erlässe, die nur wenige Seiten umfassen, als Richtlinien zu bezeichnen sein.

Ebenso wie der bisherige § 307 Abs 2 BAO normiert § 117 BAO keine Bindung an Judikatur oder an Erlässe. Lediglich 'rückwirkende' Konsequenzen aus (für die Partei nachteiligen) Änderungen der Judikatur oder als Richtlinien bezeichneter Erlässe werden vermieden.

§ 117 BAO ändert nichts am Grundsatz von Treu und Glauben im Zusammenhang mit (sich als unrichtig erweisenden) im Einzelfall erteilten Rechtsauskünften der zuständigen Abgabenbehörde."

Die Vorschrift ist mangels entgegenstehender abweichender Bestimmung am Tag nach der Kundmachung des AbgRmRefG - das ist der - in Kraft getreten (vgl. Art 49 Abs 1 B-VG).

5.4. Mit derselben Novelle wurde § 307 Abs 2 BAO aufgehoben. Diese (die Wiederaufnahme des Verfahrens betreffende) Vorschrift hatte folgenden Wortlaut:

"In der Sachentscheidung darf eine seit Erlassung des früheren Bescheides eingetretene Änderung der Rechtsauslegung, die sich auf ein Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes oder des Verwaltungsgerichtshofes oder auf eine allgemeine Weisung des Bundesministeriums für Finanzen stützt, nicht zum Nachteil der Partei berücksichtigt werden."

6.1. In seinem Prüfungsbeschluß ist der Verfassungsgerichtshof zunächst - vorläufig - von der Präjudizialität der in Prüfung gezogenen Bestimmung, die im Hinblick auf die denkbaren Kombinationen, in denen Richtlinien und höchstgerichtliche Erkenntnisse aufeinanderfolgen können, eine untrennbare Einheit zu bilden scheine, ausgegangen:

"Die angefochtene Berufungsentscheidung trägt das Datum und erging somit nach Inkrafttreten des § 117 BAO (). Diese Vorschrift stand somit im Zeitpunkt der Berufungsentscheidung in Geltung. Da Übergangsregelungen nicht vorgesehen sind, geht der Gerichtshof vorläufig davon aus, daß für den zeitlichen Anwendungsbereich der Verfahrensvorschrift des § 117 BAO lediglich maßgebend ist, ob im Zeitpunkt der Entscheidung der zweiten Instanz die Voraussetzungen des § 117 BAO gegeben waren (vgl. auch Ritz, Verböserungsverbot nach § 117 BAO, RdW 2002, 758, 762). Ob einzelne oder alle Tatbestandsmerkmale dieser Vorschrift vor ihrem Inkrafttreten verwirklicht wurden, ist danach anscheinend nicht maßgebend. Die Vorschrift dürfte daher auch auf Richtlinien oder Erkenntnisse anwendbar sein, die vor dem veröffentlicht wurden, unabhängig davon, ob die spätere Änderung der Rechtsauslegung vor oder nach diesem Datum erfolgt ist.

Der Gerichtshof geht ferner vorläufig davon aus, daß der Anwendbarkeit des § 117 BAO auch nicht - entgegen der Auffassung der belangten Behörde (vgl. den angefochtenen Bescheid, Seite 23) - deren in § 271 BAO verfassungsrechtlich garantierte Weisungsfreiheit entgegensteht. § 117 BAO dürfte keine Bindung an Weisungen verfügen, sondern dürfte - aus Gründen des Vertrauensschutzes (vgl. die oben wiedergegebenen Materialien; ferner Ritz, RdW 2002, 760) - eine Berücksichtigung von in höchstgerichtlichen Erkenntnissen oder ministeriellen Richtlinien vertretenen Rechtsauslegungen fordern. Da anscheinend auch die erlaßförmige Feststellung, daß gegen eine bestimmte Verwaltungspraxis 'keine Bedenken' bestehen, im Regelfall als Rechtsauslegung anzusehen ist, hätte die belangte Behörde, da zumindest ein Teil der strittigen Kapitalertragsteuer-Anmeldungen vor der Veröffentlichung der ESt-RL 2000 erfolgte, im vorliegenden Fall anscheinend die Frage zu beantworten gehabt, ob die ESt-RL 2000 die Rechtsauslegung bezüglich der Berechnung der Kapitalertragsteuer bei Veräußerungen von Nullkuponanleihen (gegenüber den KESt-RL 1993) verändert haben und - wenn ja - ob bzw. inwieweit diese Änderung zum Nachteil der beschwerdeführenden Partei berücksichtigt werden darf.

Der Gerichtshof geht daher vorläufig davon aus, daß schon die belangte Behörde zur Anwendung des § 117 BAO verpflichtet gewesen wäre und diese Norm daher für den Gerichtshof in der vorliegenden Beschwerdesache präjudiziell iSd Art 140 Abs 1 Satz 1 B-VG ist."

6.2. In der Sache hegte der Verfassungsgerichtshof (vorläufig) Bedenken ob der Sachlichkeit der in Prüfung gezogenen Regelung und führte dazu aus:

"3.1. Der Gerichtshof versteht die in Prüfung gezogene Regelung so, daß (u.a.) eine Rechtsauslegung, die seitens des Bundesministeriums für Finanzen in bestimmten Erlässen ('Richtlinien') vertreten wurde, vom Gesetzgeber nunmehr als vertrauensbegründender Umstand gewertet und mit bestimmten Rechtswirkungen verbunden wird. Hat der Steuerpflichtige sich in seinem abgabenrechtlich relevanten Verhalten (Abgabe von Steuererklärungen oder deren Unterlassung, Selbstbemessung von Abgaben) auf eine solche Auslegung gestützt oder wurde diese Auslegung von der Abgabenbehörde einem Bescheid zugrunde gelegt, so wird das Vertrauen des Steuerpflichtigen in die Richtigkeit dieser Auslegung insofern geschützt, als eine Änderung der Auslegung, die in einem (anderen) Erlaß des BM für Finanzen oder auch in einem Erkenntnis eines Gerichtshofes des öffentlichen Rechts vorgenommen wurde, nicht zu seinem Nachteil berücksichtigt werden darf.

3.2. Gegen die Gewährung von Vertrauensschutz auch gegenüber Äußerungen von Verwaltungsbehörden, die nicht in Verordnungs- oder Bescheidform ergehen, bestehen an sich keine verfassungsrechtlichen Bedenken. Das der österreichischen Bundesverfassung zugrunde liegende rechtsstaatliche Prinzip fordert nicht nur die Bindung der gesamten Vollziehung an das Gesetz (Art18 B-VG), sondern verlangt auch die Gewährleistung von Rechtssicherheit. Den im rechtsstaatlichen Verfahren unvermeidlich auftauchenden Widerstreit zwischen den Prinzipien der Rechtsrichtigkeit (Gesetzmäßigkeit) und der Rechtssicherheit oder Rechtsbeständigkeit zu lösen, ist Aufgabe des einfachen Gesetzgebers. Er hat jeweils - im Rahmen der durch die Verfassung gezogenen Schranken - zu entscheiden, ob dem Postulat der Rechtssicherheit oder dem der Gesetzmäßigkeit das größere Gewicht beizumessen ist. Dies gilt nicht nur in bezug auf die Bestimmung der Rechtswirkungen eines abgeschlossenen Verwaltungsverfahrens (vgl. dazu VfSlg. 4273/1962, 4986/1965), sondern auch bei der Bestimmung, welche Rechtswirkungen qualifizierten Äußerungen von Verwaltungsbehörden, die einen Einzelfall betreffen, zukommen.

3.3. Der Gerichtshof kann es im vorliegenden Zusammenhang dahingestellt sein lassen, ob Gleiches auch für Äußerungen der Verwaltung gilt, die generellen Charakter haben, jedoch als bloße (nicht-imperative) Mitteilungen einer Rechtsansicht betrachtet werden und daher nicht in Verordnungsform ergehen. Die einfachgesetzliche Bindung an eine solche Äußerung könnte nämlich überhaupt nur dann verfassungskonform sein, wenn sie in sich sachlich ausgestaltet wäre, den Anforderungen des Art 18 B-VG entspräche und mit den Regelungen des B-VG über die Hierarchie der Normen und den Rechtsschutz, insbesondere über die Aufgaben der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts, vereinbar wäre. Dies scheint aber nach der vorläufigen Annahme des Gerichtshofes auf § 117 BAO nicht zuzutreffen:

3.3.1. Zunächst fällt auf, daß der Vertrauensschutz im Bereich administrativer Äußerungen nur in bezug auf jene Erlässe des BM für Finanzen eingeräumt wird, die als 'Richtlinien' bezeichnet werden. Dieser Ausdruck ist anscheinend kein Rechtsbegriff. Da - wie bereits dargelegt - § 117 BAO seine Wirkung anscheinend auch auf Rechtsauslegungen erstreckt, die vor seinem Inkrafttreten (das ist der ) vertreten wurden, dürfte dies zur Folge haben, daß die vertrauensbegründende Wirkung von erlaßförmigen Äußerungen des BM für Finanzen davon abhängt, ob der Erlaß in der Vergangenheit - das heißt zu einem Zeitpunkt, in dem an den Begriff der 'Richtlinie' von der Rechtsordnung keine, jedenfalls aber nicht die Rechtsfolgen des § 117 BAO geknüpft waren - als Richtlinie bezeichnet wurde. Der Gerichtshof übersieht nicht, daß mit dieser Terminologie insoweit Rechtssicherheit verbunden ist, als damit der in Betracht kommende Kreis der ministeriellen Enunziationen auch für die Vergangenheit eindeutig umschrieben ist. Die ministerielle Erlaßpraxis dürfte aber keineswegs in dem Sinn gefestigt gewesen sein, daß Erlässe von grundsätzlicher Bedeutung oder größerem Umfang stets als Richtlinien bezeichnet worden wären und diese Bezeichnung solchen Erlässen vorbehalten worden wäre (etwa 'Durchführungserlaß zum Umsatzsteuergesetz 1972' [DE-USt], AÖF 283/1972, 'Lohnsteuer-Erläuterungen 1971' [LStE 1971], AÖF 137/1971; hingegen 'Durchführungsrichtlinien zur Vorsorge für Pensionen im Bereich der Gewinnermittlung, des Gewerbeertrages und des Einheitswertes des Betriebsvermögens', AÖF 216/1992). Im Lichte des auch den Gesetzgeber bindenden Gleichheitssatzes ist dem Gerichtshof aber vorderhand nicht erkennbar, was es rechtfertigen könnte, den in § 117 BAO vorgesehenen Vertrauensschutz Enunziationen des BM für Finanzen vorzubehalten, die - anscheinend zufällig - in der Vergangenheit als Richtlinien bezeichnet wurden, jenen inhaltlich und formal gleichwertigen Enunziationen, die - anscheinend ebenso zufällig - nicht als Richtlinien bezeichnet wurden, jedoch nach Inhalt und Umfang durchaus vergleichbar sind, vorzuenthalten (vgl. auch Ehrke, Die Bedeutung von Steuererlässen aus innerstaatlicher und aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht, in: Eisenberger u.a. [Hrsg.], Norm und Normvorstellung, FS Funk, Wien [u.a.] 2003, 139, 152).

3.3.2. Nach § 117 BAO kommt Vertrauensschutz nur in Betracht, wenn eine (in höchstgerichtlichen Erkenntnissen oder Richtlinien des BM für Finanzen vertretene) Rechtsauslegung sich später auf Grund eines höchstgerichtlichen Erkenntnisses oder eines Erlasses des BM für Finanzen ändert. Die Bestimmung scheint Vertrauensschutz gegenüber qualifizierten, in höchstgerichtlichen Erkenntnissen oder in Richtlinien des BM für Finanzen zum Ausdruck kommenden Rechtsauslegungen daher nur zu gewähren, wenn diese Rechtsauslegung später geändert wird, und zwar wiederum durch ein höchstgerichtliches Erkenntnis oder einen Erlaß des BM für Finanzen. Das scheint zum einen dazu zu führen, daß das Vertrauen in eine nicht geänderte (d.h. - bisher - nicht als unrichtig erkannte) Rechtsauslegung in geringerem Maße geschützt wird als das Vertrauen in eine als unrichtig erkannte. Zum anderen dürfte diese Einschränkung bewirken, daß Vertrauensschutz nach § 117 BAO nicht zu gewähren ist, wenn die geänderte Rechtsauslegung noch nicht durch ein Höchstgericht oder durch das BM für Finanzen, sondern - zeitlich zuvorkommend - durch die mit dem Gesetzesvollzug betraute Behörde selbst vertreten wird. Sollte die Norm diesen Inhalt haben, so dürfte sie gegen den Gleichheitssatz deswegen verstoßen, (1) weil dann das Vertrauen auf eine bereits als unzutreffend erkannte Rechtsauslegung anscheinend in höherem Maße geschützt wird als das Vertrauen auf eine - jedenfalls bislang - für richtig erachtete Auslegung, (2) weil das Vertrauen auf die bisher vertretene (qualifizierte) Rechtsauslegung anscheinend in einem stärkeren Maße geschützt wird, wenn Höchstgerichte bzw. das BM für Finanzen diese Rechtsauslegung ändern als wenn sich erstinstanzliche Entscheidungen über diese Auslegung hinwegsetzen bzw. (3) weil die Gewährung von Vertrauensschutz dann von dem zufälligen Umstand abhängen dürfte, ob die maßgebende Änderung der Rechtsauslegung vor oder nach Ergehen des Erstbescheides erfolgt (vgl. auch Ehrke/Wisiak, § 117 BAO idF AbgRMRefG: Vertrauen auf Erlässe?, ÖStZ 2002, 541, 545; Ehrke, FS Funk, 149; Huemer, Unzureichender Schutz des Steuerpflichtigen vor Verböserungen durch § 117 BAO?, UFS 2004, 12, 14; Ritz, RdW 2002, 762; sowie bereits Tanzer, Das Verböserungsverbot bei der Wiederaufnahme eines Besteuerungsverfahrens - Überlegungen zu § 307 Abs 2 BAO,GesRZ 1995, 213, 215).

3.3.3. Gleichheitsrechtliche Bedenken erweckt ferner der Umstand, daß der Vertrauensschutz bei Änderungen der Rechtsauslegung durch ein höchstgerichtliches Erkenntnis anscheinend demjenigen Steuerpflichtigen vorenthalten wird, der gerade Anlaß für die Änderung der Rechtsauslegung war: Geschützt dürfte nach § 117 BAO nämlich lediglich das Vertrauen derjenigen sein, die (noch) nicht Gegenstand eines bzw. jenes Verfahrens vor dem Höchstgericht waren, anläßlich dessen es zu einer (verschlechternden) Änderung der Rechtsauslegung kam. Bei diesen Folgefällen wäre anscheinend - anders als im Anlaßfall - Vertrauensschutz zu gewähren, womit die Konsequenz verbunden sein dürfte, daß die Gewährung von Vertrauensschutz von dem zufälligen Umstand abhängt, ob der betreffende Steuerpflichtige Anlaßfall für die Änderung der Rechtsauslegung war oder nicht (vgl. auch Ehrke, FS Funk, 154). Dem Gerichtshof ist jedenfalls vorderhand nicht erkennbar, daß § 117 BAO eine Interpretation zuließe, wonach es zu einer (nachteiligen) Änderung der Rechtsauslegung durch ein höchstgerichtliches Erkenntnis kommen kann und zugleich im Anlaßfall die Wirkung dieser nachteiligen Änderung für den Beschwerdeführer ausgeschlossen werden könnte (vgl. zum Problem der Wirkungen von Rechtsprechungsänderungen für den Anlaßfall F. Bydlinski, Gegen die 'Zeitzündertheorien' bei der Rechtsprechungsänderung nach staatlichem und europäischem Recht, JBl. 2001, 2 ff., 9 f.). Differenziert aber § 117 BAO bei der Gewährung von Vertrauensschutz zwischen dem Anlaßfall einer Änderung der Rechtsauslegung und den Folgefällen, dann dürfte hiefür eine sachliche Rechtfertigung nicht zu finden sein."

6.3. Der Gerichtshof äußerte gegen die in Prüfung gezogene Bestimmung aber auch - und vor allem - (vorläufige) Bedenken unter dem Blickwinkel des Art 18 B-VG, der bundesverfassungsrechtlich vorgegebenen Grundsätze über die Rechtsquellen und ihre Hierarchie sowie im Hinblick auf die den Gerichtshöfen des öffentlichen Rechts aufgetragene (und vorbehaltene) Kontrolle der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und damit letztlich die Gewaltenteilung:

"Berücksichtigt man, daß § 117 BAO im Ergebnis anscheinend dazu führt, daß die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts ebenso wie nachgeordnete Verwaltungsbehörden und der Unabhängige Finanzsenat an als Richtlinien bezeichnete Erlässe des BM für Finanzen - somit an Enunziationen einer Verwaltungsbehörde, denen keine Verordnungsqualität zukommt (vgl. dazu VfSlg. 6928/1972, 8613/1979, 8858/1980, 14.674/1996 u.a.) - pro praeterito gerade dann gebunden sind, wenn die dort vertretene Rechtsauslegung von einem Gerichtshof des öffentlichen Rechts als objektiv gesetzwidrig erkannt wurde, dann dürfte der einfache Gesetzgeber damit einen Rechtsquellentypus geschaffen haben, der von der Verfassung nicht vorgesehen und schon deswegen unzulässig sein dürfte, weil bei ihm anscheinend der verfassungsgesetzlich gebotene Vorrang des Gesetzes verletzt ist (zur - relativen - Geschlossenheit des verfassungsrechtlichen Rechtsquellensystems unter dem Aspekt des Rechtsschutzes und der Bindung an das Gesetz siehe vor allem VfSlg. 9886/1983, ferner 3142/1957, 9226/1981, 13.699/1994; Schäffer, Rechtsquellen und Rechtsanwendung, Gutachten 5. ÖJT I/1/B, Wien 1973, 35 ff.; Adamovich/Funk, Allgemeines Verwaltungsrecht, 3. Aufl., Wien [u.a.] 1987, 237 f.; Antoniolli/Koja, Allgemeines Verwaltungsrecht,

3. Aufl., Wien 1996, 538 f.).

Aus der Sicht der rechtsanwendenden Verwaltungsorgane (einschließlich des Unabhängigen Finanzsenates) führt § 117 BAO nämlich anscheinend dazu, daß sie im Fall einer entsprechenden Änderung der Rechtsauslegung durch ein höchstgerichtliches Erkenntnis nunmehr für die noch offenen Fälle die in der Richtlinie vertretene, von der hiefür zuständigen Rechtsprechung inzwischen als gesetzwidrig erkannte Rechtsauffassung anzuwenden haben, somit verpflichtet sind, eine nicht im Einklang mit dem Gesetz stehende Entscheidung zu treffen. Damit dürfte der einfache Gesetzgeber den verfassungsgesetzlich verankerten Grundsatz der Bindung der Verwaltung an das Gesetz (Art18 B-VG) - anscheinend ohne verfassungsrechtliche Deckung - durchbrochen haben (vgl. bereits Reeger/Stoll, Kommentar zur Bundesabgabenordnung, Wien 1966, 974 f. zu § 307 Abs 2 BAO).

Für die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts hingegen dürfte die durch § 117 BAO verfügte Bindung an Richtlinien des BM für Finanzen im Widerspruch zu den ihnen von der Bundesverfassung eingeräumten Aufgaben stehen: Während etwa der Verwaltungsgerichtshof im Falle einer von ihm für gesetzwidrig erachteten Verordnung deren Aufhebung beim Verfassungsgerichtshof zu beantragen hat, hätte er unter Geltung des § 117 BAO anscheinend einen Bescheid auch dann aufzuheben, wenn er die ihm zugrunde liegende Richtlinie bereits in einem früheren Erkenntnis für gesetzwidrig erachtet hat. Für den Verfassungsgerichtshof scheint sich aus § 117 BAO die Konsequenz zu ergeben, daß er zwar für gesetzwidrig erachtete Verordnungen aufheben und aussprechen kann, daß die Verordnung nicht mehr anwendbar ist, daß er jedoch die Anwendung von Richtlinien, die er für gesetzwidrig erachtet, auf alle vorher verwirklichten und noch nicht entschiedenen Fälle nicht verhindern kann.

Vergleichbare Bedenken erweckt es, wenn § 117 BAO den in höchstgerichtlichen Erkenntnissen vertretenen Rechtsauslegungen (im Ergebnis) Bindungswirkung beilegt. Auch damit dürfte der einfache Gesetzgeber einen in der Verfassung nicht vorgesehenen Rechtsquellentypus geschaffen haben, bei dem der Vorrang des Gesetzes nicht gesichert erscheint, sind doch die Verwaltungsbehörden anscheinend verpflichtet, eine Rechtsauslegung, die inzwischen von den zur Rechtskontrolle berufenen Gerichtshöfen des öffentlichen Rechts als gesetzwidrig erkannt wurde, für die Vergangenheit weiterhin anzuwenden. Ebensowenig dürfte es mit dem B-VG vereinbar sein, im Wege des einfachen Gesetzes Höchstgerichte des öffentlichen Rechts, deren Aufgabe die jeweils rechtsrichtige Entscheidung des Einzelfalles ist, zu zwingen, nach einer Änderung der Rechtsauslegung frühere Fälle unter Bindung an eine inzwischen als unrichtig (gesetzwidrig) erkannte, ihrerseits nur in Entscheidung eines Einzelfalles ergangene Auslegung zu entscheiden.

Unter dem Aspekt des Art 18 B-VG erweckt § 117 BAO Bedenken schließlich auch deswegen, weil die Voraussetzungen für die Gewährung von Vertrauensschutz anscheinend nicht mit jener Bestimmtheit umschrieben sind, die eine verläßliche Rechtsanwendung fordert. Der Gerichtshof bezweifelt nämlich vorläufig, ob es möglich ist, im Einzelfall stets mit hinreichender Bestimmtheit festzustellen, ob dem Verhalten des Abgabepflichtigen oder der Behörde eine Rechtsauslegung eines Erlasses oder eines höchstgerichtlichen Erkenntnisses zugrunde lag bzw. ob eine Änderung einer solchen Rechtsauslegung stattgefunden hat. Sollte dies aber zutreffen, dann könnte anscheinend nicht mit hinreichender Gewißheit entschieden werden, in welchen Fällen die in § 117 BAO angeordnete Bindung letztlich besteht."

7. Beim Verwaltungsgerichtshof sind zu den Zlen. 2004/13/0029, 2004/13/0030 und 2004/13/0041 bis 0043 Beschwerden von Kreditinstituten anhängig, die sich gegen die Heranziehung zur Haftung für Kapitalertragsteuer für jeweils näher bezeichnete Kalendermonate der Jahre 1997 bis 2000 richten: Die Beschwerdeführer (bzw. Rechtsvorgänger der Beschwerdeführer) hatten in den bezeichneten Zeiträumen Nullkuponanleihen verkauft. Bei der Berechnung der Zinsen für Zwecke der Kapitalertragsteuer-Gutschrift hatten sie die sog. lineare Berechnungsmethode angewendet. Die Abgabenbehörden hingegen vertraten die Ansicht, daß eine finanzmathematische Berechnungsmethode gewählt hätte werden müssen.

Aus Anlaß dieser Verfahren stellte der Verwaltungsgerichtshof - unter Bezugnahme auf den erwähnten Prüfungsbeschluß des Verfassungsgerichtshofes vom (Zl. B581/03) - gemäß Art 140 Abs 1 B-VG die Anträge, § 117 BAO idF des Abgaben-Rechtsmittel-Reformgesetzes BGBl. I 97/2002 als verfassungswidrig aufzuheben. Diese Anträge wurden beim Verfassungsgerichtshof zu den Zlen. G143/04 bis G145/04 protokolliert.

8. Beim Verwaltungsgerichthof ist zu Zl. 2003/13/0081 eine weitere Beschwerde gegen den Bescheid des Unabhängigen Finanzsenates, Außenstelle Wien, anhängig, mit dem die Berufung der beschwerdeführenden Partei - einer Apotheken-KG - gegen Bescheide des Finanzamtes abgewiesen wurde, mit welchen die Einkünfte der an der beschwerdeführenden Partei beteiligten Personen gemäß § 188 BAO einheitlich und gesondert festgestellt und die Gewerbesteuer für die beschwerdeführende Partei festgesetzt wurden. Im Verfahren vor dem Verwaltungsgerichtshof erachtet sich die beschwerdeführende Partei u. a. im Recht auf Anwendung des § 117 BAO idF des AbgRmRefG verletzt:

Die (vor dem Verwaltungsgerichtshof) belangte Behörde habe entgegen dieser Bestimmung eine - nach Einreichung der Abgabenerklärungen, denen die beschwerdeführende Partei eine in der (älteren) Rechtsprechung des Verwaltungsgerichthofes und in den ESt-RL 1984 vertretene Rechtsauffassung zugrunde gelegt habe, erfolgte - Änderung der Rechtsauslegung (durch den Verwaltungsgerichtshof) zum Nachteil der beschwerdeführenden Partei berücksichtigt.

Da der Verwaltungsgerichtshof davon ausgeht, daß er bei der Entscheidung dieser Beschwerde die vom Verfassungsgerichtshof in Prüfung gezogene Bestimmung anzuwenden hätte, stellte er ebenfalls unter Bezugnahme auf den bereits mehrfach erwähnten Prüfungsbeschluß des Verfassungsgerichtshofes vom (Zl. B581/03) gemäß Art 140 Abs 1 B-VG einen weiteren Antrag (protokolliert zu Zl. G162/04), § 117 BAO idF des Abgaben-Rechtsmittel-Reformgesetzes BGBl. I 97/2002 als verfassungswidrig aufzuheben.

9. Die jeweils zur Äußerung aufgeforderte Bundesregierung hat beschlossen, von der Erstattung einer meritorischen Äußerung Abstand zu nehmen.

Für den Fall der Aufhebung der in Prüfung gezogenen Bestimmung stellt die Bundesregierung den Antrag, der Verfassungsgerichtshof wolle gemäß Art 140 Abs 5 B-VG für das Außerkrafttreten eine Frist von zwölf Monaten bestimmen, um allenfalls erforderliche legistische Vorkehrungen zu ermöglichen.

10. Der Unabhängige Finanzsenat, Außenstelle Klagenfurt, hat als belangte Behörde im Anlaßverfahren B581/03 eine Äußerung abgegeben, in der er insbesondere auf die in § 271 BAO verfassungsrechtlich garantierte Weisungsfreiheit der Mitglieder des Unabhängigen Finanzsenates hinweist, die durch § 117 BAO beschränkt werde. Der Unabhängige Finanzsenat, Außenstelle Klagenfurt, steht daher "nach wie vor auf dem Standpunkt, dass [er] bei einer derartigen Konstellation, wie sie im vorliegenden Fall auch gegeben ist, zur Anwendung des § 117 BAO nicht verpflichtet war und ist".

11. Die beschwerdeführende Partei im Anlaßverfahren vor dem Verwaltungsgerichtshof (Zl. A2004/0020-1 [2003/13/0081], hg. protokolliert zu Zl. G162/04) hat eine Äußerung erstattet, in der sie zum einen den im Prüfungsbeschluß unter Punkt II.3.3.3. (wiedergegeben oben unter Punkt I.6.2.) (vorläufig) geäußerten Bedenken beitritt, zum anderen den unter Punkt II.3.3.2. (vgl. ebenfalls unter Punkt I.6.2.) im Prüfungsbeschluß (vorläufig) geäußerten Bedenken gegen die Sachlichkeit der in Prüfung gezogenen Regelung entgegentritt. Die Äußerung enthält weiters Ausführungen zur "Notwendigkeit des Vertrauensschutzes gem § 117 BAO" im konkreten Fall.

12. Des weiteren erstattete der Unabhängige Finanzsenat, Außenstelle Wien, als belangte Behörde im Anlaßverfahren vor dem Verwaltungsgerichtshof (ebenfalls Zl. A2004/0020-1 [2003/13/0081], hg. protokolliert zu Zl. G162/04) eine Äußerung, in der er zunächst die Auffassung vertritt, § 117 BAO idF AbgRmRefG sei im vorliegenden Fall insbesondere deswegen nicht anzuwenden, weil die in Rede stehende verwaltungsgerichtliche Judikatur auf Basis einer unterschiedlichen Rechtslage (EStG 1953, 1967 und 1972 einerseits, EStG 1988 andererseits) ergangen sei und von einer "geänderten Rechtsauslegung" iSd § 117 BAO nur bei unveränderter Rechtslage auszugehen sei. Das gelte auch für die Rechtsauslegungen in den ESt-RL 1984 bzw. ESt-RL 2000.

In der Sache teilt der Unabhängige Finanzsenat, Außenstelle Wien, die in der Literatur (Huemer, Unzureichender Schutz des Steuerpflichtigen vor Verböserungen durch § 117 BAO?, UFS 2004, 12 ff.) geäußerten Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit des § 117 BAO idF AbgRmRefG.

II. Der Verfassungsgerichtshof hat die Gesetzesprüfungsverfahren gemäß § 35 Abs 1 VfGG iVm § 187 ZPO zur gemeinsamen Beratung und Entscheidung verbunden und über sie erwogen:

1. Die Gesetzesprüfungsverfahren sind zulässig.

Es haben sich keine Anhaltspunkte ergeben, die gegen die vorläufige Annahme des Verfassungsgerichtshofes über die Zulässigkeit der zu Zl. B581/03 protokollierten Beschwerde und die Präjudizialität der in Prüfung gezogenen Gesetzesbestimmung sprächen. Der Gerichtshof folgt insbesondere nicht der Auffassung der belangten Behörde, sie wäre im Hinblick auf ihre in der Verfassungsbestimmung des § 271 BAO verankerte Weisungsfreiheit zur Anwendung des § 117 BAO nicht verpflichtet gewesen. Selbst wenn § 117 BAO die verfassungsrechtlich angeordnete Weisungsfreiheit des Unabhängigen Finanzsenates in unzulässiger Weise beschränken sollte, änderte dies nichts daran, daß diese Behörde (im übrigen ebenso wie der Verwaltungsgerichtshof oder der Verfassungsgerichtshof selbst) die Vorschrift, solange sie dem Rechtsbestand angehört, anzuwenden hätte.

Es ist auch nichts hervorgekommen, was daran zweifeln ließe, daß der antragstellende Verwaltungsgerichtshof in den bei ihm anhängigen Verfahren Zlen. 2004/13/0029, 2004/13/0030 und 2004/13/0041 bis 0043 (hg. protokolliert zu Zlen. G143/04 bis G145/04) die in Prüfung genommene Gesetzesbestimmung in den bei ihm anhängigen Verfahren anzuwenden hätte.

Im übrigen hat der Verfassungsgerichtshof in auf Antrag von Gerichten eingeleiteten Normprüfungsverfahren in ständiger Rechtsprechung die Auffassung vertreten, daß er nicht berechtigt ist, durch seine Präjudizialitätsentscheidung das antragstellende Gericht an eine bestimmte Rechtsauslegung zu binden, weil er damit indirekt der Entscheidung dieses Gerichts in der Hauptsache vorgreifen würde. Ein Antrag iSd Art 140 B-VG darf daher nur dann wegen mangelnder Präjudizialität zurückgewiesen werden, wenn es offenkundig unrichtig (denkunmöglich) ist, daß die - angefochtene - Gesetzesbestimmung eine Voraussetzung der Entscheidung des antragstellenden Gerichts im Anlaßfall bildet (z.B. VfSlg. 9811/1983, 10.296/1984, 11.565/1987, 12.189/1989, 16.562/2002). Der Verwaltungsgerichtshof geht im Verfahren Zl. 2003/13/0081 (hg. protokolliert zu Zl. G162/04) davon aus, daß bereits die belangte Behörde die Anwendbarkeit des § 117 BAO zu prüfen gehabt hätte. Unter diesem Aspekt ist die Annahme, daß auch er selbst diese Bestimmung anzuwenden hätte, keinesfalls denkunmöglich.

Da auch die übrigen Prozeßvoraussetzungen vorliegen, sind die Gesetzesprüfungsverfahren zulässig.

2. Die Gesetzesprüfungsverfahren haben nichts ergeben, was die vorläufigen Bedenken des Gerichtshofes entkräftet hätte. Die Bundesregierung ist diesen Bedenken nicht entgegengetreten. Der Gerichtshof bleibt daher dabei, daß die in Prüfung gezogene, eine untrennbare Einheit bildende Vorschrift gegen das dem B-VG zugrunde liegende rechtsstaatliche Prinzip verstößt: § 117 BAO schützt nicht (bloß) das Vertrauen in die Bestandskraft eines (allenfalls objektiv rechtswidrigen) individuellen Verwaltungsaktes, sondern legt im Ergebnis ministeriellen Enunziationen, die nicht die Form der Verordnung aufweisen, und im Einzelfall ergehenden Erkenntnissen von Höchstgerichten den Rang verbindlicher genereller Normen bei und schafft damit Rechtsquellentypen, die in der Bundesverfassung nicht vorgesehen sind. Die Vorschrift durchbricht ferner die in Art 18 B-VG angeordnete Bindung der Verwaltung an das Gesetz, ohne daß hiefür eine verfassungsgesetzliche Deckung vorhanden wäre. Sie ist schließlich aus den im Prüfungsbeschluß näher ausgeführten Gründen mit den von der Bundesverfassung den Gerichtshöfen öffentlichen Rechts übertragenen Aufgaben nicht vereinbar.

Den Gesetzesmaterialien zufolge soll die Regelung das Vertrauen der Partei in eine bestimmte Rechtsauslegung schützen und dadurch der Rechtssicherheit dienen. Nun ist es in der Tat - wie der Gerichtshof schon im Prüfungsbeschluß festgehalten hat - Aufgabe des einfachen Gesetzgebers, einen im Verfahren allenfalls auftretenden Konflikt zwischen den Prinzipien der Rechtsrichtigkeit (Gesetzmäßigkeit) und der Rechtssicherheit oder Rechtsbeständigkeit zu lösen. Der Gesetzgeber hält sich dabei aber nicht mehr im Rahmen des Rechtsquellenkataloges der geltenden Verfassung, wenn er zu diesem Zweck in Erlässen des BM für Finanzen oder in Erkenntnissen eines Gerichtshofes des öffentlichen Rechts vertretene Rechtsauslegungen als solche für generell verbindlich erklärt.

Da sich somit bereits die im Prüfungsbeschluß vorläufig geäußerten zentralen rechtsstaatlichen Bedenken des Gerichtshofs bestätigt haben, war die Vorschrift schon aus diesem Grund aufzuheben, ohne daß auf die weiteren Bedenken eingegangen werden müßte.

Der Ausspruch, daß die aufgehobene Vorschrift nicht mehr anwendbar ist, beruht auf Art 140 Abs 7 B-VG. Im Hinblick auf die rechtsstaatlichen Einwände, die gegen die aufgehobene Vorschrift bestehen, sah der Gerichtshof sich nicht veranlaßt, dem Antrag der Bundesregierung auf Fristsetzung zu entsprechen. Eine gleichmäßige, dem Legalitätsprinzip entsprechende Rechtsanwendung scheint vielmehr nur dann gewährleistet zu sein, wenn die Vorschrift auch in offenen Fällen nicht mehr anwendbar ist.

Der Ausspruch, daß frühere gesetzliche Bestimmungen nicht wieder in Kraft treten, beruht auf Art 140 Abs 6 erster Satz B-VG.

Die Verpflichtung des Bundeskanzlers zur unverzüglichen Kundmachung der Aufhebung und der damit im Zusammenhang stehenden sonstigen Aussprüche erfließt aus Art 140 Abs 5 erster Satz B-VG und § 64 Abs 2 VfGG iVm § 3 Z 3 BGBlG.

Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.