VfGH vom 06.03.2018, G85/2017
Leitsatz
Zurück- bzw Abweisung eines Parteiantrags auf Aufhebung von Bestimmungen des StGB betreffend die alljährliche Prüfung der Notwendigkeit der Aufrechterhaltung der Unterbringung im Maßnahmenvollzug; bedingte Entlassung unter Bestimmung einer Probezeit im politischen Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers
Spruch
I.Der Hauptantrag, § 25 Abs 1 zweiter Satz und Abs 3 StGB, die Wortfolge "nur unter Bestimmung einer Probezeit bedingt" in § 47 Abs 1 StGB sowie Abs 2 des § 47 StGB als verfassungswidrig aufzuheben, wird zurückgewiesen.
II.Der erste Eventualantrag wird, insoweit er sich auf § 25 StGB und § 47 StGB bezieht, abgewiesen, im Übrigen zurückgewiesen.
Begründung
Entscheidungsgründe
I. Antrag
1. Der Antragsteller ist seit im Vollzug der vorbeugenden Maßnahme gemäß § 21 Abs 2 StGB. Die Strafhaft war – laut Vorbringen – bereits am verbüßt. Er beantragt, nach abgelehnter Entlassung durch das zuständige Gericht, gemäß Art 140 Abs 1 Z 1 litd B-VG in seinem Hauptantrag die Aufhebung des § 25 Abs 1 zweiter Satz und Abs 3 StGB, die Wortfolge "nur unter Bestimmung einer Probezeit bedingt" in § 47 Abs 1 sowie den Abs 2 des § 47 StGB als verfassungswidrig aufzuheben.
II. Rechtslage
Die maßgeblichen Bestimmungen des StGB lauten (die mit dem Hauptantrag angefochtenen Gesetzesbestimmungen sind hervorgehoben):
"Dauer der mit Freiheitsentziehung verbundenen vorbeugenden Maßnahmen
§25. (1) Vorbeugende Maßnahmen sind auf unbestimmte Zeit anzuordnen. Sie sind so lange zu vollziehen, wie es ihr Zweck erfordert. Die Unterbringung in einer Anstalt für entwöhnungsbedürftige Rechtsbrecher darf jedoch nicht länger als zwei Jahre dauern, die Unterbringung in einer Anstalt für gefährliche Rückfallstäter nicht länger als zehn Jahre.
(2) Über die Aufhebung der vorbeugenden Maßnahme entscheidet das Gericht.
(3) Ob die Unterbringung in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher oder in einer Anstalt für gefährliche Rückfallstäter noch notwendig ist, hat das Gericht von Amts wegen mindestens alljährlich zu prüfen.
(4) Ob die Unterbringung in einer Anstalt für entwöhnungsbedürftige Rechtsbrecher aufrechtzuerhalten ist, hat das Gericht von Amts wegen mindestens alle sechs Monate zu prüfen.
[…]
Entlassung aus einer mit Freiheitsentziehung
verbundenen vorbeugenden Maßnahme
§47. (1) Aus einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher sind die Eingewiesenen stets nur unter Bestimmung einer Probezeit bedingt zu entlassen. Aus einer Anstalt für entwöhnungsbedürftige Rechtsbrecher und aus einer Anstalt für gefährliche Rückfallstäter sind die Eingewiesenen unbedingt zu entlassen, wenn die Anhaltezeit (§25 Abs 1) abgelaufen ist oder im Fall der Anhaltung in einer Anstalt für entwöhnungsbedürftige Rechtsbrecher eine Fortsetzung oder Ergänzung der Entwöhnungsbehandlung keinen Erfolg verspräche, sonst unter Bestimmung einer Probezeit nur bedingt.
(2) Die bedingte Entlassung aus einer mit Freiheitsentziehung verbundenen vorbeugenden Maßnahme ist zu verfügen, wenn nach der Aufführung und der Entwicklung des Angehaltenen in der Anstalt, nach seiner Person, seinem Gesundheitszustand, seinem Vorleben und nach seinen Aussichten auf ein redliches Fortkommen anzunehmen ist, daß die Gefährlichkeit, gegen die sich die vorbeugende Maßnahme richtet, nicht mehr besteht.
(3) Wird der Rechtsbrecher aus einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher oder aus einer Anstalt für entwöhnungsbedürftige Rechtsbrecher vor Ablauf der Strafzeit bedingt oder unbedingt entlassen, so ist nach § 24 Abs 1 letzter Satz vorzugehen.
(4) Die Entscheidung, daß die Überstellung des Rechtsbrechers in die Anstalt für gefährliche Rückfallstäter nicht mehr notwendig ist (§24 Abs 2), steht einer bedingten Entlassung aus der Anstalt für gefährliche Rückfallstäter gleich."
2. Mit einem Eventualantrag begehrt der Antragsteller – neben der Aufhebung der §§25 und 47 StGB zur Gänze – die Aufhebung des § 21 StGB zur Gänze als auch die Aufhebung des gesamten Vierten Teiles des Strafvollzugsgesetzes (§§157 bis 178a), der den Vollzug der mit Freiheitsentziehung verbundenen vorbeugenden Maßnahmen regelt.
§21 StGB lautet:
"Unterbringung in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher
§21. (1) Begeht jemand eine Tat, die mit einer ein Jahr übersteigenden Freiheitsstrafe bedroht ist, und kann er nur deshalb nicht bestraft werden, weil er sie unter dem Einfluß eines die Zurechnungsfähigkeit ausschließenden Zustandes (§11) begangen hat, der auf einer geistigen oder seelischen Abartigkeit von höherem Grad beruht, so hat ihn das Gericht in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher einzuweisen, wenn nach seiner Person, nach seinem Zustand und nach der Art der Tat zu befürchten ist, daß er sonst unter dem Einfluß seiner geistigen oder seelischen Abartigkeit eine mit Strafe bedrohte Handlung mit schweren Folgen begehen werde.
(2) Liegt eine solche Befürchtung vor, so ist in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher auch einzuweisen, wer, ohne zurechnungsunfähig zu sein, unter dem Einfluß seiner geistigen oder seelischen Abartigkeit von höherem Grad eine Tat begeht, die mit einer ein Jahr übersteigenden Freiheitsstrafe bedroht ist. In einem solchen Fall ist die Unterbringung zugleich mit dem Ausspruch über die Strafe anzuordnen.
(3) Als Anlasstaten im Sinne der Abs 1 und 2 kommen mit Strafe bedrohte Handlungen gegen fremdes Vermögen nicht in Betracht, es sei denn, sie wurden unter Anwendung von Gewalt gegen eine Person oder unter Drohung mit einer gegenwärtigen Gefahr für Leib oder Leben (§89) begangen."
Der angefochtene Teil des StVG lautet auszugsweise:
"Vierter Teil
Vollzug der mit Freiheitsentziehung verbundenen vorbeugenden Maßnahmen
Erster Abschnitt
Anordnung des Vollzuges der mit Freiheitsentziehung verbundenen vorbeugenden Maßnahmen
§157. (1) Für die Anordnung des Vollzuges der mit Freiheitsentziehung verbundenen vorbeugenden Maßnahmen gelten die §§3 bis 5 und 7 dem Sinne nach, soweit im folgenden nichts anderes bestimmt wird.
(2) Ist der Vollzug einer mit Freiheitsentziehung verbundenen vorbeugenden Maßnahme drei Jahre, nachdem die Maßnahme vollstreckbar geworden ist, noch nicht eingeleitet worden, so darf die Maßnahme nur vollzogen werden, wenn festgestellt wird, daß die Gefährlichkeit, gegen die sich die Maßnahme richtet, noch besteht. Die Entscheidung, daß die Gefährlichkeit nicht mehr besteht, steht einer bedingten Entlassung aus der betreffenden Maßnahme gleich.
(3) Für die Entscheidung nach Abs 2 gilt § 7 dem Sinne nach.
Zweiter Abschnitt
Einrichtung und Behörden des Vollzuges der mit Freiheitsentziehung
verbundenen vorbeugenden Maßnahmen
Anstalten für geistig abnorme Rechtsbrecher
§158. (1) Die Unterbringung geistig abnormer Rechtsbrecher ist in den dafür besonders bestimmten Anstalten oder in den dafür besonders bestimmten Außenstellen der Anstalten zum Vollzug von Freiheitsstrafen zu vollziehen, soweit in diesem Bundesgesetz nichts anderes bestimmt wird. § 8 Abs 4 gilt dem Sinne nach.
(2) In den Anstalten für geistig abnorme Rechtsbrecher darf auch der Strafvollzug an Strafgefangenen durchgeführt werden, die wegen ihres psychischen Zustandes in anderen Vollzugsanstalten nicht sachgemäß behandelt werden können oder die sich wegen psychischer Besonderheiten nicht für den allgemeinen Vollzug eignen. Dies gilt für den Vollzug der Unterbringung in einer Anstalt für entwöhnungsbedürftige Rechtsbrecher und für den Vollzug der Unterbringung in einer Anstalt für gefährliche Rückfallstäter dem Sinne nach.
[…]
(5) Die Unterbringung nach § 21 Abs 2 des Strafgesetzbuches darf auch in besonderen Abteilungen der Anstalten zum Vollzug von Freiheitsstrafen vollzogen werden.
[…]
Dritter Abschnitt
Unterbringung in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher
Zwecke der Unterbringung
§164. (1) Die Unterbringung in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher soll die Untergebrachten davon abhalten, unter dem Einfluß ihrer geistigen oder seelischen Abartigkeit mit Strafe bedrohte Handlungen zu begehen. Die Unterbringung soll den Zustand der Untergebrachten soweit bessern, daß von ihnen die Begehung mit Strafe bedrohter Handlungen nicht mehr zu erwarten ist, und den Untergebrachten zu einer rechtschaffenen und den Erfordernissen des Gemeinschaftslebens angepaßten Lebenseinstellung verhelfen.
(2) Soweit die Zeit der Anhaltung auf die zugleich mit ihrer Anordnung ausgesprochene Strafe anzurechnen ist (§24 Abs 1 des Strafgesetzbuches), soll der Vollzug auch den Unwert des der Verurteilung zugrunde liegenden Verhaltens aufzeigen.
[…]
Unterbringung nach § 21 Abs 2 des Strafgesetzbuches
§166. Für den Vollzug der Unterbringung nach § 21 Abs 2 des Strafgesetzbuches gelten folgende besondere Bestimmungen:
1. Die Untergebrachten sind zur Erreichung der Vollzugszwecke (§164) entsprechend ihrem Zustand ärztlich, insbesondere psychiatrisch, psychotherapeutisch, psychohygienisch und erzieherisch zu betreuen. Soweit danach Abweichungen von den Bestimmungen über den Vollzug der Unterbringung (§167) erforderlich sind, hat der Anstaltsleiter diese Abweichungen im Rahmen des § 165 Abs 1 Z 1 und 2 anzuordnen.
[…]"
III. Anlassverfahren, Antragsvorbringen, Vorverfahren
1. Mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom , Z 143 Hv 108/12y, wurde der Antragsteller wegen des Verbrechens der (teils versuchten) Brandstiftung nach §§169 Abs 1, 15 StGB sowie des Vergehens der Sachbeschädigung nach § 125 StGB zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von 18 Monaten verurteilt; gleichzeitig wurde er gemäß § 21 Abs 2 StGB in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher eingewiesen. Die verhängte Freiheitsstrafe war bereits am vollzogen. Derzeit ist der Antragsteller im Maßnahmenvollzug in der Justizanstalt Mittersteig.
Am sowie am beantragte der Antragsteller die bedingte Entlassung aus der Maßnahme. Die Abweisung dieser Anträge seitens des Landesgerichtes für Strafsachen Wien als Vollzugsgericht wurde zufolge Beschlusses des Oberlandesgerichtes Wien vom rechtskräftig. Mit Beschluss vom stellte das Landesgericht für Strafsachen Wien erneut fest, dass die – weitere – Unterbringung des Antragstellers in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher gemäß § 21 Abs 2 StGB notwendig sei, und wies, gestützt auf § 47 Abs 1 und 2 StGB, dessen Antrag auf bedingte Entlassung abermals ab. Der Antragsteller erhob gegen diesen Beschluss Beschwerde an das Oberlandesgericht Wien, das den Beschluss des Vollzugsgerichtes aufhob und ihm die neuerliche Entscheidung auftrug. Mit Beschluss vom wies das Erstgericht den Antrag auf bedingte Entlassung aus der Maßnahme erneut ab.
2. Der Antragsteller behauptet – auf das Wesentliche zusammengefasst – in erster Linie die Verfassungswidrigkeit der Anhaltung mit der Begründung, dass die in § 25 Abs 3 StGB vorgesehene mindestens alljährliche Überprüfung nicht zeitgerecht erfolgt sei, weil zwischen den Gerichtsbeschlüssen und der Rechtskraft der davor ergangenen Überprüfungsentscheidungen mehr als 30 Monate verstrichen seien. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte dränge – zwar ohne eine Konkretisierung der Zeitspanne vorzunehmen – auch bei Einleitung des Verfahrens innerhalb der Jahresfrist auf eine rasche Entscheidung. Eine Überschreitung der Frist von ein bis zwei Monaten sei noch als verhältnismäßig anzusehen; eine weitere Überschreitung führe aber jedenfalls, wegen der Rechtswidrigkeit der Anhaltung, zur sofortigen Entlassung.
3. Die Bundesregierung erstattete eine Äußerung, in der sie primär die Zurückweisung des Antrages begehrt, jedoch auch den Bedenken mit näherer Begründung entgegentritt. Der Antragsteller replizierte.
IV. Erwägungen
1. Zur Zulässigkeit des Antrages
1.1.Gemäß Art 140 Abs 1 Z 1 litd B-VG erkennt der Verfassungsgerichtshof über die Verfassungswidrigkeit von Gesetzen auch auf Antrag einer Person, die als Partei einer von einem ordentlichen Gericht in erster Instanz entschiedenen Rechtssache wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes in ihren Rechten verletzt zu sein behauptet, aus Anlass eines gegen diese Entscheidung erhobenen Rechtsmittels. Nach § 62a Abs 1 erster Satz VfGG kann eine Person, die als Partei in einer von einem ordentlichen Gericht in erster Instanz entschiedenen Rechtssache wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes in ihren Rechten verletzt zu sein behauptet, einen Antrag stellen, das Gesetz als verfassungswidrig aufzuheben.
1.2.Der vorliegende Antrag wurde aus Anlass der Beschwerde an das Oberlandesgericht Wien gegen den Beschluss des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom gestellt. Mit diesem Beschluss wurde die Rechtssache in erster Instanz durch ein ordentliches Gericht entschieden (Art140 Abs 1 Z 1 litd B-VG).
Der Antragsteller ist Partei des Verfahrens vor dem ordentlichen Gericht und hat den Antrag und das Rechtsmittel gegen den Beschluss am selben Tag, nämlich am , erhoben und eingebracht (VfSlg 20.074/2016).
1.3.Ein auf Art 140 Abs 1 Z 1 litd B-VG gestützter Antrag auf Aufhebung eines Gesetzes oder von bestimmten Stellen eines solchen kann gemäß § 62 Abs 2 VfGG nur dann gestellt werden, wenn das Gesetz vom Gericht in der anhängigen Rechtssache unmittelbar anzuwenden bzw. die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes eine Vorfrage für die Entscheidung der beim Gericht anhängigen Rechtssache ist oder nach Ansicht des Antragstellers wäre. Eine Antragstellung gemäß Art 140 Abs 1 Z 1 litd B-VG setzt daher voraus, dass die angefochtene Bestimmung eine Voraussetzung der Entscheidung des ordentlichen Gerichtes im Anlassfall bildet (vgl. VfSlg 20.029/2015, 20.010/2015).
1.4.Die Grenzen der Aufhebung einer auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu prüfenden Gesetzesbestimmung sind, wie der Verfassungsgerichtshof sowohl für von Amts wegen als auch für auf Antrag eingeleitete Gesetzesprüfungsverfahren schon wiederholt dargelegt hat (VfSlg 19.832/2013, 19.892/2014; ), notwendig so zu ziehen, dass einerseits der verbleibende Gesetzesteil nicht einen völlig veränderten Inhalt bekommt und dass andererseits die mit der aufzuhebenden Gesetzesstelle untrennbar zusammenhängenden Bestimmungen auch erfasst werden.
Dieser Grundposition folgend hat der Verfassungsgerichtshof die Rechtsauffassung entwickelt, dass im Gesetzesprüfungsverfahren der Anfechtungsumfang der in Prüfung gezogenen Norm bei sonstiger Unzulässigkeit des Prüfungsantrages nicht zu eng gewählt werden darf (vgl. VfSlg 16.212/2001, 16.365/2001, 18.142/2007, 19.496/2011; ). Der Antragsteller hat all jene Normen anzufechten, welche für die Beurteilung der allfälligen Verfassungswidrigkeit der Rechtslage eine untrennbare Einheit bilden. Es ist dann Sache des Verfassungsgerichtshofes, darüber zu befinden, auf welche Weise eine solche Verfassungswidrigkeit – sollte der Verfassungsgerichtshof die Auffassung des Antragstellers teilen – beseitigt werden kann (VfSlg 16.756/2002, 19.496/2011, 19.684/2012, 19.903/2014; ).
1.5.Mit dem Hauptantrag begehrt der Antragsteller, "§25 Absatz 1 zweiter Satz und Absatz 3 Strafgesetzbuch (StGB), die Wortfolge 'nur unter Bestimmung einer Probezeit bedingt' in § 47 Absatz 1 Strafgesetzbuch (StGB) sowie den Absatz 2 des § 47 StGB, jeweils BGBl 60/1974", als verfassungswidrig aufzuheben.
1.6.Dieser Antrag erweist sich unter Bedachtnahme auf die vorhin dargestellte Rechtssprechung jedenfalls als zu eng, da er übersieht, dass die in § 25 StGB enthaltenen Regelungen in einem derartigen Zusammenhang stehen, dass die im Antrag behauptete Verfassungswidrigkeit nur bei einer gesamthaften Betrachtung dieser Bestimmung beurteilt werden kann. Dies gilt sinngemäß auch für das in § 47 StGB geregelte Verfahren betreffend die Entlassung aus einer mit Freiheitsentziehung verbundenen vorbeugenden Maßnahme.
Daraus folgt aber auch, dass der unter Pkt. B. im Antrag dargestellte erste Eventualantrag (siehe auch Pkt. II.2.), insoweit er begehrt, § 25 StGB und § 47 StGB zur Gänze aufzuheben, zulässig ist. Hingegen ist dieser Antrag, soweit er § 21 StGB und §§157 bis 178a StVG mitanficht, unzulässig: § 21 StGB wurde im Ausgangsverfahren nicht angewendet, weil es in diesem Verfahren um die Überprüfung der Notwendigkeit einer weiteren Unterbringung bzw. der Prüfung der bedingten Entlassung aus dem Maßnahmenvollzug ging; § 21 Abs 1 StGB ist daher nicht präjudiziell (vgl. ). Er steht aber auch – entgegen der offenbaren Annahme des Antragstellers – nicht in dem für die Mitanfechtung erforderlichen Zusammenhang. Gleiches gilt für §§157 bis 178a StVG. Der (Eventual-)Antrag ist daher insoweit zurückzuweisen.
2. In der Sache
2.1. Der Verfassungsgerichtshof hat sich in einem auf Antrag eingeleiteten Verfahren zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes gemäß Art 140 B-VG auf die Erörterung der geltend gemachten Bedenken zu beschränken (vgl. VfSlg 12.691/1991, 13.471/1993, 14.895/1997, 16.824/2003). Er hat sohin ausschließlich zu beurteilen, ob die angefochtene Bestimmung aus den in der Begründung des Antrages dargelegten Gründen verfassungswidrig ist (VfSlg 15.193/1998, 16.374/2001, 16.538/2002, 16.929/2003).
2.2. Zu § 25 StGB und § 47 StGB:
2.2.1. Der Antragsteller behauptet die Verletzung des Art 5 EMRK durch die genannten Regelungen, weil diese "es – wie das OLG-Wien im Falle des A[ntragstellers] ausdrücklich ausgesprochen hat (Beschluss , 21 Bs 50/16f, BS 2) – nicht ermöglichen, den A[ntragsteller], wie grundrechtlich geboten […] aus der vorbeugenden Maßnahme zu entlassen (siehe OLG-Wien , 32 Bs 350/15b: selbst bei über 2-jähriger(!) Dauer des Überprüfungsverfahrens nur Feststellung der Rechtswidrigkeit aber keine Entlassung!)".
Es liege – so der Antragsteller – in der alleinigen Verantwortung des Staates und seiner inneren Organisation, dass das Überprüfungsverfahren erst ein Monat vor Ende der Jahresfrist des § 25 Abs 3 StGB eingeleitet worden sei. Aber auch bei Einleitung des Überprüfungsverfahrens innerhalb der Jahresfrist müsse – bedenke man, dass die ausschließlich sichernden Zwecken dienende, potentiell lebenslängliche Anhaltung in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher einen schwerwiegenden Eingriff in das Grundrecht auf Freiheit (Art5 EMRK) darstelle – über die Notwendigkeit der (weiteren) Unterbringung im Lichte der Judikatur des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte innerhalb der Jahresfrist rasch ("speedily") rechtskräftig entschieden werden. Die angefochtenen Normen würden eben dies verhindern.
2.2.2. Die Bundesregierung tritt den Bedenken des Antragstellers entgegen, indem sie ausführt, dass das in § 25 Abs 3 StGB geregelte Überprüfungsverfahren sowie die Möglichkeit, jederzeit die bedingte Entlassung zu beantragen, jedenfalls probate Mittel zur Überprüfung der weiteren Notwendigkeit der Unterbringung darstellten. Dem Vorbringen des Antragstellers, dass das Überprüfungsverfahren im Hinblick auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte zu lange gedauert habe, hält sie entgegen, dass es bloße Vollzugsfehler geltend mache. Auch könne eine lange Verfahrensdauer nicht zur Unzulässigkeit des Freiheitsentzuges führen, weshalb eine Entscheidung über die Notwendigkeit einer weiteren Unterbringung, die nicht ehetunlich iSd Art 5 Abs 4 EMRK erfolge, von Verfassungs wegen nicht automatisch zur Freilassung führen müsse.
2.2.3. Mit seinem Vorbringen ist der Antragsteller nicht im Recht:
Vorerst übersieht er, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im bezogenen Fall Kuttner (EGMR , Appl. 7997/08) und zuletzt erneut im Fall Lorenz (EGMR , Appl. 11.537/11) keine systemischen Mängel in der österreichischen Rechtslage erkannt hat. Auch der Verfassungsgerichtshof kann nicht finden, dass die in § 25 Abs 3 StGB vom Gesetzgeber getroffene Anordnung, amtswegig mindestens alljährlich die Frage, ob die Unterbringung in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher noch notwendig ist, zu prüfen, verfassungswidrig wäre.
Auch wenn in Einzelfällen – wie etwa die Fälle Kuttner und Lorenz belegen – die gesetzlich vorgegebene Frist zur Prüfung und die damit zur Vorbereitung der Entscheidung verbundene Aufbereitung der Unterlagen samt der darauf folgenden Entscheidung über die Notwendigkeit einer weiteren Unterbringung überschritten wird, oder selbst dann, wenn die Jahresfrist regelmäßig überschritten werden würde, ist dies nicht der Norm, sondern dem Vollzug im jeweiligen Einzelfall anzulasten. Die Bestimmung des § 25 Abs 3 StGB ermöglicht nämlich zweifelsfrei einen verfassungskonformen Vollzug.
Mit Blick auf die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu Art 5 EMRK entwickelten Maßstäbe sind die zuständigen Gerichte in diesem Sinne nämlich gehalten, "rasch ('speedily')" (EGMR , Fall Kuttner, Appl. 7997/08) über die Notwendigkeit einer (weiteren) Unterbringung in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher zu entscheiden. Dass man sich nicht damit begnügen darf, – ungeachtet des jeweiligen Einzelfalles – Abs 3 des § 25 StGB so zu interpretieren, dass es stets hinreicht, bloß ein Verfahren zur Überprüfung der Notwendigkeit der weiteren Unterbringung innerhalb der Jahresfrist einzuleiten, nicht aber in der Folge rasch ("speedily") über die Notwendigkeit der weiteren Unterbringung auch zu entscheiden, ergibt sich zwingend aus der jüngeren Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR , Fall Kuttner, Appl. 7997/08; , Fall Lorenz, Appl. 11.537/11).
Damit ist aber die pauschale Betrachtung der die Norm vollziehenden Gerichte, Abs 3 des § 25 StGB gebiete es bloß, innerhalb der Jahresfrist das Verfahren zur Überprüfung der Erforderlichkeit einer (weiteren) Unterbringung einzuleiten (vgl. ), in dieser Form nicht mehr aufrechtzuerhalten.
§25 Abs 3 StGB erweckt keine – wie im Antrag geltend gemacht – verfassungsrechtlichen Bedenken.
2.2.4. Auch das Vorbringen, dass § 47 StGB, der die Gerichte verpflichtet, den Eingewiesenen stets nur unter Bestimmung einer Probezeit aus dem Maßnahmenvollzug bedingt zu entlassen, bzw. § 47 Abs 2 StGB, der die Kriterien für eine solche bedingte Entlassung festlegt, würde die verfassungsrechtlich gebotene sofortige Entlassung des Eingewiesenen bei Fristüberschreitung verhindern und sei daher verfassungswidrig, trifft nicht zu:
Vorerst wird in Erinnerung gerufen, dass dem Gesetzgeber bei der Regelung von Rechtsbereichen ein rechtspolitischer Gestaltungsspielraum zukommt. Es ist ihm innerhalb des Sachlichkeitsgebotes von Verfassungs wegen durch den Gleichheitsgrundsatz nicht verwehrt, seine politischen Zielvorstellungen auf die ihm geeignet erscheinende Art zu verfolgen (s. etwa VfSlg 16.176/2001, 16.504/2002). Ob eine Regelung zweckmäßig ist und das Ergebnis in allen Fällen als befriedigend empfunden wird, kann nicht mit dem Maß des Gleichheitsgrundsatzes gemessen werden (zB VfSlg 14.301/1995, 15.980/2000 und 16.814/2003).
Den ihm zukommenden Gestaltungsspielraum hat der Gesetzgeber auch hier in unbedenklicher Weise in Anspruch genommen.
Wenn er die Anordnung der Entlassung aus einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher stets nur unter Bestimmung einer Probezeit gemäß § 47 Abs 1 StGB erlaubt und nur unter der Annahme, dass die Gefährlichkeit, gegen die sich die vorbeugende Maßnahme richtet, nicht mehr besteht, ist ihm aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht entgegenzutreten. Er verfolgt damit in verfassungsrechtlich zulässiger Weise das Ziel, die Begehung weiterer Straftaten des Betroffenen möglichst hintanzuhalten, und generell den Schutz der Allgemeinheit vor "gefährlichen Personen". Eine Verletzung des Art 5 EMRK liegt auch in dieser Hinsicht nicht vor.
Der Antrag ist daher auch diesbezüglich abzuweisen.
V. Ergebnis
1. Die ob der Verfassungsmäßigkeit der – zulässigerweise angefochtenen – §§25 und 47 StGB erhobenen Bedenken treffen nicht zu. Der erste Eventualantrag ist daher insoweit abzuweisen, im Übrigen – in Bezug auf § 21 StGB und §§157 bis 178a StVG – ist er ebenso wie der Hauptantrag zurückzuweisen.
2. Die Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nicht öffentlicher Sitzung getroffen werden.
3. Kosten sind nicht zuzusprechen, weil es im Falle eines Antrages gemäß Art 140 Abs 1 Z 1 litd B-VG Sache des zuständigen ordentlichen Gerichtes ist, über allfällige Kostenersatzansprüche nach den für sein Verfahren geltenden Vorschriften zu erkennen (zB VfSlg 20.102/2016 und 20.112/2016).
Zusatzinformationen
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ECLI: | ECLI:AT:VFGH:2018:G85.2017 |
Schlagworte: | Strafrecht, Strafvollzug, Entlassung, EU-Recht, VfGH / Parteiantrag, VfGH / Prüfungsumfang |
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