VfGH vom 04.10.2000, g71/00

VfGH vom 04.10.2000, g71/00

Sammlungsnummer

15961

Leitsatz

Keine sachliche Rechtfertigung für den Ausschluß männlicher Personen vom Empfang der Teilzeitbeihilfe

Spruch

Das Wort "weiblichen" in § 102 Abs 5 des Bundesgesetzes vom über die Sozialversicherung der in der gewerblichen Wirtschaft selbständig Erwerbstätigen (Gewerbliches Sozialversicherungsgesetz - GSVG) idF des Art 8 Abschnitt I Z 57 des Arbeits- und Sozialrechts-Änderungsgesetzes (ASRÄG) 1997, BGBl. I Nr. 139/1997 (22. Novelle zum GSVG) war bis zum Inkrafttreten des § 102 Abs 5 GSVG,

Artikel 8 Abschnitt II Z 6 des Arbeits- und Sozialrechts-Änderungsgesetzes (ASRÄG) 1997, BGBl. I Nr. 139/1997 (22. Novelle zum GSVG) am , § 274 GSVG idF des Art 8 Abschnitt II Z 7 Arbeits- und Sozialrechts-Änderungsgesetzes (ASRÄG) 1997, BGBl. I Nr. 139/1997 (22. Novelle zum GSVG) verfassungswidrig.

Das Wort "Mutter" in § 102 b Abs 1 GSVG idF des Art 8 I Z 58 des Arbeits- und Sozialrechts-Änderungsgesetzes (ASRÄG) 1997, BGBl. I Nr. 139/1997 (22. Novelle zum GSVG) wird als verfassungswidrig aufgehoben.

Die Aufhebung tritt mit Ablauf des in Kraft.

Frühere gesetzliche Bestimmungen treten nicht wieder in Wirksamkeit.

Der Bundeskanzler ist zur unverzüglichen Kundmachung dieser Aussprüche im Bundesgesetzblatt I verpflichtet.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I 1. § 102 Abs 5 des Bundesgesetzes vom über die Sozialversicherung der in der gewerblichen Wirtschaft selbständig Erwerbstätigen (Gewerbliches Sozialversicherungsgesetz - GSVG) idF des Art 8 Abschnitt I Z 57 des Arbeits- und Sozialrechts-Änderungsgesetzes (ASRÄG) 1997, BGBl. I Nr. 139/1997 (22. Novelle zum GSVG) lautete bis zur Novelle, BGBl. I Nr. 139/1997 (22. Novelle zum GSVG), Artikel 8 Abschnitt II Z 6 des Arbeits- und Sozialrechts-Änderungsgesetzes (ASRÄG) 1997, die gemäß Art 8 Abschnitt II Z 7 (§274 GSVG) am in Kraft trat, folgendermaßen:

"(5) Betriebshilfe bzw. Wochengeld (§102a) und Teilzeitbeihilfe (§102b) gebühren weiblichen Personen, die


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1.
auf Grund einer Erwerbstätigkeit nach diesem Bundesgesetz in der Krankenversicherung pflichtversichert sind oder
2.
von der Krankenversicherung nach § 4 Abs 2 Z 3 ausgenommen sind und für die kein Anspruch auf Wochengeld nach einem anderen Bundesgesetz besteht."


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2. §102b GSVG, idF idF des Art 8 I Z 58 des Arbeits- und Sozialrechts-Änderungsgesetzes (ASRÄG) 1997, BGBl. I Nr. 139/1997 (22. Novelle zum GSVG) lautet:

"Teilzeitbeihilfe

§102b. (1) Den Anspruchsberechtigten nach § 102 Abs 5 gebührt Teilzeitbeihilfe, solange die Mutter mit ihrem neugeborenen Kind in Hausgemeinschaft lebt und das Kind überwiegend selbst pflegt bzw. solange sich das Kind in einer Krankenanstalt in Pflege befindet.

(2) Für den Anspruch nach Abs 1 steht der Geburt eines Kindes die Annahme eines Wahlkindes oder die Übernahme in unentgeltliche Pflege gleich, sofern die Übernahme in Pflege in der Absicht erfolgt, das Kind als Wahlkind anzunehmen.

(3) Teilzeitbeihilfe nach Abs 1 gebührt im Anschluß an die Leistung nach § 102a, frühestens jedoch ab dem Tag, an dem das Kind in unentgeltliche Pflege genommen wird, bis zur Vollendung des 18. Lebensmonates des Kindes.

(4) Die Teilzeitbeihilfe nach Abs 1 beträgt 92 S täglich. Mit 1. Jänner eines jeden Jahres, erstmals mit , ist der Betrag vom 92 S mit dem jeweiligen Anpassungsfaktor (§51) zu vervielfachen."

3. Beim Oberlandesgericht Linz ist die Klage eines nach dem GSVG versicherten Vaters anhängig, dessen Antrag auf Leistung einer Teilzeitbeihilfe nach § 102b GSVG von der Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft mittels Bescheid mit der Begründung abgewiesen worden war, daß ein solcher Anspruch gem. § 102 Abs 5 iVm.

§102b GSVG nur weiblichen Personen zustehe. Die gegen diesen Bescheid erhobene Klage wurde vom erstinstanzlichen Gericht mit Verweis auf die geltende Rechtslage abgewiesen.

Aus Anlaß der Berufung stellt das Oberlandesgericht Linz als Berufungsgericht den Antrag,

"1.) das Wort 'weiblichen' in § 102 Abs 5 GSVG idF des Art 8 I Z 57 des Arbeits- und Sozialrechts-Änderungsgesetzes (ASRÄG) 1997, BGBl I Nr. 139/1997 (22. Novelle zum GSVG) und

2.) das Wort 'Mutter' in § 102b Abs 1 GSVG idF des Art 8 I Z 58 des Arbeits- und Sozialrechts-Änderungsgesetzes (ASRÄG) 1997, BGBl I Nr. 139/1997 (22. Novelle zum GSVG)"

als verfassungswidrig aufzuheben. Begründend führt das Oberlandesgericht Linz aus, daß keine sachliche Rechtfertigung dafür zu erkennen sei, warum die Teilzeitbeihilfe nur weiblichen, nicht aber auch männlichen Personen zustehe. Es sei kein sachlicher Grund für diese allein nach dem Geschlecht differenzierende Unterscheidung erkennbar.

4. Die Bundesregierung hat von einer meritorischen Äußerung Abstand genommen und für den Fall der Aufhebung den Antrag gestellt, der Verfassungsgerichtshof möge für das Außerkrafttreten eine Frist von 18 Monaten bestimmen, um die "erforderlichen legistischen Vorkehrungen zu treffen".

II. Der Verfassungsgerichtshof hat über den Antrag erwogen:

1. Zur Zulässigkeit:

Der Verfassungsgerichtshof ist nicht berechtigt, durch seine Präjudizialitätsentscheidung das antragstellende Gericht an eine bestimmte Rechtsauslegung zu binden, weil er damit indirekt der Entscheidung dieses Gerichtes in der Hauptsache vorgreifen würde. Gemäß der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes darf daher ein Antrag iS des Art 140 B-VG bzw. des Art 139 B-VG nur dann wegen mangelnder Präjudizialität zurückgewiesen werden, wenn es offenkundig unrichtig (denkunmöglich) ist, daß die - angefochtene - generelle Norm eine Voraussetzung der Entscheidung des antragstellenden Gerichtes im Anlaßfall bildet (zB VfSlg. 9811/1983, 10.296/1984, 11.565/1987, 12.189/1989).

Das Oberlandesgericht Linz hat als Berufungsgericht über die Klage eines Vaters auf Zuerkennung einer Teilzeitbeihilfe zu entscheiden; die Anwendung der für die Zuerkennung einer Teilzeitbeihilfe im GSVG einschlägigen Bestimmungen (§102 Abs 5 und § 102b leg. cit.) ist daher denkmöglich.

Die Tatsache, daß das Oberlandesgericht Linz die Aufhebung des Wortes "weiblichen" in § 102 Abs 5 GSVG in der vom Oberlandesgericht anzuwendenden Fassung des Art 8 I Z 57 des Arbeits- und Sozialrechts-Änderungsgesetzes (ASRÄG) 1997, BGBl I Nr. 139/1997 (22. Novelle zum GSVG) beantragt, obwohl diese Bestimmung durch die Novelle BGBl. I Nr. 139/1997 (22. Novelle zum GSVG), Artikel 8 Abschnitt II Z 6 des Arbeits- und Sozialrechts-Änderungsgesetzes (ASRÄG) 1997 (die gemäß Art 8 Abschnitt II Z 7 (§274 GSVG) am in Kraft getreten ist) am außer Kraft getreten ist, steht einer Erledigung in der Sache nicht entgegen. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes ist die Frage, ob eine anwendbare Norm, deren Verfassungsmäßigkeit zur Prüfung gestellt wird, noch in Kraft steht oder bereits außer Kraft getreten ist, keine Frage der Zulässigkeit des Antrages, sondern eine solche der Sachentscheidung, die der Gerichtshof an der jeweiligen Situation auszurichten hat (VfSlg. 8871/1980, 11469/1987).

Der Antrag ist daher zulässig.

2. In der Sache:

Den Bedenken des Oberlandesgericht Linz kommt auch Berechtigung zu:

2.1. Mit der 10. Novelle zum Betriebshilfegesetz (BHG), BGBl. I Nr. 139/1997 Art 11 und der 22. Novelle zum GSVG, BGBl. I Nr. 139/1997, Art 8 wurde (u.a.) das Leistungsrecht des Betriebshilfegesetzes in das GSVG übergeführt. Nunmehr gebührt die Teilzeitbeihilfe weiblichen Versicherten bei Erfüllung der Anspruchsvoraussetzungen gem. § 102 Abs 5 iVm. § 102b GSVG. Die Teilzeitbeihilfe ermöglicht diesen Versicherten die Unterbrechung ihrer Berufstätigkeit zum Zwecke der Betreuung des Kindes bis zum 18. Lebensmonat. Gleichzeitig schließt das Gesetz aber undifferenziert alle Personen männlichen Geschlechts vom Empfang der Teilzeitbeihilfe aus.

Der Verfassungsgerichtshof hat im Erkenntnis VfSlg. 15054/1997 auf Antrag des Oberlandesgerichtes Wien das Wort "weibliche" in § 1 Abs 1 Betriebshilfegesetz, das Wort "weiblichen" in § 1 Abs 3 BHG und die Worte "die Mutter" in § 4a Abs 1 BHG aufgehoben. Er führte dazu aus, daß das Betriebshilfegesetz der Gruppe der nach § 1 BHG anspruchsberechtigten Frauen durch die Gewährung einer Geldleistung in Gestalt der Teilzeitbeihilfe, die in der Höhe des halben Karenzurlaubsgeldes nach dem AlVG gebührte, für einen Zeitraum von maximal zwei Jahren die Unterbrechung ihrer Berufstätigkeit zum Zwecke der Betreuung des Kindes erleichtere, aber alle Personen männlichen Geschlechts vom Bezug dieser Teilzeitbeihilfe ausschließe, ohne daß dafür ein sachlicher Grund erkennbar sei.

2.2. Ebenso verhält es sich mit der nunmehr im GSVG geregelten Teilzeitbeihilfe. Die anspruchsbegründenden Regelungen im GSVG schließen - wie ihre vom Verfassungsgerichtshof als verfassungswidrig erkannten Vorgängerbestimmungen im BHG - in völlig undifferenzierter Weise männliche Personen vom Empfang der Teilzeitbeihilfe aus. Dem Verfassungsgerichtshof ist auch diesmal kein sachlicher Grund für diese rein nach dem Geschlecht einer Person unterscheidende Regelung erkennbar.

2.3. Der vorliegende Gerichtsantrag erweist sich als nicht zu eng gefaßt: In § 102b GSVG hinterläßt die Entfernung des Wortes "Mutter" zwar einen unvollständigen Halbsatz, doch bleibt der Satz im Zusammenhalt mit den Gründen der Aufhebung gerade noch verständlich (zumal schon der Gesetzgeber - sprachlich unzulänglich - die Einzahl auf die Mehrzahl folgen ließ), weshalb eine Aufhebung des gesamten § 102b GSVG nicht erforderlich ist. Im übrigen genügt es aber auch zur Herstellung einer verfassungskonformen Rechtslage, die unmittelbar eine Differenzierung nach dem Geschlecht bewirkenden Wendungen und Wortfolgen aus dem Rechtsbestand zu beseitigen, bzw. auszusprechen, daß diese verfassungswidrig waren.

3. Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.

4. Da gleichwohl ein nahtloser Anschluß der dadurch notwendig gewordenen legistischen Vorkehrungen ermöglicht werden soll - es sei an dieser Stelle daran erinnert, daß § 102 Abs 5 GSVG idF des Artikel 8 Abschnitt II Z 6 des Arbeits- und Sozialrechts-Änderungsgesetzes (ASRÄG) 1997, BGBl. I Nr. 139/1997 (22. Novelle zum GSVG) ebenfalls nur weibliche Personen als anspruchsberechtigt bezeichnet -, ist gem. Art 140 Abs 5 dritter Satz B-VG eine Frist für das Außerkrafttreten des aufgehobenen Wortes zu setzen.

5. Der Ausspruch, daß frühere gesetzliche Bestimmungen nicht wieder in Wirksamkeit treten, beruht auf Art 140 Abs 6 erster Satz

B-VG.

6. Die Verpflichtung des Bundeskanzlers zur unverzüglichen Kundmachung dieser Aussprüche erfließt aus Art 140 Abs 5 erster und zweiter Satz B-VG und § 64 Abs 2 VerfGG.

7. Dies konnte gem. § 19 Abs 4 VerfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen werden.