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VfGH vom 29.09.1989, g7/89

VfGH vom 29.09.1989, g7/89

Sammlungsnummer

12162

Leitsatz

Ahndung des unbefugten Betriebes von Versicherungsgeschäften als Verwaltungsübertretung; Tatbestand bildet inhaltlich Gegenstand einer strafrechtlichen Anklage nach Art 6 Abs 1 MRK;

nachprüfende Kontrolle durch ein Tribunal nicht ausreichend;

vom Vorbehalt zu Art 5 MRK nicht erfaßt; im Zeitpunkt der Abgabe des Vorbehaltes geltende Vorläuferbestimmung dem Justizstrafrecht zugehörig

Spruch

§ 110 des Bundesgesetzes vom , BGBl. Nr. 569, über den Betrieb und die Beaufsichtigung der Vertragsversicherung (Versicherungsaufsichtsgesetz - VAG), in der Fassung BGBl. Nr. 558/1986, wird als verfassungswidrig aufgehoben.

Die Aufhebung tritt am in Kraft.

Frühere gesetzliche Bestimmungen treten nicht wieder in Wirksamkeit.

Der Bundeskanzler ist zur unverzüglichen Kundmachung der Aufhebung im Bundesgesetzblatt verpflichtet.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. § 110 VAG idF BGBl. 558/1986 lautet:

"Wer ohne Konzession oder nach Untersagung des Geschäftsbetriebes Versicherungsgeschäfte betreibt, begeht, wenn die Handlung nicht mit gerichtlicher Strafe bedroht ist, eine Verwaltungsübertretung und ist von der Versicherungsaufsichtsbehörde mit einer Geldstrafe bis 1.000.000,-

Schilling zu bestrafen."

Versicherungsaufsichtsbehörde ist gemäß § 115 Abs 1 VAG der Bundesminister für Finanzen.

2. Aufgrund der wiedergegebenen Vorschrift des § 110 VAG in Verbindung mit § 9 Abs 1 VStG wurde der Beschwerdeführer in dem Verfahren, das der zu B1378/87 protokollierten Beschwerde zugrundeliegt, bestraft. In der Begründung seines Straferkenntnisses führt der Bundesminister für Finanzen aus, daß die Bank, deren Vorstandsvorsitzender der Beschwerdeführer ist, durch das Anbieten einer bestimmten Zusatzvereinbarung, welche die Bezeichnung "Ablebensklausel" trage, zu Kreditverträgen den Tatbestand des § 110 VAG verwirklicht habe, weil besagte Ablebensklausel als Lebensversicherungsgeschäft zu qualifizieren sei.

3. Aus Anlaß der gegen das Straferkenntnis des Bundesministers für Finanzen erhobenen Beschwerde gemäß Art 144 B-VG leitete der Verfassungsgerichtshof gemäß Art 140 Abs 1 B-VG von Amts wegen das gegenwärtige Verfahren zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des § 110 VAG ein.

In seinem Einleitungsbeschluß ging der Verfassungsgerichtshof vorläufig davon aus, daß § 110 VAG dem Art 6 MRK widerspreche, weil die nach dieser Gesetzesbestimmung vorgesehene Strafe nicht von einem "Tribunal" im Sinne des Art 6 MRK zu verhängen sei und die Verwaltungsstrafbestimmung des § 110 VAG vom Vorbehalt, den die Republik Österreich zu Art 5 MRK erklärte, nicht erfaßt werde. Der Verfassungsgerichtshof zog ferner in Zweifel, ob die Zuständigkeit des Bundesministers für Finanzen zur Ahndung der Verwaltungsübertretung nach § 110 VAG in erster und letzter Instanz dem verfassungsrechtlichen Gleichheitssatz entspricht. Schließlich machte der Verfassungsgerichtshof gegen § 110 VAG noch dieselben Bedenken geltend, die er in seinem Prüfungsbeschluß vom zu B744/87 gegen die Bestimmung des § 35 Vergnügungssteuergesetz für Wien 1963, LGBl. 11, idF der Vergnügungssteuergesetznovelle 1976, LGBl. 37, und der Vergnügungssteuergesetznovelle 1981, LGBl. 16, äußerte und bezweifelte somit, ob es verfassungsrechtlich im Hinblick auf Art 91 B-VG und auf den Gleichheitssatz zulässig ist, daß der Gesetzgeber Verwaltungsbehörden zur Verhängung von Strafen in einer Höhe und Intensität ermächtigt, wie sie § 110 VAG vorsehe.

4. Die Bundesregierung trat in ihrer Äußerung zwar den Bedenken entgegen, die der Zuständigkeit des Bundesministers für Finanzen zur Anwendung des § 110 VAG in erster und letzter Instanz galten, sowie den Bedenken, die sich auf die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Höhe und Intensität der vorgesehenen Strafe bezogen. Sie äußerte sich hingegen nicht zur Vereinbarkeit des § 110 VAG mit Art 6 Abs 1 MRK.

II. Der Verfassungsgerichtshof hat erwogen:

1. In seinem Prüfungsbeschluß ging der Gerichtshof vorläufig davon aus, daß der meritorischen Erledigung der erhobenen Beschwerde keine Prozeßhindernisse entgegenstehen und daß er bei seiner Entscheidung über die Beschwerde § 110 VAG anzuwenden hätte.

An diesen Annahmen über die Zulässigkeit der Anlaßbeschwerde und über die Präjudizialität der in Prüfung gezogenen Vorschrift des § 110 VAG hält der Verfassungsgerichtshof fest.

2. Das Bedenken des Verfassungsgerichtshofes, daß § 110 VAG den verfassungsrechtlichen Anforderungen des Art 6 Abs 1 MRK nicht genügt, trifft zu.

a. Wie der Verfassungsgerichtshof in seinen Erkenntnissen vom , G181/86 u.a., sowie vom , G164 - 166/88, näher ausgeführt hat, muß bei strafrechtlichen Anklagen im Sinne des Art 6 Abs 1 MRK ein Organ, das als unabhängiges Tribunal zu qualifizieren ist, selbst den Sachverhalt feststellen und die Entscheidung fällen; die bloß nachprüfende Kontrolle durch ein Tribunal, etwa durch den Verwaltungsgerichtshof, genügt dieser Rechtsprechung zufolge den Anforderungen des Art 6 Abs 1 MRK nicht.

Die Verwaltungsübertretung des unbefugten Betriebs von Versicherungsgeschäften nach § 110 VAG bildet ihrem Inhalt nach den Gegenstand einer strafrechtlichen Anklage nach Art 6 Abs 1 MRK. Dies erhellt bereits aus der Entstehungsgeschichte der in Prüfung gezogenen Vorschrift. Ihr Vorläufer war nämlich die aufgrund der Verordnung vom , DRGBl. I S. 365, geltende Vorschrift des § 140 Abs 1 des Versicherungsaufsichtsgesetzes vom , DRGBl. I S. 315 ("Wer im Inland das Versicherungsgeschäft ... ohne die vorgeschriebene Erlaubnis betreibt, wird mit Geldstrafe oder mit Haft oder mit Gefängnis bis zu drei Monaten bestraft."), welche aufgrund des § 3 Abs 1 Strafanwendungsgesetzes, StGBl. 148/1945, den Tatbestand einer von den Gerichten zu ahndenden Übertretung festlegte. Die mit der Absicht der "Entkriminalisierung des Versicherungsaufsichtsrechtes" (so die Vorbemerkung zu § 108 VAG, in: Versicherungsaufsichtsgesetz 1978, Hrsg. Pollak, 1979, 147) vom Gesetzgeber bewirkte Umwandlung des gerichtlich strafbaren Tatbestandes des § 140 Abs 1 VAG 1931 in den Verwaltungsstraftatbestand des § 110 VAG (1978) hat am Charakter dieser Sanktion als Strafmaßnahme nichts geändert. Bei der "Geldstrafe bis 1.000.000,- Schilling" nach § 110 VAG handelt es sich um keine bloß administrative Maßnahme zur Herstellung des gesetzmäßigen Zustandes. Vielmehr enthält § 110 VAG auch jenes "vom Gesetzgeber dem sanktionierten Verhalten gegenüber ausgesprochene Unwerturteil", das der Verfassungsgerichtshof bereits in seinem Erkenntnis vom , G181/86 u.a., als für das Wesen eines Straftatbestandes im Sinne des Art 6 MRK kennzeichnend ansah.

b. Daß die Ahndung von Übertretungen nach § 110 VAG den verfassungsgesetzlichen Garantien des Art 6 MRK unterliegt, wird auch vom Vorbehalt Österreichs zu Art 5 MRK nicht ausgeschlossen. Denn dieser Vorbehalt umfaßt neben den zum Zeitpunkt der Abgabe des Vorbehaltes geltenden Verwaltungsvorschriften spätere, nach Erklärung des Vorbehaltes vom Gesetzgeber aufgestellte Verwaltungsstraftatbestände nur dann, wenn diese keine nachträgliche Erweiterung jenes materiell-rechtlichen Bereiches bewirken, der durch die Abgabe des Vorbehaltes ausgeschlossen werden sollte (VfSlg. 11369/1987, 11371/1987 und ).

Nach Erklärung des Vorbehaltes geschaffene Verwaltungsstraftatbestände sind daher von diesem nur dann gedeckt, wenn gleichartige Straftatbestände bereits in Verwaltungsvorschriften enthalten waren, die vor dem (dem Zeitpunkt der Abgabe des Vorbehaltes) erlassen worden waren, oder wenn sich die nach dem genannten Zeitpunkt neu erlassenen gesetzlichen Verwaltungsstraftatbestände als systemimmanente Fortentwicklung der zum Zeitpunkt der Abgabe des Vorbehaltes geltenden Verwaltungsstrafvorschriften darstellen (vgl. VfSlg. 8234/1978, 10291/1984, 11369/1987, 11371/1987).

Schon der Umstand, daß zum Zeitpunkt der Abgabe des Vorbehaltes, d.i. zum , der unbefugte Betrieb von Versicherungsgeschäften durch die bereits dargestellte Bestimmung des § 140 Abs 1 VAG 1931 zum Bereich des Justizstrafrechtes zählte, schließt es aus, daß sich § 110 VAG, der - in seiner Fassung vor der Novelle BGBl. 558/1986 - mit in Kraft trat (§119 Abs 1 VAG), als systemimmanente Fortentwicklung einer zum Zeitpunkt der Abgabe des Vorbehaltes bereits geltenden Verwaltungsstrafbestimmung verstehen läßt. Desgleichen fehlt es an einem, zum Zeitpunkt der Abgabe des Vorbehaltes geltenden gleichartigen Verwaltungsstraftatbestand. Der Verfassungsgerichtshof hält es auch schlechthin für ausgeschlossen, den Vorbehalt so zu verstehen, daß er es zuläßt, eine zum Zeitpunkt seiner Abgabe vorgesehene Zuständigkeit eines Gerichtes, - und sohin einen diesbezüglich den Organisations- und Verfahrensgarantien der Art 5 und 6 MRK entsprechenden Rechtszustand - , zugunsten einer - sei es auch im Hinblick auf den Tatbestand gleichartigen - Verwaltungsstrafbefugnis preiszugeben. Auch die vom Gesetzgeber verfolgte Absicht der "Entkriminalisierung des Versicherungsaufsichtsrechtes" gestattet keine Deutung des Vorbehaltes zu Art 5 MRK, wonach sich dieser auch auf (später) verwaltungsstrafrechtlich sanktionierte Übertretungen bezieht, die zum Zeitpunkt der Abgabe des Vorbehaltes von den Gerichten zu ahndende Straftatbestände bildeten.

c. Wie der Verfassungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom , G181/86 u.a., dargelegt hat, reicht die (bloß) nachprüfende Kontrolle durch den Verwaltungsgerichtshof oder Verfassungsgerichtshof bei einem Strafverfahren wie es § 110 VAG vorsieht, nicht aus, um den Garantien des Art 6 MRK zu genügen. Die Verhängung einer Strafe nach § 110 VAG kommt sohin verfassungsrechtlich nur in Betracht, wenn sie zumindest in letzter Instanz von einem "über die Stichhaltigkeit der ... strafrechtlichen Anklage" im Sinne des Art 6 Abs 1 MRK entscheidenden Tribunal ausgesprochen wird. Es bedarf keiner näheren Darlegung, daß der mit dem Vollzug des § 110 VAG gemäß § 115 Abs 1 VAG betraute Bundesminister für Finanzen als Regierungsorgan kein unabhängiges Tribunal im Sinne des Art 6 Abs 1 MRK sein kann. Seine Strafbefugnis nach § 110 VAG ist sohin verfassungswidrig.

Da durch die Beseitigung der Strafbefugnis der Versicherungsaufsichtsbehörde in § 110 VAG die geschilderte Verfassungswidrigkeit schon deswegen nicht behoben würde, weil dadurch der Charakter des § 110 VAG als Verwaltungsstrafbestimmung (vgl. auch die Überschrift über den ersten Abschnitt des 7. Hauptstücks des VAG, zu dem § 110 VAG zählt) erhalten bliebe und lediglich - im Falle der Aufhebung der Worte "von der Versicherungsaufsichtsbehörde" in § 110 VAG - die Zuständigkeitsbestimmung der §§26 ff. VStG anzuwenden wären, ist der ganze § 110 VAG als verfassungswidrig aufzuheben.

3. Angesichts dieses Verfahrensergebnisses erübrigt es sich für den Verfassungsgerichtshof, auf die sonstigen, im Prüfungsbeschluß gegen § 110 VAG aufgezeigten verfassungsrechtlichen Bedenken einzugehen.

4. Der Anregung der Bundesregierung, gemäß Art 140 Abs 5 B-VG für das Außerkrafttreten des § 110 VAG eine Frist von einem Jahr zu bestimmen, ist der Verfassungsgerichtshof lediglich durch Fristsetzung bis nachgekommen. Der Gerichtshof wollte damit die Fortgeltung des dem Art 6 Abs 1 MRK widersprechenden Rechtszustandes möglichst beschränken, gleichzeitig aber dem Gesetzgeber die Möglichkeit wahren, in verfassungskonformer Weise einen der aufgehobenen Bestimmung entsprechenden Straftatbestand rechtzeitig neu zu schaffen.

5. Der Ausspruch, daß frühere gesetzliche Bestimmungen nicht wieder in Wirksamkeit treten, beruht auf Art 140 Abs 6 erster Satz B-VG.

Die Verpflichtung des Bundeskanzlers zur unverzüglichen Kundmachung der Aufhebung erfließt aus Art 140 Abs 5 erster Satz B-VG und § 64 Abs 2 VerfGG.

Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 erster Satz VerfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.