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VfGH vom 14.06.2016, G645/2015

VfGH vom 14.06.2016, G645/2015

Leitsatz

Verfassungswidrigkeit der generellen Ausnahme betreffend Verfahren der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen von der Möglichkeit der Stellung eines Parteiantrags auf Normenkontrolle; keine Erforderlichkeit im Sinne einer Unerlässlichkeit der Regelung des VfGG für die Sicherung des Zwecks des Verfahrens

Spruch

I. § 62a Abs 1 Z 10 Verfassungsgerichtshofgesetz 1953 – VfGG, BGBl Nr 85, idF BGBl I Nr 92/2014 wird als verfassungswidrig aufgehoben.

II. Frühere gesetzliche Bestimmungen treten nicht wieder in Kraft.

III. Die aufgehobene Bestimmung ist nicht mehr anzuwenden.

IV. Der Bundeskanzler ist zur unverzüglichen Kundmachung dieser Aussprüche im Bundesgesetzblatt I verpflichtet.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Anlassverfahren, Prüfungsbeschluss und Vorverfahren

1. Beim Verfassungsgerichtshof ist zur Zahl SV3/2015 ein auf Art 140a "iVm Art 140 Abs 1 Z 1 litd bzw 139 Abs 1 Z 4 B VG" gestützter (Partei-)Antrag auf Feststellung der Rechtswidrigkeit des Art 10 Abs 3 litb und c des Auslieferungsvertrages zwischen der Regierung der Republik Österreich und der Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika, BGBl III 216/1999, (im Folgenden: Auslieferungsvertrag Ö – USA) anhängig.

Der Antrag wurde vom Antragsteller aus Anlass einer Beschwerde der Staatsanwaltschaft gegen einen Beschluss des Landesgerichtes für Strafsachen Wien, mit dem die seitens US-amerikanischer Behörden begehrte Auslieferung des in Österreich aufhältigen Antragstellers zur Strafverfolgung wegen der im Auslieferungsersuchen der Vereinigten Staaten von Amerika ausgeführten Straftaten nicht bewilligt wurde, innerhalb der zweiwöchigen Beschwerdefrist (gerechnet vom Tag der Zustellung des Beschlusses an den Antragsteller) gestellt.

2. Bei Behandlung des Antrages nach Art 140a (iVm Art 140 Abs 1 Z 1 litd) B VG sind im Verfassungsgerichtshof Bedenken ob der Verfassungsmäßigkeit des § 62a Abs 1 Z 10 VfGG idF BGBl I 92/2014 entstanden. Der Verfassungsgerichtshof hat daher am beschlossen, diese Gesetzesbestimmung von Amts wegen auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu prüfen.

Der Verfassungsgerichtshof legte seine Bedenken, die ihn zur Einleitung des Gesetzesprüfungsverfahrens bestimmt haben, in seinem Prüfungsbeschluss wie folgt dar:

"[…]

3.4. Der Verfassungsgerichtshof vermag vorderhand nicht zu erkennen, dass sämtliche Regelungen betreffend die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen, insbesondere alle Vorschriften des Auslieferungs- und Rechtshilfegesetzes (ARHG), des Bundesgesetzes über die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen mit den Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU-JZG) sowie sämtliche zwischenstaatliche Vereinbarungen, Verfahren bzw. Verfahrensschritte zum Gegenstand haben, in denen es zur Sicherung ihres Zwecks in allen in Betracht kommenden Fällen unerlässlich wäre, die Antragstellung nach Art 140 Abs 1 Z 1 litd (allenfalls iVm Art 140a Abs 1) B VG für unzulässig zu erklären.

Die zur Begründung des diesbezüglichen Ausnahmetatbestandes des § 62a Abs 1 Z 10 VfGG in den Erläuterungen zur RV 263 BlgNR 25. GP angeführten Umstände dürften nach der vorläufigen Annahme des Verfassungsgerichtshofes nicht geeignet sein, die Erforderlichkeit des gänzlichen Ausschlusses der Zulässigkeit eines Parteiantrages auf Normenkontrolle (in concreto auf Kontrolle eines Staatsvertrages) darzutun; auch die Prämisse, dass Formen der justiziellen Zusammenarbeit im Bereich der Rechtshilfe als Teil des Ermittlungsverfahrens von vornherein nicht in den Anwendungsbereich des Art 140 Abs 1 Z 1 litd B VG fielen (RV 263 BlgNR 25. GP, 3), scheint vor dem Hintergrund des hg. Erkenntnisses vom , G46/2015, zumindest relativiert.

Der Verfassungsgerichtshof verkennt nicht den Stellenwert und die Bedeutung internationaler justizieller Zusammenarbeit in Strafsachen sowie völkerrechtlicher Verträge. Dennoch scheint vorderhand die Vermeidung von Abgrenzungsschwierigkeiten allein jedenfalls nicht die Unerlässlichkeit einer so weit gefassten Ausnahme vom Rechtsschutzinstrumentarium des Parteiantrages darzutun."

3. Die Bundesregierung hat eine Äußerung erstattet, in der sie den im Prüfungsbeschluss dargelegten Bedenken entgegentritt und beantragt, den in Prüfung stehenden Ausnahmetatbestand nicht als verfassungswidrig aufzuheben; für den Fall der Aufhebung begehrt sie die Setzung einer sechsmonatigen Frist.

Nach Dafürhalten der Bundesregierung kommt der pauschalen, nicht weiter differenzierenden Ausnahme des gesamten Bereiches der "Verfahren der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen" in § 62a Abs 1 Z 10 VfGG Berechtigung zu:

3.1. Die Aufzählung in § 62a Abs 1 Z 10 VfGG orientiere sich an dem Umstand, dass alle dort genannten Verfahren eine rasche Klärung der Rechtslage erfordern und ihrer Konzeption nach keine Verzögerung dulden. Wenngleich der Verfassungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom , G346/2015, betreffend die Aufhebung des § 62a Abs 1 Z 4 VfGG ausgeführt habe, dass der zeitliche Aspekt der Verfahrensverzögerung durch Stellung eines Antrages gemäß Art 140 Abs 1 Z 1 litd B VG für sich genommen kein Grund sei, der den Bundesgesetzgeber berechtige, von der ihm durch Art 140 Abs 1a erster Satz B VG eingeräumten Ermächtigung in der Weise Gebrauch zu machen, pauschal alle Verfahren einer Gattung auszunehmen, sei zur Ausnahme des § 62a Abs 1 Z 10 VfGG festzuhalten, dass es sich bei Entscheidungen der ordentlichen Gerichte im Zusammenhang mit Ersuchen um internationale Rechtshilfe in Strafsachen in vielen Fällen tatsächlich um besonders dringliche Verfahren handle. So seien gemäß § 1 der Auslieferungs- und Rechtshilfeverordnung, BGBl 219/1980, die in dieser Verordnung geregelten Angelegenheiten unter Bedachtnahme auf die im zwischenstaatlichen Verkehr gebotene Dringlichkeit zu behandeln.

3.2. In diesem Zusammenhang komme dem auch im Anlassverfahren maßgeblichen Bereich der Auslieferung besondere Bedeutung zu:

"[...] Bei der Auslieferung handelt es sich um die zwangsweise Überantwortung einer Person in die Verfügungsgewalt des darum ersuchenden Staates zum Zweck der Strafverfolgung oder Strafvollstreckung (vgl. Linke , Grundriß des Auslieferungsrechts, 1983, 15). Weil aber die Auslieferung mit der Übergabe der Person einen zwangsweisen Charakter aufweist, ist in aller Regel das Auslieferungsverfahren zur Sicherung der unter Umständen in Betracht kommenden Auslieferung mit der Verhängung der Auslieferungshaft verbunden, zumal auch die für ein Auslieferungsersuchen zumindest beizubringenden Unterlagen in einem Haftbefehl oder einer Unterlage gleicher Wirkung oder einem vollstreckbaren Urteil bestehen (vgl. § 35 Abs 1 des Auslieferungs- und Rechtshilfegesetzes – ARHG, BGBl Nr 529/1979, sowie im vertraglichen Bereich zB Art 12 Abs 2 des Europäischen Auslieferungsübereinkommens, BGBl Nr 320/1969). Die Dauer der Auslieferungshaft ist aber sowohl durch die gemäß § 29 Abs 1 letzter Satz ARHG subsidiär anzuwendenden Bestimmungen der Strafprozeßordnung 1975 – StPO, BGBl Nr 631/1975, über die Untersuchungshaft als auch durch die in § 29 Abs 6 ARHG festgesetzte Höchstdauer mit einem Jahr begrenzt. Eine weitere zeitliche Begrenzung für die Auslieferungshaft ergibt sich aus der gebotenen Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, sodass auch die Höchststrafdrohung im ersuchenden Staat bei der Beurteilung der zulässigen Dauer der Auslieferungshaft eine Rolle spielt. [...]"

Aus diesem Umstand und dem allgemeinen Gebot der Beschleunigung (§9 Abs 2 StPO) ergebe sich die spezifische Eilbedürftigkeit des Auslieferungsverfahrens, da bei einer Verzögerung des Verfahrens die Entlassung und nachfolgende Flucht der auszuliefernden Person drohe. Es sei deshalb sachgerecht, dass der Gesetzgeber in § 62a Abs 1 Z 10 VfGG die Unzulässigkeit der Stellung eines Parteiantrages auf Normenkontrolle u.a. im Bereich der Auslieferung als unerlässlich ansieht, um eine Verlängerung der Auslieferungshaft – und den damit verbundenen Eingriff in das Grundrecht auf persönliche Freiheit – hintanzuhalten. Gerade im Bereich des Auslieferungsverfahrens bestehe die Gefahr der Vereitelung des Zwecks des Verfahrens, würde dem Betroffenen das Recht auf Stellung eines Parteiantrages auf Normenkontrolle eingeräumt.

3.3. Ebenso sei im Bereich der Rechtshilfe durch Sicherstellung und Beschlagnahme sowie bei Vollstreckung vermögensrechtlicher Anordnungen eines ausländischen Staates besondere Eilbedürftigkeit gegeben, weil die eminente Gefahr drohe, dass Vermögenswerte oder Beweismittel von tatverdächtigen Personen dem Zugriff der Justiz entzogen würden und auf diese Weise der Zweck des Rechtshilfeverfahrens vereitelt werde. Daher sei die Ausgangslage dieselbe wie in den zuvor geschilderten Haftsachen, weshalb die Unzulässigkeit der Stellung eines Parteiantrages auf Normenkontrolle für die Erreichung des Verfahrenszieles gleichfalls unerlässlich sei.

3.4. Auch aus grundsätzlichen Überlegungen zu Natur und Zweck der vor den ordentlichen Gerichten in Erfüllung der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen geführten Verfahren sei die generelle Ausnahme von der Stellung eines Parteiantrages auf Normenkontrolle geboten:

"Wie die Erläuterungen zur Regierungsvorlage (263 BlgNR 25. GP, 5) ausführen, ist allen im Ausnahmetatbestand des § 62a Abs 1 Z 10 VfGG umfassten Verfahren gemeinsam, dass die Republik Österreich nur über Ersuchen eines anderen Staates tätig wird. Die zugrunde liegende Anordnung stammt nicht von einer österreichischen Behörde und gründet sich nicht auf österreichisches Recht. Sie stammt vielmehr von einer ausländischen Behörde und wurde auf Grund von Rechtsvorschriften des ersuchenden Staates erlassen, die als solche nicht der Normenkontrolle durch den Verfassungsgerichtshof unterliegen. Das auf Grund des ausländischen Ersuchens geführte Verfahren im Inland hat immer nur Hilfscharakter für das Ausgangsverfahren im ersuchenden Staat, wo das Strafverfahren in der Hauptsache, in dem über die 'Stichhaltigkeit einer strafrechtlichen Anklage' im Sinne des Art 6 Abs 1 EMRK entschieden wird, geführt wird oder wurde. Da es gerade nicht der Zweck der in § 62a Abs 1 Z 10 genannten Verfahren ist, über die 'Rechtssache' (also über die Stichhaltigkeit der strafrechtlichen Anklage) zu entscheiden, ist es auch sachgerecht, diese Verfahren von der Stellung eines Parteiantrages auf Normenkontrolle auszunehmen. Dem Beschuldigten steht jedenfalls die Möglichkeit offen, den entsprechenden Ermittlungsakt durch ein Rechtsmittel gegen das auf Grund einer Anklage im Hauptverfahren im ersuchenden Staat ergehende Urteil anzufechten oder sonstige nach der Rechtsordnung dieses Staates offenstehende Rechtsbehelfe zu ergreifen."

Der in Prüfung gezogene Ausnahmetatbestand stehe daher mit der verfassungsgesetzlichen Ermächtigung des Art 140 Abs 1a B VG in Einklang.

4. Der Antragsteller des Anlassverfahrens hat zwar von der ihm gebotenen Möglichkeit, eine Äußerung zu erstatten, keinen Gebrauch gemacht, zur Äußerung der Bundesregierung aber eine Replik erstattet, in der er die Argumente der Bundesregierung für nicht geeignet erachtet, die im Prüfungsbeschluss geäußerten Bedenken des Verfassungsgerichtshofes (denen er sich anschließt) zu zerstreuen.

Im Ausgangsverfahren SV3/2015 zog er nach Einleitung des vorliegenden Gesetzesprüfungsverfahrens seinen Antrag zum Teil, und zwar in Ansehung des Art 10 Abs 3 litc Auslieferungsvertrag Ö – USA, zurück (dazu noch Pkt. III.1.).

II. Rechtslage

Die Bestimmung des § 62a Abs 1 Verfassungsgerichtshofgesetz 1953 – VfGG, BGBl 85, idF der Kdm. BGBl I 15/2016 lautet auszugsweise (die von Amts wegen in Prüfung gezogene, in der Fassung BGBl I 92/2014 in Geltung stehende Ziffer ist hervorgehoben):

"§62a. (1) Eine Person, die als Partei einer von einem ordentlichen Gericht in erster Instanz entschiedenen Rechtssache rechtzeitig ein zulässiges Rechtsmittel erhebt und wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes in ihren Rechten verletzt zu sein behauptet, kann gleichzeitig einen Antrag stellen, das Gesetz als verfassungswidrig aufzuheben (Art140 Abs 1 Z 1 litd B VG). Die Stellung eines solchen Antrages ist unzulässig:

[…]

10. im Verfahren der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen, insbesondere Auslieferung, Übergabe, Rechtshilfe, gegenseitige Anerkennung und Vollstreckung. "

III. Erwägungen

1. Zur Zulässigkeit des Verfahrens

Im Verfahren hat sich nichts ergeben, was an der Präjudizialität der in Prüfung gezogenen Bestimmung zweifeln ließe. Insbesondere ist die Bundesregierung der vorläufigen Annahme des Verfassungsgerichtshofes nicht entgegengetreten, dass es sich bei dem zZ SV 3/2015 (teilweise) angefochtenen Auslieferungsvertrag Ö – USA um einen zum Teil gesetzesergänzenden und zum Teil gesetzändernden Staatsvertrag handle (vgl. auch RV 1083 BlgNR 20. GP, 17). Gegenstand dieses gesetzesrangigen Staatsvertrages im Allgemeinen und des vor dem Landesgericht für Strafsachen Wien in concreto geführten Verfahrens ist die Auslieferung eines in Österreich aufhältigen ukrainischen Staatsangehörigen an die Vereinigten Staaten von Amerika. Es sind daher Art 140a iVm Art 140 B VG und in weiterer Folge § 62a Abs 1 Z 10 iVm § 66 VfGG bei Beurteilung der Zulässigkeit des eingangs erwähnten Parteiantrages anzuwenden.

Da auch sonst keine Prozesshindernisse hervorgekommen sind, erweist sich das Gesetzesprüfungsverfahren als zulässig.

Dass der Verfassungsgerichtshof am im Verfahren G235/2015 beschlossen hat, bestimmte (nicht auf den Ausnahmekatalog bezogene) Teile des § 62a Abs 1, § 62a Abs 3 und 4 sowie § 62a Abs 5 zweiter Satz VfGG zufolge Bedenken ob ihrer Verfassungskonformität mit Blick auf Art 140 Abs 1 Z 1 litd B VG von Amts wegen in Prüfung zu nehmen, mag allenfalls im diesem Gesetzesprüfungsverfahren zugrunde liegenden Anlassverfahren SV3/2015 relevant werden, für die Zulässigkeit des vorliegenden Gesetzesprüfungsverfahrens selbst ist dies aber ebenso wenig von Bedeutung wie der Umstand, dass im Anlassverfahren inzwischen eine Teilrückziehung des (Partei-)Antrages erfolgt ist.

2. In der Sache

Die im Prüfungsbeschluss dargelegten Bedenken des Verfassungsgerichtshofes konnten im Gesetzesprüfungsverfahren nicht zerstreut werden:

1. Der Verfassungsgerichtshof hegte im Wesentlichen das Bedenken, dass die in Prüfung gezogene Bestimmung Art 140 Abs 1a erster Satz B VG widerspricht, weil vorderhand nicht zu erkennen sei, dass es unerlässlich wäre, sämtliche Regelungen betreffend die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen, darunter die Vorschriften des Auslieferungs- und Rechtshilfegesetzes (ARHG), des Bundesgesetzes über die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen mit den Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU-JZG) und alle zwischenstaatlichen Vereinbarungen auf diesem Gebiet, von der Stellung eines Parteiantrages pauschal auszunehmen.

2.1. Der mit der B VG-Novelle BGBl I 114/2013 eingefügte Art 140 Abs 1a erster Satz B VG bestimmt, dass die Stellung von Anträgen nach Art 140 Abs 1 Z 1 litd B VG durch Bundesgesetz für unzulässig erklärt werden kann, wenn dies zur Sicherung des Zwecks des Verfahrens vor dem ordentlichen Gericht erforderlich ist. Die entsprechenden einfachgesetzlichen Ausführungsbestimmungen – darunter § 62a VfGG – wurden mit dem Bundesgesetz, mit dem das Verfassungsgerichtshofgesetz 1953, die Zivilprozessordnung, das Außerstreitgesetz und die Strafprozeßordnung 1975 geändert werden, BGBl I 92/2014, erlassen. In den Erläuterungen zur RV dieses Bundesgesetzes heißt es im hier interessierenden Zusammenhang (263 BlgNR 25. GP, 2 f., 5):

"Zu den Ausnahmen der §§57a Abs 1 und 62a Abs 1 im Einzelnen:

Gemäß Art 139 Abs 1a erster Satz und Art 140 Abs 1a erster Satz B VG kann die Stellung eines Antrages gemäß Art 139 Abs 1 Z 4 bzw. Art 140 Abs 1 Z 1 litd B VG durch Bundesgesetz für unzulässig erklärt werden, wenn dies zur Sicherung des Zwecks des Verfahrens vor dem ordentlichen Gericht erforderlich ist. In der im Bericht des Verfassungsausschusses wiedergegebenen Begründung des im Verfassungsausschuss eingebrachten gesamtändernden Abänderungsantrages der Abgeordneten Dr. Peter Wittmann, Mag. Wolfgang Gerstl, Dr. Peter Fichtenbauer, Kolleginnen und Kollegen (AB 2380 d.B. XXIV. GP, 9) wird dazu ausgeführt, dass in bestimmten verfahrensrechtlichen Konstellationen (etwa in Provisorialverfahren) die Stellung eines Parteiantrages den Zweck des Verfahrens vor dem ordentlichen Gericht gefährden oder vereiteln könne. Dies gelte auch für Sachentscheidungen, etwa solche, die rasch zu ergehen hätten, oder für Rechtssachen, in welchen eine neuerliche Entscheidung auf faktische Unmöglichkeiten stoße (etwa im Insolvenz- oder Exekutionsverfahren). Wie in den vergleichbaren Bestimmungen des B VG sei der Begriff 'erforderlich' auch hier im Sinne von 'unerlässlich' zu verstehen. [...]

[…]

Zu Z 10 (Verfahren der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen, insbesondere Auslieferung, Übergabe, Rechtshilfe, gegenseitige Anerkennung und Vollstreckung):

Es sollen alle Formen der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen ausgenommen werden. Der Begriff 'justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen' ist umfassend zu verstehen; er erfasst daher Auslieferung und traditionelle Rechtshilfe ebenso wie die Formen der gegenseitigen Anerkennung (etwa das Übergabeverfahren auf Grund eines Europäischen Haftbefehls), die Übertragung eines Verfahrens und jegliche Vollstreckungshilfe. Er umfasst die im Auslieferungs- und Rechtshilfegesetz – ARHG, BGBl Nr 529/1979, und die im Bundesgesetz über die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen mit den Mitgliedstaaten der Europäischen Union – EU-JZG, BGBl I Nr 36/2004, geregelten Formen der Zusammenarbeit ebenso wie Zusammenarbeit unmittelbar auf Grund von völkerrechtlichen Verträgen.

Allen diesen Verfahren ist gemeinsam, dass die Republik Österreich nur über Ersuchen eines anderen Staates tätig wird. Die zugrunde liegende Anordnung (etwa auf Zeugenvernehmung oder Kontenöffnung oder ein Europäischer Haftbefehl) stammt nicht von einer österreichischen Behörde und gründet sich nicht auf österreichisches Recht. Sie stammt vielmehr von einer ausländischen Behörde und wurde auf Grund von Rechtsvorschriften des ersuchenden Staates erlassen, die als solche nicht der Normenkontrolle durch den Verfassungsgerichtshof unterliegen.

Zwar sind viele Formen der justiziellen Zusammenarbeit als Teil eines Ermittlungsverfahrens anzusehen und fallen damit nicht in den Anwendungsbereich des Art 140 Abs 1 [Z1] litd B VG. Es gibt aber auch Formen, bei denen dies nicht der Fall ist, etwa wenn im Stadium einer Hauptverhandlung Rechtshilfeersuchen gestellt werden, oder bei Vollstreckungshilfe (so gibt es zwei Arten eines Europäischen Haftbefehls, nämlich jenen zur Verfolgung und jenen zur Vollstreckung). Zur Vermeidung von Abgrenzungsschwierigkeiten wird daher vorgeschlagen, den Ausnahmetatbestand umfassend zu formulieren.

[...]"

2.2. Die in den Erläuterungen zu den §§57a, 62a VfGG bezogene Stelle des Berichtes des Verfassungsausschusses zu Art 140 Abs 1 Z 1 litd B VG, 2380 BlgNR 24. GP, 9, lautet auszugsweise wie folgt:

"In bestimmten verfahrensrechtlichen Konstellationen (zB im Provisorialverfahren) könnte die Stellung eines Parteiantrages den Zweck des Verfahrens vor dem ordentlichen Gericht gefährden oder vereiteln. Dies gilt auch für Sachentscheidungen, etwa solche, die rasch zu ergehen haben, oder für Rechtssachen, in welchen eine neuerliche Entscheidung auf faktische Unmöglichkeiten stößt (zB im Insolvenzrecht). Die Stellung eines Parteiantrages soll daher durch Bundesgesetz für unzulässig erklärt werden können, wenn dies zur Sicherung des Zwecks des Verfahrens vor dem ordentlichen Gericht erforderlich ist. Wie in den vergleichbaren Bestimmungen des B VG (vgl. insb. Art 11 Abs 2 sowie zuletzt Art 136 Abs 2 in der Fassung der Verwaltungsgerichtsbarkeits-Novelle 2012) ist der Begriff 'erforderlich' auch hier im Sinne von 'unerlässlich' zu verstehen (vgl. VfSlg 17.340/2004 mwH)."

2.3. Der Verfassungsgerichtshof hat bereits in seinen (jeweils einen anderen Ausnahmetatbestand des § 62a Abs 1 VfGG betreffenden) Erkenntnissen vom , G346/2015, vom , G541/2015, und vom , G537, 538/2015, mit näherer Begründung ausgeführt, dass die Bestimmung des Art 140 Abs 1a B VG – wie auch im vorliegenden Prüfungsbeschluss vorläufig angenommen – als eng begrenzte Ausnahme von der grundsätzlich gegen alle Bundes- und Landesgesetze offen stehenden Anfechtungsberechtigung anzusehen ist, die durch die Erforderlichkeit des Ausschlusses des Rechtsbehelfs im Hinblick auf den Zweck des (gerichtlichen) Verfahrens bestimmt wird; dabei sollte den mit dem zeitlichen Aspekt zusammenhängenden Elementen der Sicherung des Verfahrenszwecks wenigstens auch durch andere verfahrensrechtliche Vorkehrungen Rechnung getragen werden (Art140 Abs 1b B VG, Art 140 Abs 8 B VG, § 63a Abs 6 VfGG und § 80a Abs 2 AußStrG).

Art140 Abs 1a B VG ist demnach als mit dem Kriterium der Erforderlichkeit beschränkte Ermächtigung an den Gesetzgeber, die Erhebung einen Parteiantrag ausnahmsweise auszuschließen, eng im Sinne einer "Unerlässlichkeit" der Ausnahme zu verstehen. Unerlässlich ist die Ausnahme von der Möglichkeit, einen solchen Antrag zu stellen, in Verfahren, in denen dies und die nachfolgende Durchführung eines Verfahrens vor dem Verfassungsgerichtshof den Zweck des Verfahrens vereiteln würde (wie dies ausweislich der Materialien [vgl. AB 2380 BlgNR 24. GP, 9, und 249/E 24. GP, 1] etwa im Provisorialverfahren der Fall sein soll; hinsichtlich des Exekutionsverfahrens vgl. G537, 538/2015).

Darüber hinaus hat der Verfassungsgerichtshof in den zitierten Erkenntnissen – worauf auch die Bundesregierung verweist – ausgesprochen, dass der zeitliche Aspekt der Verfahrensverzögerung durch die Stellung eines Antrages gemäß Art 140 Abs 1 Z 1 litd B VG für sich genommen keinen Grund darstellt, der den Gesetzgeber berechtigt, von der ihm durch Art 140 Abs 1a erster Satz B VG eingeräumten Ermächtigung durch pauschale Ausnahme aller Verfahren einer Gattung Gebrauch zu machen.

3. Wenngleich der von der Bundesregierung angezogene § 1 der Auslieferungs- und Rechtshilfeverordnung allgemein auf die im zwischenstaatlichen Verkehr gebotene Dringlichkeit der Behandlung dieser Angelegenheiten verweist, gilt dies nach dem zweiten Satz dieser Verordnungsstelle vor allem im Falle der Anhaltung der betroffenen Person in Haft. Warum (schlichte) Rechtshilfehandlungen eine gegenüber der Vornahme solcher Maßnahmen in einem inländischen Strafverfahren eine spezielle Eilbedürftigkeit iS einer Unerlässlichkeit der Statuierung einer Ausnahme aufweisen sollten, wird (nur) in Bezug auf über Ersuchen eines anderen Staates im Inland effektuierte Sicherstellungs- und Beschlagnahmemaßnahmen sowie auf die Vollstreckung vermögensrechtlicher Anordnungen für den ersuchenden Staat damit begründet, dass insofern die eminente Gefahr von Entziehungsmaßnahmen seitens tatverdächtiger Personen bestehe. Dass diese Gefahr im Verhältnis zu vergleichbaren Anordnungen im Rahmen eines rein innerstaatlichen Strafverfahrens in einer Weise erhöht wäre, dass der Zweck des (Rechtshilfe-)Verfahrens bei Wegfall der Ausnahmeregelung des § 62a Abs 1 Z 10 VfGG vereitelt wäre, ist für den Verfassungsgerichtshof nicht erkennbar.

Im Übrigen hält die Bundesregierung die generelle Ausnahme deshalb für "sachgerecht", weil die dem Rechtshilfeverfahren zugrunde liegende Anordnung von einer ausländischen Behörde auf Basis von – der Normenkontrolle des Verfassungsgerichtshofes entzogenen – Rechtsvorschriften des ersuchenden Staates erlassen worden sei, das Inlandsverfahren für das Ausgangsverfahren im ersuchenden Staat, in welchem über die "Rechtssache" (also die Stichhältigkeit der Anklage) entschieden werde, bloß Hilfscharakter aufweise, und der Beschuldigte den entsprechenden Ermittlungsakt im Rechtsmittel gegen ein allfälliges, im ersuchenden Staat ergehendes Urteil bekämpfen könne.

Diese Argumentation überzeugt schon deshalb nicht, weil (wie unter Pkt. III.2.3. dargelegt) Kriterium des Art 140 Abs 1a B VG nicht die bloße "Sachlichkeit" der Ausnahme, sondern deren "Unerlässlichkeit" ist. Für die Unerlässlichkeit der alle Verfahren der Zusammenarbeit in justiziellen Angelegenheiten umfassenden Ausnahme sind dem Verfassungsgerichtshof indes keine Gründe erkennbar. Auch die Gesetzesmaterialien nennen keine solchen. Die in den Erläuterungen zu § 62a Abs 1 Z 10 VfGG ins Treffen geführten Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen Ermittlungsverfahren (das nach Auffassung des Gesetzgebers von vornherein nicht dem Anwendungsbereich des Art 140 Abs 1 Z 1 litd B VG unterfalle – vgl. aber , dazu sogleich) und Hauptverfahren sind jedenfalls nicht geeignet, die Unerlässlichkeit der Regelung zu begründen.

Verschiedene Formen der Leistung von Rechtshilfe in einem im ersuchenden Staat anhängigen Ermittlungs- oder Hauptverfahren (etwa im Fall einer Sicherstellung oder Beschlagnahme) können nämlich in subjektive Rechte dritter, vom strafrechtlich Verfolgten verschiedene Personen eingreifen und für diese eine in erster Instanz entschiedene Rechtssache bewirken (vgl. zur Sicherstellung im Ermittlungsverfahren ).

Darüber hinaus fallen unter "Verfahren justizieller Zusammenarbeit in Strafsachen" auch Angelegenheiten des Strafregisters, der Tilgung, des Straf- und Maßnahmenvollzuges sowie Gnadensachen (zB § 50 ARHG, §§56 ff. EU-JZG, vgl. auch §§9 ff. StrafregisterG), die von vornherein keiner nachfolgenden Entscheidung der "Hauptsache" im ersuchenden Staat unterliegen.

Wenngleich das Verfahren zur Leistung internationaler Rechtshilfe eine möglichst zügige und einfache Handhabung vor Augen hat, und etwa der Bereich der vereinfachten Übergabe innerhalb der Mitgliedstaaten der Europäischen Union von besonders kurzen gesetzlich normierten Fristen gekennzeichnet ist (vgl. zB § 20 EU-JZG), kann der Verfassungsgerichtshof aus den dargestellten Gründen nicht finden, dass die pauschale Ausnahme des gesamten Bereiches des Verfahrens der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen unerlässlich ist.

Ungeachtet des Umstandes, dass Gegenstand des dem Parteiantrag zugrunde liegenden Anlassverfahrens eine Auslieferung zur Strafverfolgung ist, kommt die Aufhebung des Wortes "Auslieferung," allein nicht in Betracht, weil die Regelung des § 62a Abs 1 Z 10 VfGG angesichts der bloß demonstrativen Aufzählung von unter den (Ober-)Begriff "Verfahren justizieller Zusammenarbeit in Strafsachen" fallenden Tatbeständen eine untrennbare Einheit bildet.

IV. Ergebnis

1. § 62a Abs 1 Z 10 VfGG idF BGBl I 92/2014 ist daher zur Gänze wegen Verstoßes gegen Art 140 Abs 1a erster Satz B VG als verfassungswidrig aufzuheben.

2. Der Ausspruch, dass frühere gesetzliche Bestimmungen nicht wieder in Kraft treten, beruht auf Art 140 Abs 6 erster Satz B VG.

3. Der Verfassungsgerichtshof sieht sich veranlasst, von der ihm durch Art 140 Abs 7 zweiter Satz B VG eingeräumten Ermächtigung Gebrauch zu machen und auszusprechen, dass die aufgehobene Bestimmung nicht mehr anzuwenden ist.

4. Die Verpflichtung des Bundeskanzlers zur unverzüglichen Kundmachung der Aufhebung und der damit im Zusammenhang stehenden sonstigen Aussprüche erfließt aus Art 140 Abs 5 erster Satz B VG und § 64 Abs 2 VfGG iVm § 3 Z 3 BGBlG.

5. Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

European Case Law Identifier

ECLI:AT:VFGH:2016:G645.2015