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VfGH vom 28.09.1998, g59/98

VfGH vom 28.09.1998, g59/98

Sammlungsnummer

15247

Leitsatz

Aufhebung der die unbeschränkte Pflicht zur Rückzahlung einer Leistung aus der Arbeitslosenversicherung infolge Erzielung eines die Geringfügigkeitsgrenze übersteigenden Einkommens oder Umsatzes normierenden Bestimmung des AlVG wegen Widerspruchs zum Gleichheitssatz

Spruch

Der dritte Satz des § 25 Abs 1 des Arbeitslosenversicherungsgesetzes 1977, BGBl. Nr. 609, in der Fassung des Strukturanpassungsgesetzes, BGBl. Nr. 297/1995, ("Der Empfänger einer Leistung nach diesem Bundesgesetz ist auch zum Ersatz des unberechtigt Empfangenen zu verpflichten, wenn sich auf Grund seines bzw. seines Angehörigen nachträglich vorgelegten Einkommen- bzw. Umsatzsteuerbescheides ergibt, daß die Leistung nicht oder nicht in dieser Höhe gebührte.") wird als verfassungswidrig aufgehoben.

Der Bundeskanzler ist zur unverzüglichen Kundmachung der Aufhebung im Bundesgesetzblatt I verpflichtet.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. § 25 Abs 1 des Arbeitslosenversicherungsgesetzes 1977 (AlVG) bestimmt in der Fassung des Strukturanpassungsgesetzes, BGBl. 297/1995 (in Prüfung gezogener Satz hervorgehoben):

"§25. (1) Bei Einstellung, Herabsetzung, Widerruf oder Berichtigung einer Leistung ist der Empfänger des Arbeitslosengeldes zum Ersatz des unberechtigt Empfangenen zu verpflichten, wenn er den Bezug durch unwahre Angaben oder durch Verschweigung maßgebender Tatsachen herbeigeführt hat oder wenn er erkennnen mußte, daß die Leistung nicht oder nicht in dieser Höhe gebührte. Die Verpflichtung zum Ersatz des empfangenen Arbeitslosengeldes besteht auch dann, wenn im Falle des § 12 Abs 8 das Weiterbestehen des Beschäftigungsverhältnisses festgestellt wurde, sowie in allen Fällen, in denen rückwirkend das Bestehen eines Beschäftigungsverhältnisses festgestellt oder vereinbart wird. Der Empfänger einer Leistung nach diesem Bundesgesetz ist auch zum Ersatz des unberechtigt Empfangenen zu verpflichten, wenn sich auf Grund seines bzw. seines Angehörigen nachträglich vorgelegten Einkommen- bzw. Umsatzsteuerbescheides ergibt, daß die Leistung nicht oder nicht in dieser Höhe gebührte. Ebenso ist der Empfänger des Arbeitslosengeldes (der Notstandshilfe) zum Ersatz des unberechtigt Empfangenen zu verpflichten, wenn nachträglich festgestellt wird, daß der Empfänger nicht arbeitslos im Sinne des § 12 Abs 3 litg war."

1. Die beim Verfassungsgerichtshof zu B1885/97 anhängige Beschwerde rügt einen Bescheid der Landesgeschäftsstelle des Arbeitsmarktservice Salzburg (Ausschuß für Leistungsangelegenheiten), mit dem gemäß § 24 Abs 2 AlVG die Zuerkennung des Arbeitslosengeldes an den Beschwerdeführer für den Zeitraum vom bis widerrufen wurde und ihm die in dieser Zeit zu Unrecht empfangenen Leistungen im Gesamtbetrag von 47.218 S gemäß § 25 Abs 1 (dritter Satz) AlVG zum Rückersatz vorgeschrieben wurden, weil sich nachträglich aufgrund des Umsatzsteuerbescheides für das Jahr 1995 herausgestellt habe, daß 11,1 % seines Jahresumsatzes über der in § 5 Abs 2 ASVG normierten Geringfügigkeitsgrenze liege, sodaß Arbeitslosigkeit nicht anzunehmen sei.

Bei Beratung über diese Beschwerde sind im Verfassungsgerichtshof Bedenken ob der Verfassungsmäßigkeit des § 25 Abs 1 dritter Satz AlVG idF BGBl. 297/1995 entstanden. Er ist unter Bezugnahme auf VfSlg. 14095/1995 und den damaligen Einleitungsbeschluß davon ausgegangen, daß es in den Fällen des dritten Satzes anders als im Regelfall des Abs 1 (Satz 1) auch dann zur Rückzahlungsverpflichtung kommt, wenn der Empfänger den Bezug nicht durch unwahre Angaben oder Verschweigung maßgeblicher Tatsachen herbeigeführt hat und auch nicht erkennen konnte, daß die Leistung nicht (oder nicht in dieser Höhe) gebührt, und daß das die Kehrseite des Umstandes ist, daß die Leistungsverpflichtung bloß aufgrund eidesstattlicher Erklärung des Leistungsbeziehers über die Höhe seines Einkommens entsteht; er verwies auf die in diesem Erkenntnis getroffene Feststellung, daß diese Regelung in einer erheblichen Zahl von Fällen unzumutbare Folgen hat und dem aus dem Gleichheitssatz abzuleitenden Sachlichkeitsgebot widerspricht:

"Da nämlich das Arbeitslosengeld (die Notstandshilfe) den maßgeblichen Grenzbetrag des Einkommens im Einzelfall beträchtlich übersteigen kann, muß der Empfänger unter Umständen nicht nur dieses eigene Einkommen zur Gänze, sondern wesentlich mehr zurückzahlen, als er überhaupt an Einkommen erzielt. Er kann der hieraus entstehenden Gefahr einer ihn über sein Einkommen hinaus belastenden Rückzahlung des verbrauchten Arbeitslosengeldes also auch nicht dadurch entgehen, daß er alle selbst erzielten Einkünfte (einschließlich steuerlicher Freibeträge) für diesen Fall zur Seite legt. Er müßte vielmehr jenen Teil des Arbeitslosengeldes (der Notstandshilfe), der den Grenzbetrag übersteigt, von vornherein unangetastet lassen. Das widerspräche aber der Zielsetzung der Versicherungsleistung und kann vom Arbeitslosen nicht erwartet werden.

Jedenfalls bei einer Einkommensermittlung in Jahresabschnitten dürften die Auswirkungen einer solchen Regelung über das hinzunehmende Risiko hinausgehen. Die Unsicherheit über die Entwicklung der Einkommensverhältnisse wird durch die Schwierigkeit der Vorhersage des Ergebnisses des Steuerverfahrens noch verstärkt. Die Zulässigkeit der Ratenzahlung für den Fall, daß die Hereinbringung des Verbrauchten in einem Betrag nicht möglich ist, erleichtert die Lage nur wenig. Es scheint, daß der Gesetzgeber eine den Betrag der eigenen Einkünfte übersteigende Rückzahlung solcher Größenordnung nur für Leistungen vorsehen darf, deren Ungebührlichkeit im Zeitpunkt des Empfanges (Verbrauches) - unter Berücksichtigung der genannten Umstände - zumindest erkennbar war."

2. Die Bundesregierung beantragt, die in Prüfung stehende Bestimmung nicht als verfassungswidrig aufzuheben. Bezugnehmend auf die Aussage des Verfassungsgerichtshofes in VfSlg. 14095/1995, "daß bei Überschreiten der Geringfügigkeitsgrenze jener Betrag ohne weiteres zur Gänze abgeschöpft werden kann, den der selbständig Tätige neben dem Bezug der Leistung aus der Arbeitslosenversicherung erwirtschaftet" führt sie aus:

"Abgesehen davon, daß dieser Betrag weit höher sein kann, als das bezogene Arbeitslosengeld, würde nach Auffassung der Bundesregierung gerade eine solche Regelung zu einer Ungleichbehandlung führen. Wären doch dadurch diejenigen, welche von sich aus - ehrlicherweise - keinen Antrag auf Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung gestellt haben, weil das Einkommen die Geringfügigkeitsgrenze voraussichtlich übersteigen wird, schlechter gestellt als jene, bei welchen sich erst nachträglich herausstellt, daß ihr Einkommen die Geringfügigkeitsgrenze übersteigt. Im Ergebnis wäre eine solche Regelung wohl auch nicht systemkonform, weil dann das Arbeitslosengeld nicht Einkommensersatzfunktion, sondern die Funktion eines Zusatzeinkommens zulasten der Versichertengemeinschaft hätte. Gleiches gilt, wenn man - wie im Prüfungsbeschluß ebenfalls angesprochen - die Rückzahlung an die Voraussetzung der Erkennbarkeit der Ungebührlichkeit zum Zeitpunkt ihres Empfanges bindet. Nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes haben aber von Gesetzgeber gewählte Ordnungssysteme 'in sich sachlich gerechtfertigt' (VfSlg. 10823/1986) zu sein."

II. Das Gesetzesprüfungsverfahren ist zulässig. Die Bedenken des Gerichtshofes sind auch begründet:

1. Daß der Verfassungsgerichtshof bei Behandlung der Beschwerde den dritten Satz des § 25 Abs 1 AlVG idF BGBl. 297/1995 anzuwenden hätte, ist im Verfahren nicht zweifelhaft geworden. Auch hat sich die vorläufige Annahme des Gerichtshofes, daß im Anlaßfall für die Feststellung des Einkommens zur Beantwortung der Frage, ob Arbeitslosigkeit vorliegt, (noch) die nach der AlVG-Novelle BGBl. 817/1993 bestandene Rechtslage maßgeblich sein dürfte, als zutreffend erwiesen. Danach ist das rechtliche Umfeld, in dem die in Prüfung genommene Bestimmung sich auswirkt, in den wesentlichen Zügen das gleiche: es galten Personen, die aus einer selbständigen Erwerbstätigkeit einen Umsatz erzielten, von dem 11,1 % die durch das ASVG bestimmte Geringfügigkeitsgrenze nicht überstiegen, als arbeitslos (§12 Abs 6 litc AlVG idF BGBl. 817/1993); gemäß § 12 Abs 9 AlVG (idF BGBl. 817/1993) wurde der Umsatz aufgrund des Umsatzsteuerbescheides für das Kalenderjahr, in dem das Arbeitslosengeld bezogen wurde, festgestellt; der Leistungsbezieher war nach § 12 Abs 10 AlVG verpflichtet, den Umsatz- bzw. Einkommensteuerbescheid für das Kalenderjahr, in dem das Arbeitslosengeld bezogen wurde, innerhalb bestimmter Frist nach dessen Erlassung der zuständigen Behörde vorzulegen; bis zum Vorliegen eines solchen Bescheides war die Frage der Arbeitslosigkeit (Einkommenshöhe) insbesondere aufgrund einer eidesstattlichen Erklärung des Arbeitslosen über die Höhe seines Umsatzes bzw. seiner Einkünfte, einer allenfalls bereits erfolgten Einkommensteuererklärung bzw. eines Umsatz- bzw. Einkommensteuerbescheides aus einem früheren Jahr vorzunehmen.

2. In der Sache genügt es mithin, auf die Entscheidungsgründe des Erkenntnisses VfSlg. 14095/1995 zu verweisen, mit dem (unter anderem) ausgesprochen wurde, daß der dritte Satz des § 25 Abs 1 AlVG idF BGBl. 615/1987 verfassungswidrig war. Die in diesem Erkenntnis in bezug auf die Verfassungswidrigkeit des dritten Satzes des § 25 Abs 1 AlVG idF BGBl. 615/1987 angestellten Erwägungen treffen auch für den dritten Satz des § 25 Abs 1 AlVG idF BGBl. 297/1995 zu, welcher sich von jenem des § 25 Abs 1 AlVG idF BGBl. 615/1987 nur dadurch unterscheidet, daß nunmehr - anstelle der Aufzählung der einzelnen Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung - nur mehr allgemein von "einer Leistung nach diesem Bundesgesetz" die Rede ist und neben dem Einkommensteuerbescheid im Hinblick auf § 12 Abs 6 litc AlVG auch der Umsatzsteuerbescheid für maßgeblich erklärt wird.

Die von der Bundesregierung ins Treffen geführten Überlegungen gehen an den Entscheidungsgründen dieses Erkenntnisses vorbei. Der Gerichtshof hat nie in Zweifel gezogen, daß es sachlich ist, auch von Personen, bei denen sich aufgrund des vorgelegten Einkommen- bzw. Umsatzsteuerbescheides nachträglich herausstellt, daß das Arbeitslosengeld nicht oder nicht in der ausbezahlten Höhe gebührt, den gesamten Betrag zurückzufordern; er hielt es lediglich für unsachlich, daß dies ohne jede Einschränkung der Fall ist. Er hat auch nicht für verfassungsrechtlich geboten erachtet, solche Sachverhalte dem ersten Satz des § 25 Abs 1 zu unterstellen. Unter den vorauszusetzenden besonderen Verhältnissen ist - wie in VfSlg. 14095/1995 ausgesprochen und begründet wurde - eine über die Pflichten zur Herausgabe des zusätzlichen eigenen Einkommens hinausgehende Rückzahlungspflicht nur zulässig, wenn den Bezieher der Leistung ein Vorwurf trifft oder er den naheliegenden Verdacht eines solchen nicht widerlegen kann, oder aber seine nunmehrige Leistungsfähigkeit aus der neu eröffneten Erwerbsquelle oder auf andere Weise feststeht. Dabei ist offenkundig, daß ein die unbeschränkte Rückzahlungspflicht rechtfertigender Vorwurf auch darin liegen kann, daß der Leistungsbezieher mit der Möglichkeit der Erzielung eines die Geringfügigkeitsgrenze übersteigenden Einkommens oder Umsatzes hätte rechnen müssen. Den Fällen des "voraussichtlichen" Übersteigens der Geringfügigkeitsgrenze stehen aber solche gegenüber, in denen dieses Ergebnis nicht vorhersehbar und überraschend ist. Sein Eintritt darf daher nicht ausschließlich das Risiko des Leistungsempfängers sein (wenn nicht die Rückzahlung ohne außergewöhnliche Belastung möglich ist).

Die in Prüfung gezogene Gesetzesvorschrift verstößt sohin gegen das auch den Gesetzgeber bindende Gleichheitsgebot.

Da das Verfahren auch nicht ergeben hat, daß durch die Änderung anderer Bestimmungen des AlVG (vgl. insb. die mit der Novelle BGBl. 297/1995 eingefügten Bestimmungen der §§36a ff. betreffend die Feststellung des Einkommens, die allerdings ihrerseits zum Teil ebenfalls der Aufhebung verfallen sind (s. )) eine neue, dem Sachlichkeitsgebot insgesamt entsprechende Rechtslage geschaffen wurde, ist § 25 Abs 1 dritter Satz AlVG idF BGBl. 297/1995 aufzuheben.

Im Hinblick darauf, daß bereits mit Erkenntnissen VfSlg. 14095/1995 und 14114/1995 die Verfassungswidrigkeit der Vorgängerbestimmungen des dritten Satzes des § 25 Abs 1 AlVG aus den gleichen Gründen festgestellt worden ist, sieht der Verfassungsgerichtshof von der Setzung einer Frist für das Inkrafttreten der Aufhebung ab.

Die Kundmachungsverpflichtung stützt sich auf Art 140 Abs 5

B-VG.

Da von einer mündlichen Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht zu erwarten war, wurde von einer mündlichen Verhandlung abgesehen (§19 Abs 4 erster Satz VerfGG).