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VfGH vom 13.03.1993, g58/93

VfGH vom 13.03.1993, g58/93

Sammlungsnummer

13336

Leitsatz

Kein Widerspruch von Bestimmungen des PaßG 1969 über die Versagung der Erteilung eines Sichtvermerks zum Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens; weite Fassung der Eingriffstatbestände des Art 8 Abs 2 EMRK; verfassungskonforme Auslegung möglich

Spruch

1. Die litb, d und e des § 25 Abs 3 Paßgesetz 1969, BGBl. Nr. 422, waren nicht verfassungswidrig.

2. Die vom Verwaltungsgerichtshof unter den Zlen. A46/92, A47/92, A48/92, A49/92, A50/92, A51/92, A53/92, A54/92, A55/92, A56/92, A57/92, A1/93, A2/93, A3/93, A4/93, A5/93, A6/93, A7/93 und A8/93 gestellten Anträge werden abgewiesen.

3. Die vom Verwaltungsgerichtshof unter den Zlen. A9/93, A10/93, A11/93, A12/93, A13/93, A15/93, A16/93, A17/93, A18/93 und A19/93 gestellten Anträge werden zurückgewiesen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1.a) aa) Die Bundespolizeidirektion (BPD) Wien und die Bezirkshauptmannschaft (BH) Reutte wiesen gemäß § 25 Abs 3 litb, d oder e Paßgesetz 1969, BGBl. 422, mit Bescheiden, die zwischen und datiert sind, Anträge von Fremden auf Erteilung von Sichtvermerken (SV) ab. Gegen diese Bescheide erhoben die Sichtvermerkswerber auf Art 144 (Abs1) B-VG gestützte, an den Verfassungsgerichtshof gerichtete Beschwerden:

zu B509/92: Bescheid der BPD Wien, SV-Versagung

gemäß § 25 Abs 3 lite PaßG;

zu B587/92: Bescheid der BPD Wien, SV-Versagung

gemäß § 25 Abs 3 litd PaßG;

zu B781/92: Bescheid der BPD Wien, SV-Versagung

gemäß § 25 Abs 3 litd PaßG;

zu B789/92: Bescheid der BPD Wien, SV-Versagung

gemäß § 25 Abs 3 litd PaßG;

zu B819/92: Bescheid der BH Reutte, SV-Versagung

gemäß § 25 Abs 3 litb PaßG.

bb) Der Verfassungsgerichtshof hat aus Anlaß dieser Beschwerden aufgrund unten (s. Pkt. III.2.a) näher dargestellter Überlegungen beschlossen, die Verfassungsmäßigkeit folgender Bestimmungen des § 25 Abs 3 PaßG 1969 gemäß Art 140 Abs 1 B-VG von Amts wegen zu prüfen (G212-215/92, G17/93):

aus Anlaß der zu B509/92 erhobenen Beschwerde die lite,

aus Anlaß der zu B587/92, B781/92 und B789/92

erhobenen Beschwerden die litd und

aus Anlaß der zu B819/92 eingebrachten Beschwerde die litb.

b) Der Verwaltungsgerichtshof stellte aus Anlaß bei ihm anhängiger, gleichgelagerter Beschwerdefälle - mit näherer Begründung (s.u. III.2.b) - gemäß Art 140 Abs 1 B-VG an den Verfassungsgerichtshof Anträge, die folgenden Bestimmungen des § 25 Abs 3 PaßG 1969 als verfassungswidrig aufzuheben bzw. gemäß Art 140 Abs 4 B-VG auszusprechen, daß sie verfassungswidrig waren:

zu G242/92: Antrag des VwGH Zl. A46/92 (92/18/0443), betr. litd,

zu G243/92: Antrag des VwGH Zl. A48/92 (92/18/0455), betr. litd,

zu G244/92: Antrag des VwGH Zl. A47/92 (92/18/0457), betr. litd,

zu G245/92: Antrag des VwGH Zl. A49/92 (92/18/0148), betr. lite,

zu G256/92: Antrag des VwGH Zl. A50/92 (92/18/0370), betr. litd und e,

zu G259/92: Antrag des VwGH Zl. A51/92 (92/18/0456), betr. litd,

zu G2/93: Antrag des VwGH Zl. A53/92 (92/18/0449), betr.

litd,

zu G3/93: Antrag des VwGH Zl. A55/92 (92/18/0483), betr.

litd,

zu G19/93: Antrag des VwGH Zl. A54/92 (92/18/0473), betr.

litd,

zu G20/93: Antrag des VwGH Zl. A56/92 (92/18/0489), betr.

litd,

zu G22/93: Antrag des VwGH Zl. A2/93 (92/18/0530), betr.

litd,

zu G24/93: Antrag des VwGH Zl. A57/92 (92/18/0490), betr.

litd,

zu G27/93: Antrag des VwGH Zl. A1/93 (92/18/0508), betr.

litd,

zu G38/93: Antrag des VwGH Zl. A8/93 (93/18/0011), betr.

litd,

zu G39/93: Antrag des VwGH Zl. A7/93 (93/18/0005), betr.

litd,

zu G40/93: Antrag des VwGH Zl. A6/93 (92/18/0510), betr.

litd,

zu G41/93: Antrag des VwGH Zl. A5/93 (92/18/0509), betr.

lite,

zu G42/93: Antrag des VwGH Zl. A4/93 (92/18/0464), betr.

litd,

zu G43/93: Antrag des VwGH Zl. A3/93 (93/18/0012), betr.

litd.

2. Die Bundesregierung erstattete in den Gesetzesprüfungsverfahren Äußerungen. Sie begehrt, der Verfassungsgerichtshof wolle aussprechen, daß die in Prüfung gezogenen Gesetzesstellen nicht verfassungswidrig waren (Begründung s. u. III.3).

II. 1. Aus Anlaß von zehn weiteren Beschwerdefällen, denen ebenfalls Bescheide zugrundeliegen, mit denen gemäß § 25 Abs 3 litb, d oder e Paßgesetz 1969 die Erteilung von Sichtvermerken versagt wurde oder Sichtvermerke für ungültig erklärt wurden, stellte der Verwaltungsgerichtshof gleichfalls Anträge, gemäß Art 140 Abs 4 B-VG auszusprechen, daß folgende Bestimmungen des § 25 Abs 3 PaßG 1969 verfassungswidrig waren:

zu G49/93: Antrag des VwGH Zl. A15/93 (92/18/0478), betr. litb,

zu G50/93: Antrag des VwGH Zl. A 9/93 (92/18/0518), betr. litd,

zu G51/93: Antrag des VwGH Zl. A10/93 (92/18/0523-0526), betr. litd,

zu G52/93: Antrag des VwGH Zl. A11/93 (93/18/0002), betr. litd,

zu G53/93: Antrag des VwGH Zl. A12/93 (93/18/0014), betr. litd,

zu G54/93: Antrag des VwGH Zl. A18/93 (92/18/0517), betr. litd,

zu G55/93: Antrag des VwGH Zl. A13/93 (93/18/0019), betr. lite,

zu G56/93: Antrag des VwGH Zl. A16/93 (92/18/0492), betr. lite,

zu G57/93: Antrag des VwGH Zl. A17/93 (92/18/0493), betr. lite,

zu G58/93: Antrag des VwGH Zl. A19/93 (92/18/0519), betr. lite.

2. Eine Einbeziehung der unter Pkt. 1. angeführten, beim Verfassungsgerichtshof am eingelangten Anträge war im Hinblick auf das fortgeschrittene Prozeßgeschehen (Beratung am ) nicht mehr möglich. Sie waren sohin zurückzuweisen (vgl. z.B. VfSlg. 10394/1985, S 330).

III. 1.a) Das PaßG 1969 wurde durch das Fremdengesetz - FrG, BGBl. 838/1992, und das Paßgesetz 1992, BGBl. 839/1992, abgelöst. Das PaßG 1969 trat mit außer Kraft (§25 Abs 2 PaßG 1992).

b) § 25 Abs 1 bis 3 PaßG 1969 (die litc des Abs 3 idF des BG BGBl. 510/1974) lautete (die in Prüfung gezogenen Bestimmungen sind hervorgehoben):

"§25. (1) Ein Sichtvermerk kann einem Fremden auf Antrag erteilt werden, sofern kein Versagungsgrund gemäß Abs 3 vorliegt.

(2) Die Behörde hat bei der Ausübung des ihr im Abs 1 eingeräumten freien Ermessens auf die persönlichen Verhältnisse des Sichtvermerkswerbers und auf die öffentlichen Interessen, insbesondere auf die wirtschaftlichen und kulturellen Belange, auf die Lage des Arbeitsmarktes und auf die Volksgesundheit Bedacht zu nehmen.

(3) Die Erteilung eines Sichtvermerkes ist zu versagen, wenn

a) der Sichtvermerkswerber nicht im Besitze eines gültigen Reisedokumentes ist oder

b) die Wiederausreise nicht gesichert ist, es sei denn, daß dem Sichtvermerkswerber ein unbefristeter Sichtvermerk erteilt wird

oder

c) gegen den Sichtvermerkswerber ein rechtskräftiges Aufenthaltsverbot besteht, es sei denn, daß ihm eine Bewilligung gemäß § 6 Abs 1 des Fremdenpolizeigesetzes, BGBl. Nr. 75/1954, erteilt worden ist

oder

d) die Annahme gerechtfertigt ist, daß ein Aufenthalt des Sichtvermerkswerbers im Bundesgebiet die öffentliche Ruhe, Ordnung oder Sicherheit gefährden würde

oder

e) die Annahme gerechtfertigt ist, daß ein Aufenthalt des Sichtvermerkswerbers im Bundesgebiet zu einer finanziellen Belastung der Republik Österreich führen könnte

oder

f) die Annahme gerechtfertigt ist, daß ein Aufenthalt des Sichtvermerkswerbers im Bundesgebiet die Beziehungen der Republik Österreich zu einem anderen Staat beeinträchtigen würde.

(4) - (5) . . .".

c) Der Verfassungsgerichtshof hat sich im Erkenntnis VfSlg. 11044/1986 mit der Frage der Verfassungsmäßigkeit des § 25 Abs 1 und 2 PaßG 1969 beschäftigt und dargetan, weshalb er unter dem Gesichtspunkt des damaligen Beschwerdefalles gegen diese Bestimmungen keine verfassungsrechtlichen Bedenken hegt. Er wies deutlich darauf hin, daß er sich nur mit den Abs 1 und 2 des § 25 PaßG 1969 auseinanderzusetzen habe; damals waren nämlich nur diese Vorschriften - nicht auch der folgende Abs 3 - präjudiziell. Der Gerichtshof betonte, er habe insbesondere nicht das Bedenken, daß § 25 Abs 1 und 2 leg.cit. gegen Art 8 EMRK verstießen. Wörtlich führte er sodann aus:

"§25 PaßG unterscheidet sich nämlich maßgeblich von § 3 Fremdenpolizeigesetz (FrPG), der mit hg. Erk. VfSlg. 10737/1985 wegen Widerspruches zu dieser innerstaatlich auf Verfassungsstufe stehenden Konventionsbestimmung aufgehoben wurde:

Dem Art 8 EMRK zufolge sind Maßnahmen, die in das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens eingreifen, nur dann verfassungsmäßig, wenn sie dem Eingriffsvorbehalt des Art 8 Abs 2 EMRK entsprechen. § 25 PaßG sieht nun zwar gleich wie § 3 FrPG - Maßnahmen vor, die geeignet sind, in die durch Art 8 Abs 1 EMRK geschützten Güter einzugreifen. So kann etwa dadurch, daß einem Fremden, der sich im Ausland aufhält, während seine Familie in Österreich lebt, die Erteilung eines Sichtvermerkes verweigert wird, eine Familienzusammenführung verhindert werden. So kann beispielsweise die Verweigerung eines (weiteren) Sichtvermerkes für einen Fremden bewirken, daß sein (weiterer) Aufenthalt in Österreich illegal wird, was letztlich Grund für seine Abschiebung sein kann, gegen die er sich dann nicht mehr mit Erfolg zur Wehr setzen könnte; dies wiederum würde allenfalls einen Eingriff in das Familien- und Privatleben des Fremden darstellen (s. hiezu VfSlg. 10737/1985).

§ 25 PaßG unterscheidet sich aber insofern von § 3 FrPG, als die Verweigerung eines Sichtvermerkes nicht mit derselben Wahrscheinlichkeit und Intensität in das Privat- und Familienleben eingreift wie ein Aufenthaltsverbot: In der Regel ist die beabsichtigte Einreise nach Österreich nicht mit einer Familienzusammenführung motiviert. Hält sich ein Fremder bereits in Österreich auf, so wird ihm (zunächst) meist bloß ein kurzfristiger Sichtvermerk erteilt; von einer familiären Bindung in Österreich ist in diesen Fällen bei einer Durchschnittsbetrachtung keine Rede.

Gerade die spezifische Eingriffsnähe (die besondere Intensität und Wahrscheinlichkeit des Eingriffs) hat aber den Verfassungsgerichtshof bewogen, § 3 FrPG wegen Widerspruchs zu Art 8 EMRK aufzuheben, weil (nur) bei einer solchen Eingriffsnähe die Eingriffsschranken vom Gesetz selbst mit besonderer Deutlichkeit umschrieben sein müssen. Diese strengen Anforderungen an die spezifische Determinierung durch das Gesetz sind aufgrund der obigen Überlegungen für die Voraussetzungen, unter denen ein Sichtvermerk zu verweigern ist, nicht zu stellen.

§ 25 PaßG schreibt immerhin vor, wie die Behörde das ihr eingeräumte freie Ermessen zu handhaben hat; Abs 2 enthält darüber eine allgemeine Bestimmung; Abs 3 erläutert dies durch die beispielsweise Aufzählung von speziellen Versagungsgründen. Wenngleich eine derartige Umschreibung in den Fällen eines Aufenthaltsverbotes kaum ausreichen würde, ist sie bei der Versagung eines Sichtvermerkes gerade noch hinzunehmen.

Diese Vorschriften im Zusammenhalt mit den übrigen Bestimmungen des PaßG determinieren das Verhalten der Behörden in gerade noch ausreichender Weise. Insbesondere ergibt sich aus dem ausdrücklichen Gebot des § 25 Abs 2 PaßG, ua. auch auf die 'persönlichen Verhältnisse des Sichtvermerkswerbers' und auf die (näher spezifizierten) öffentlichen Interessen Bedacht zu nehmen, daß - sofern nicht ein zwingender Versagungsgrund ('... ist zu versagen') des (hier nicht präjudiziellen) § 25 Abs 3 PaßG vorliegt - stets die durch Art 8 EMRK vorgezeichnete (im wiederholt zitierten hg. Erk. vom (= VfSlg. 10737/1985) näher umschriebene) Interessenabwägung vorzunehmen ist; ferner ist dem Normenkomplex auch mit hinlänglicher Bestimmtheit zu entnehmen, wie die Interessenabwägung stattzufinden hat."

2.a) Der Verfassungsgerichtshof stellte sich in den Einleitungsbeschlüssen zu G212-215/92 und G17/93 (s.o. I.1.a.bb) vorläufig auf den Boden dieses Vorerkenntnisses.

In ihm wird dargetan, daß die Versagung eines Sichtvermerkes geeignet ist, in das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens einzugreifen, das durch den - auf Verfassungsstufe stehenden (ArtII Z 7 B-VG-Nov. 1964, BGBl. 59) - Art 8 EMRK geschützt ist. Dieses Recht steht unter dem materiellen Eingriffsvorbehalt des Art 8 Abs 2 EMRK (s. unten, Pkt. IV.2.).

§ 25 Abs 3 litb, d und e PaßG 1969 scheine - so nahm der Verfassungsgerichtshof in den Einleitungsbeschlüssen vorläufig an - den in Art 8 Abs 2 EMRK umschriebenen Anforderungen nicht zu genügen:

"Hat nämlich § 25 Abs 3 leg.cit. den im ... zitierten Vorerkenntnis angenommenen Inhalt, daß dann, wenn einer der dort aufgezählten Versagungsgründe (etwa jener der litb, der litd oder der lite) vorliegt, die Erteilung eines Sichtvermerkes zwingend zu versagen ist, so wird der Behörde damit verboten, auf die persönlichen Verhältnisse des Antragstellers, so etwa darauf Bedacht zu nehmen, ob durch die Versagung des Sichtvermerkes in sein Privat- und Familienleben eingegriffen wird. Der Verfassungsgerichtshof nimmt vorläufig an, daß Art 8 Abs 2 EMRK nicht in jedem vom § 25 Abs 3 litb, d und e PaßG 1969 erfaßten Fall erlaubt, ohne jede Rücksichtnahme auf die familiären und privaten Beziehungen des Fremden die Erteilung eines Sichtvermerkes zu versagen, und daß es daher geboten wäre, auch bei Vorliegen der im § 25 Abs 3 litb, d und e PaßG 1969 umschriebenen Voraussetzungen die zu erwartenden öffentlichen Interessen daran, daß der Fremde das Bundesgebiet verläßt oder nicht in dieses einreisen darf, gegen die familiären (allenfalls auch privaten) Interessen des Fremden am Verbleib in oder an der Einreise nach Österreich gegeneinander abzuwägen (vgl. zB VfSlg. 10737/1985, S 893 f.).

Mit anderen Worten: Der Verfassungsgerichtshof geht im Rahmen einer vorläufigen Beurteilung davon aus, daß es - nicht vernachlässigbare - Konstellationen geben kann, in denen es auch bei Vorliegen eines der Sichtvermerksversagungsgründe (wie sie in den in Prüfung gezogenen Bestimmungen umschrieben sind) dem Art 8 EMRK zufolge geboten wäre, bei der Entscheidung über die Erteilung des Sichtvermerkes auf das Privat- und Familienleben des Sichtvermerkswerbers Bedacht zu nehmen."

b) Der Verwaltungsgerichtshof bezog sich in seinen Anträgen (s.o. I.1.b) auf die soeben auszugsweise wiedergegebenen Einleitungsbeschlüsse des Verfassungsgerichtshofes; er schloß sich den darin geäußerten verfassungsrechtlichen Bedenken an.

3. Die Bundesregierung verteidigte in ihren Äußerungen die Verfassungsmäßigkeit der in Prüfung gezogenen Gesetzesbestimmungen wie folgt:

"1. ... (Wiedergabe der vom Verfassungsgerichtshof in den Einleitungsbeschlüssen ob der Verfassungsmäßigkeit geäußerten Bedenken)

2. Die Bundesregierung geht wie der Verfassungsgerichtshof in seinem Erkenntnis 11.044/1986 davon aus, daß die Verweigerung eines Sichtvermerkes typischerweise nicht mit derselben Wahrscheinlichkeit und Intensität in das Privat- und Familienleben eingreift, wie ein Aufenthaltsverbot. Im genannten Erkenntnis hat es der Verfassungsgerichtshof als Regel angenommen, daß die beabsichtigte Einreise nach Österreich nicht mit einer Familienzusammenführung motiviert sei, und daß in jenen Fällen, in denen sich ein Sichtvermerkswerber bereits im Bundesgebiet aufhält, ihm (zunächst) meist bloß ein kurzfristiger Sichtvermerk erteilt werde; von einer familiären Bindung in Österreich sei in diesen Fällen bei einer Durchschnittsbetrachtung keine Rede. Es sei daher verfassungskonform, wenn der Gesetzgeber eine Bedachtnahme auf das Privat- und Familienleben des Sichtvermerkswerbers mit den bloßen Worten anordne, daß bei der Entscheidung über den Antrag auf Sichtvermerkserteilung 'auf die persönlichen Verhältnisse des Sichtvermerkswerbers ... Bedacht zu nehmen' ist.

Auch aus der Rechtsprechung der Europäischen Kommission und des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte ergibt sich, daß die Verweigerung des Einreise- oder Aufenthaltsrechts für einen Fremden nur dann einen Eingriff und allenfalls eine Verletzung des in Art 8 EMRK gewährleisteten Rechtes auf Achtung des Privat- und Familienlebens darstellt, wenn ernsthafte Hindernisse bestehen, daß das Familienleben in einem anderen Staat fortgesetzt wird (vgl. z. B. das Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte im Fall Abdulaziz u.a. vom , EuGRZ 1985, 567 und die von Pernthaler-Kathrein, Der grundrechtliche Schutz von Ehe und Familie - Art 8 und 12 EMRK, in: Machacek-Pahr-Stadler, Grund- und Menschenrechte in Österreich, Bd. II, 1992, 245, 272 und von Wildhaber, in Karl-Miehsler (Red), Internationaler Kommentar zur Europäischen Menschenrechtskonvention, Loseblattausgabe, Art 8, RZ 415 ff wiedergegebene Rechtsprechung. Stets wird in dieser Rechtsprechung auch hervorgehoben, daß die EMRK und insbesondere Art 8 EMRK kein Recht auf Einreise oder Aufenthalt in einem Staat gewähren.

3. Es ist darauf hinzuweisen, daß nach der für das vorliegende Gesetzesprüfungsverfahren relevanten Rechtslage im Falle der Verweigerung der Erteilung eines Sichtvermerkes ein Eingriff in das Privat- und Familienleben des Betroffenen allein deshalb wenig wahrscheinlich war oder doch nur von geringer Intensität sein konnte, weil im Falle von Fremden, die sich bereits in Österreich aufhalten, die Verweigerung der Erteilung des Sichtvermerkes nicht notwendig die Abschiebung und damit die Unterbrechung familiärer Beziehungen des Betroffenen zur Folge hatte. Für eine Abschiebung bedurfte es vielmehr in der Regel der Erlassung eines Aufenthaltsverbotes, bei dessen Erlassung ohnehin auf das Privat- und Familienleben Bedacht zu nehmen war. Weiters konnte ein Aufenthaltsrecht auch aus einem anderen Rechtstitel als jenem des Sichtvermerkes gemäß § 25 des Paßgesetzes 1969, nämlich aufgrund der §§2a, 5 Abs 1, 7 Abs 1 Asylgesetz 1968, § 2 Abs 1 Z 2 (Aufenthaltsberechtigung in Bescheidform) und § 6 Abs 1 zweiter Satz und Abs 2 des Fremdenpolizeigesetzes bestehen oder begründet werden.

Im Fall von Fremden aber, die sich (noch) im Ausland aufhielten und die Ausstellung eines Sichtvermerkes begehrten, war durch Art 8 EMRK die Ausstellung eines Sichtvermerkes und damit die Bewilligung einer Einreise nur in Ausnahmefällen geboten. Aus Art 8 EMRK kann ein allgemeines Recht auf Familiennachzug nämlich nicht abgeleitet werden. (vgl. Klecatsky-Morscher, Bundesverfassungsrecht, 1131). Insbesondere in jenen Fällen, in denen Familienmitglieder familiäre Beziehungen anders als durch ihre Einreise in das Bundesgebiet - etwa durch Ausreise aus dem Bundesgebiet - in zumutbarer Weise herstellen können, kann aus Art 8 EMRK keine Verpflichtung des Staates abgeleitet werden, einem Fremden die Einreise in das Bundesgebiet zu ermöglichen oder sogar zuzusichern. Gegenteiliges würde bedeuten, daß ein Staat in fraglichen Fällen einen Sichtvermerk unbedingt gewähren (vielleicht sogar ein Reisedokument zur Verfügung stellen) müßte und damit unter Umständen auch anfallende Kosten für die Finanzierung des Aufenthaltes bzw. der Wiederausreise zu tragen hätte. Ein solcher Inhalt kann dem Art 8 EMRK, welche Bestimmung bloß zur Achtung des Privat- und Familienlebens verpflichtet, nicht unterstellt werden.

4. Im genannten Erkenntnis VfSlg. 11044/1986 hat der Verfassungsgerichtshof auch ausgeführt, daß § 25 Abs 3 des Paßgesetzes 1969 die Bedeutung hat, durch eine beispielsweise Aufzählung von speziellen Versagungsgründen den Inhalt der im § 25 Abs 2 leg.cit. enthaltenen Ermessensklausel zu erläutern.

Ferner hat der Verfassungsgerichtshof im Erkenntnis VfSlg. 11638/1988 entschieden, daß gegen § 6 Abs 1 zweiter Satz des Fremdenpolizeigesetzes, in der Fassung BGBl. Nr. 555/1986, wonach ein Fremder, gegen den ein Aufenthaltsverbot erlassen worden ist, das Bundesgebiet 'ohne Bewilligung nicht wieder betreten' darf, keine verfassungsrechtlichen Bedenken bestehen. Dies trotz des Umstandes, daß in dieser Bestimmung, die als gesetzliche Ermächtigung zur Erteilung einer Bewilligung zum Wiederbetreten des Bundesgesetzes (richtig wohl: Bundesgebietes) diente, keinerlei ausdrückliche Bedachtnahme auf das Privat- und Familienleben angeordnet war. Nach Auffassung des Verfassungsgerichtshofes war eine solche ausdrückliche Bedachtnahme deswegen nicht notwendig, weil § 6 Abs 1 zweiter Satz Fremdenpolizeigesetz 'seinen Inhalt nur im Zusammenhalt mit § 3 FrPG über das Aufenthaltsverbot' gewinnt, und diese Bestimmung im Hinblick auf die für ihr Außerkraftreten bestimmte Frist in verfassungsrechtlicher Hinsicht unangreifbar war (vgl. die Ausführungen in VfSlg. 11638/1987 S 179). Aus denselben Gründen hielt der Verfassungsgerichtshof im Erkenntnis VfSlg. 11218/1987 auch § 8 des Fremdenpolizeigesetzes (Regelung der Voraussetzungen für die Aufhebung eines Aufenthaltsverbotes) für verfassungsrechtlich unbedenklich.

5. Selbst wenn man der unter Pkt. 4 vertretenen Auslegung nicht folgen wollte, so ist zugunsten der Verfassungsmäßigkeit der in Prüfung gezogenen Gesetzesstellen auszuführen, daß bei ihrer Anwendung kein oder doch nur in vernachlässigbaren Ausnahmefällen ein Konflikt mit dem in Art 8 EMRK verankerten Prinzip der Achtung des Privat- und Familienlebens entstehen konnte.

5.1. Gemäß § 25 Abs 3 litb PaßG 1969 war ein Sichtvermerk zu versagen, wenn die Wiederausreise nicht gesichert ist, es sei denn, daß dem Sichtvermerkswerber ein unbefristeter Sichtvermerk erteilt wird. Dieser Sichtvermerksversagungstatbestand kam regelmäßig nur dann in Betracht, wenn die Einreise in das Bundesgebiet begehrt wurde. Hiebei sind zwei Gesichtspunkte zu unterscheiden:

Einmal war die Sicherung der Wiederausreise in materieller Hinsicht im wesentlichen nur in jenen Fällen relevant, in welchen der Sichtvermerkswerber selbst kein entsprechendes Vermögen hatte, und auch keine taugliche 'Verpflichtungserklärung' etwa durch nahe Angehörige vorlag. Bei einer sozialen Bindung und Integration in Österreich war aber ein Familienmitglied regelmäßig zur Abgabe einer derartigen Verpflichtungserklärung in der Lage.

Zum zweiten war die Sicherung der Wiederausreise in rechtlicher Hinsicht im Sinne der Erläuternden Bemerkungen zu § 25 Abs 3 litb des Paßgesetzes 1969 zu verstehen. Dort wird ausgeführt, daß der Nachweis vorliegen muß, daß der Fremde auf Grund seines Reisedokumentes oder des Sichtvermerkes eines anderen Staates entweder in seinen Heimatstaat zurückkehren oder in einen dritten Staat weiterreisen kann (vgl. 1191 BlgNR 11.GP, 49).

Es war somit Zweck des Sichtvermerksversagungstatbestandes des § 25 Abs 3 litb des Paßgesetzes 1969, der 'Erzwingung eines dauernden Aufenthaltes' (vgl. dazu die Beweggründe, die zur Erlassung des AsylG 1991 geführt haben, in 270 BlgNR 18.GP, 19) entgegenzuwirken. Eine solche Regelung scheint aber im Hinblick auf Art 8 Abs 2 EMRK, namentlich im Sinne der dort genannten Tatbestände der nationalen Sicherheit, der öffentlichen Ordnung wie auch des wirtschaftlichen Wohls des Landes, jedenfalls zulässig.

5.2. Gemäß § 25 Abs 3 lite des Paßgesetzes 1969 war ein Sichtvermerk zu versagen, wenn die Annahme gerechtfertigt war, daß ein Aufenthalt des Sichtvermerkwerbers im Bundesgebiet zu einer finanziellen Belastung der Republik Österreich führen könnte. Diesem Tatbestand lag der Umstand zugrunde, daß Vermögenslosigkeit erfahrungsgemäß die erhöhte Gefahr kriminellen Verhaltens des betroffenen Fremden verursacht. Aus dieser Überlegung heraus konnte davon ausgegangen werden, daß die Bestimmungen des § 25 Abs 3 litb, e des Paßgesetzes 1969 im Sinne der nationalen Sicherheit, der öffentlichen Ordnung wie auch des wirtschaftlichen Wohls des Landes gerechtfertigt waren.

Der Verfassungsgerichtshof hat bereits in der Vergangenheit ausgesprochen, daß eine den in Prüfung gezogenen Gesetzesstellen entsprechende, das überwiegende öffentliche Interesse an der Abwesenheit eines Fremden vom Bundesgebiet (hier: an der Nichtgewährung des Sichtvermerkes) präsumierende (Ausnahms-)Vorschrift dem Eingriffsvorbehalt des Art 8 Abs 2 EMRK grundsätzlich nicht widerspricht (vgl. VfSlg. 10737/1985, 892 und 11455/1987). Auch die dabei geprüften Bestimmungen dienten gemäß Art 8 Abs 2 EMRK gerechtfertigten Zielen, die vorgesehenen Beschränkungen waren zur Erreichung dieser Ziele 'in einer demokratischen Gesellschaft notwendig' (vgl. z.B. EGMR in den Fällen Sunday Times und Silver, EuGRZ 1979, 287 und 1984, 149).

5.3. § 25 Abs 3 litd des Paßgesetzes 1969 schließlich sah die Versagung eines Sichtvermerkes vor, wenn die Annahme gerechtfertigt war, daß ein Aufenthalt des Sichtvermerkserwerbers im Bundesgebiet die öffentliche Ruhe, Ordnung oder Sicherheit gefährden würde. Dieser Versagungstatbestand fiel zur Gänze in den Eingriffsvorbehalt des Art 8 Abs 2 EMRK, der u.a. auf die nationale Sicherheit und die öffentliche Ordnung Bezug nimmt. Diese Bestimmung war somit verfassungskonform, zumindest aber ohne Schwierigkeiten verfassungskonform interpretierbar."

IV. Der Verfassungsgerichtshof hat in der Sache erwogen:

1. Die Anlaßbeschwerden (s.o. I.1.a) sind zulässig; so ist der administrative Instanzenzug ausgeschöpft (§28 PaßG 1969).

Der Verfassungsgerichtshof wird daher über die an ihn gerichteten Beschwerden in der Sache zu entscheiden haben. Hiebei hätte er die jeweils in Prüfung gezogenen literae des § 25 Abs 3 PaßG 1969 anzuwenden; sie sind daher in den einzelnen Anlaßverfahren präjudiziell.

Da auch die übrigen Prozeßvoraussetzungen vorliegen, sind die von Amts wegen eingeleiteten Gesetzesprüfungsverfahren zulässig.

Es sind keine Anhaltspunkte hervorgekommen, daß Gleiches nicht auch für jene Verfahren gilt, die aufgrund der oben unter I.1.b angeführten Anträge des Verwaltungsgerichtshofes eingeleitet wurden.

2. Der Verfassungsgerichtshof sieht keine Veranlassung, von der im Erkenntnis VfSlg. 11044/1986 (s.o. III.1.c) vertretenen Auffassung abzugehen, daß die Versagung eines Sichtvermerkes geeignet ist, in das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens einzugreifen, das durch Art 8 Abs 1 EMRK verfassungsgesetzlich geschützt ist. Ein Eingriff in dieses Recht ist dem materiellen Gesetzesvorbehalt des Art 8 Abs 2 EMRK zufolge nur statthaft,

"insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist."

Zwar besteht - wie gleichfalls im zitierten Erkenntnis dargetan wird - bei einer Versagung des Sichtvermerkes nicht dieselbe spezifische Eingriffsnähe in das erwähnte Grundrecht wie etwa bei einem Aufenthaltsverbot (vgl. VfSlg. 10737/1985, betreffend die Aufhebung des § 3 Fremdenpolizeigesetz); dennoch wäre die Annahme unzutreffend, daß Eingriffe in das durch Art 8 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht nur in vernachlässigbaren Einzelfällen eintreten könnten; bewirkt doch etwa die Versagung eines Sichtvermerkes häufig, daß eine Familienzusammenführung verhindert wird oder der Verlust der Aufenthaltsberechtigung eintritt, obgleich Familienangehörige des Sichtvermerkswerbers rechtmäßig in Österreich leben.

In den hg. Einleitungsbeschlüssen und - diesen folgend - in den Anträgen des Verwaltungsgerichtshofes wird weiters (richtig) angenommen, die Versagungsgründe des § 25 Abs 3 PaßG 1969 stellten zwingendes Recht dar (s. hiezu die diese Annahme bestätigenden Erläuterungen zum § 10 der RV zum Fremdengesetz 1992, 692 BlgNR

18. GP, S 34 (die Sichtvermerksversagungsgründe nach § 10 Abs 2,§ 10 Abs 1 Z 4 und Z 3 FremdenG 1992 gleichen weitgehend den in Prüfung gezogenen litb, d und e des § 25 Abs 3 PaßG 1969)).

Aus diesen zutreffenden Prämissen wird in den die Gesetzesprüfungsverfahren einleitenden Beschlüssen schließlich gefolgert, daß § 25 Abs 3 litb, d und e PaßG 1969 der Behörde geradezu verbiete, darauf Bedacht zu nehmen, ob durch die Versagung des Sichtvermerkes in das Recht des Antragstellers auf Achtung des Privat- und Familienlebens eingegriffen wird; dies stehe im Widerspruch zu Art 8 EMRK, da es - nicht vernachlässigbare - Fälle geben könne, in denen auch bei Vorliegen eines der Sichtvermerksversagungsgründe dem Art 8 EMRK zufolge eine (in den Einleitungsbeschlüssen näher umschriebene - s.o. III.2.a) Interessenabwägung vorzunehmen wäre.

3. Die in den Prüfungsbeschlüssen und den Anträgen des Verwaltungsgerichtshofes geäußerten Bedenken haben sich als unzutreffend erwiesen:

a) Die litd des § 25 Abs 3 PaßG 1969 schrieb die Versagung eines Sichtvermerkes dann vor, wenn die Annahme gerechtfertigt war, daß ein Aufenthalt des Sichtvermerkswerbers im Bundesgebiet "die öffentliche Ruhe, Ordnung oder Sicherheit gefährden würde".

Art 8 Abs 2 EMRK legt fest, unter welchen Voraussetzungen ein Eingriff in die durch Abs 1 geschützten Rechtsgüter zulässig ist, sei es auf jeden Fall, sei es nach entsprechender Abwägung der öffentlichen gegen die privaten, sich aus Abs 1 ergebenden Interessen. Die in dieser Konventionsnorm enthaltenen Eingriffstatbestände sind so weit gefaßt (s. - neben "öffentliche Ruhe und Ordnung" - beispielsweise "Verhinderung von strafbaren Handlungen", "Schutz der Rechte und Freiheiten anderer"), daß die in § 25 Abs 3 litd PaßG 1969 normierte Wendung "öffentliche Ruhe, Ordnung oder Sicherheit" im Sinne dieser Eingriffstatbestände - und somit verfassungskonform - interpretierbar ist. Unter § 25 Abs 3 litd PaßG 1969 sind nur solche Verhaltensweisen des Sichtvermerkswerbers zu subsumieren, die eines der von Art 8 Abs 2 EMRK erfaßten Schutzgüter derart schwerwiegend tangieren, daß sie - bei einer am Sinn der Konvention orientierten Auslegung - die Verweigerung der Sichtvermerkserteilung in jedem Fall oder doch bei entsprechender Interessenabwägung rechtfertigen können.

Die in Rede stehenden unbestimmten Rechtsbegriffe im § 25 Abs 3 litd PaßG 1969 sind sohin restriktiv auszulegen: Als Umstände, die geeignet sind, die "öffentliche Ruhe, Ordnung oder Sicherheit zu gefährden", können nur solche angesehen werden, die eine derart gravierende Beeinträchtigung des geordneten menschlichen Zusammenlebens darstellen, daß die Notwendigkeit eines Zurücktretens etwaiger privater und familiärer Interessen des Sichtvermerkswerbers an der Erteilung des Sichtvermerkes zumindest denkbar ist (vgl. VfSlg. 10443/1985 und 11132/1986, wonach § 13 Versammlungsgesetz 1953 vor dem Hintergrund des Art 11 Abs 2 EMRK ausgelegt werden muß).

Die Behörde hatte sich daher bei Vollziehung der litd des § 25 Abs 3 PaßG 1969 damit auseinanderzusetzen, ob ein Aufenthalt des konkreten Sichtvermerkswerbers im Bundesgebiet die öffentliche Ruhe, Ordnung oder Sicherheit derart gefährden würde, daß die in Art 8 Abs 2 EMRK umschriebenen öffentlichen Interessen einen Eingriff in das Privat- und Familienleben des Antragstellers rechtfertigen.

b) Der Tatbestand der lite des § 25 Abs 3 PaßG 1969 war dann erfüllt, wenn die Annahme gerechtfertigt war, daß ein Aufenthalt des Sichtvermerkswerbers im Bundesgebiet "zu einer finanziellen Belastung der Republik Österreich führen könnte". In Art 8 Abs 2 EMRK ist ein solcher Tatbestand nicht ausdrücklich angeführt.

Das von der Bundesregierung ins Treffen geführte Argument, daß "Vermögenslosigkeit erfahrungsgemäß die erhöhte Gefahr kriminellen Verhaltens des Betroffenen verursacht", ist nicht geeignet, die Verfassungsmäßigkeit des § 25 Abs 3 lite PaßG 1969 darzutun: Zum einen stellte der Wortlaut dieser Bestimmung unmißverständlich und ausschließlich auf allfällige finanzielle Nachteile ab, die der Republik Österreich durch den Aufenthalt des Sichtvermerkswerbers im Bundesgebiet erwachsen könnten, nicht hingegen auf etwaige Folgewirkungen seiner Vermögenslosigkeit; zum anderen wäre dann, wenn bei einem bestimmten Sichtvermerkswerber aufgrund seiner materiellen Notlage tatsächlich eine "erhöhte Gefahr kriminellen Verhaltens" bestanden haben sollte, ohnedies eine Sichtvermerksversagung nach litd (mögliche Gefährdung der "öffentlichen Ruhe, Ordnung oder Sicherheit") - unter Bedachtnahme auf die oben (Pkt. 3.a) erörterten Kriterien - in Betracht zu ziehen gewesen.

§ 25 Abs 3 lite PaßG 1969 kann jedoch verfassungskonform ausgelegt werden (zum Grundsatz der verfassungskonformen Interpretation vgl. zB. VfSlg. 12469/1990, 12501/1990, 12572/1990):

Die weite Fassung der Eingriffstatbestände des Art 8 Abs 2 EMRK gestattet, auch die lite des § 25 Abs 3 PaßG 1969 im Sinne dieser Konventionsnorm zu verstehen. Gleich wie bei der litd hatte die Behörde vor Anwendung der lite des § 25 Abs 3 PaßG 1969 im jeweiligen Einzelfall zu prüfen, ob die Weigerung, einen Sichtvermerk zu erteilen, aus den im Art 8 Abs 2 EMRK umschriebenen öffentlichen Interessen (insbesondere aus jenen des "wirtschaftlichen Wohles des Landes") notwendig ist.

Bei verfassungskonformer Auslegung des § 25 Abs 3 lite PaßG 1969 war also im Einzelfall vor allem auf das "wirtschaftliche Wohl des Landes" zu rekurrieren und dabei auch auf allenfalls bestehende private und familiäre Interessen des Antragstellers an der Erteilung eines Sichtvermerkes Bedacht zu nehmen. So wird ein Recht zum Nachzug der engeren Familie nach einer gewissen Zeit von den Konventionsstaaten ganz überwiegend gewährt, wenn der Unterhalt gesichert und Wohnung vorhanden ist (s. Frowein/Peukert, EMRK-Kommentar, Kehl-Straßburg-Arlington, 1985, S 206, RZ 25).

c) Hingegen ist der in der litb des § 25 Abs 3 PaßG 1969 vornehmlich maßgebende Begriff ("Wiederausreise nicht gesichert") zwar derart eindeutig, daß sich für die Behörde kein Beurteilungsspielraum (wie er für die litd und e besteht) ergab. Dennoch ist auch diese Bestimmung nicht mit der angenommenen Verfassungswidrigkeit belastet:

Sie konnte nämlich einerseits nur dann angewendet werden, wenn sich der Sichtvermerkswerber im Ausland befand: Aus dem Wort "Wiederausreise" ergibt sich, daß - sofern der erste Wortteil "Wieder-" überhaupt eine Bedeutung haben soll - das Gesetz mit der litb nur jene Fälle erfassen wollte, in denen die Einreise nach Österreich erst bevorstand, weil nur dann davon gesprochen werden kann, daß der Fremde "wieder" aus dem Bundesgebiet ausreist. Im übrigen wäre es in der Regel sinnlos, einem Fremden, der sich ohnedies bereits in Österreich aufhält, die Erteilung des Sichtvermerkes deshalb zu verweigern, weil dessen Ausreise nicht gesichert ist.

Andererseits betraf § 25 Abs 3 litb PaßG 1969 nur solche Fälle, in denen der Sichtvermerkswerber die Einreise nach Österreich bloß zwecks kurzfristigen (keinesfalls dauernden) Aufenthaltes anstrebte. Nach dem in dieser Hinsicht völlig klaren Wortlaut des Gesetzes fand § 25 Abs 3 litb PaßG 1969 nämlich dann keine Anwendung, wenn der Sichtvermerkswerber beabsichtigte, dauernd in Österreich zu bleiben, weil diesfalls ein "unbefristeter Sichtvermerk" zu beantragen gewesen wäre.

Das führt dazu, daß jene Konstellationen, in denen Fremde für dauernd zu ihren in Österreich wohnenden Familien ziehen wollten ("Familienzusammenführung"), von der litb gar nicht erfaßt wurden, sondern - wie ausgeführt - nur jene, in denen nach den Angaben des Sichtvermerkswerbers bloß eine Einreise nach Österreich zum kurzfristigen Aufenthalt geplant war. Erscheint in diesen Fällen aber die Wiederausreise nicht gesichert, so ist - bei einer zulässigen Durchschnittsbetrachtung - nicht anzunehmen, daß irgendwelche private oder familiäre Interessen (etwa die Interessen an kurzfristigen Besuchen von in Österreich wohnenden Familienangehörigen oder Bekannten) im Hinblick auf Art 8 EMRK gebieten würden, dem Fremden dennoch die Einreise nach Österreich zu gestatten. Daraus folgt, daß es in den von der litb erfaßten Fällen auch im Lichte des Art 8 Abs 2 EMRK - schon um einen Rechtsmißbrauch hintanzuhalten - durchwegs gerechtfertigt war, die persönlichen Verhältnisse des Fremden zu vernachlässigen.

d) Zusammenfassend ist festzuhalten, daß die gegen § 25 Abs 3 litb, d und e PaßG 1969 vorgebrachten verfassungsrechtlichen Bedenken nicht bestehen.

e) Die vorstehenden Erwägungen gelten sowohl dann, wenn die Versagung eines Sichtvermerkes als auch dann, wenn der Widerruf eines bereits erteilten Sichtvermerkes auf die in Rede stehenden Bestimmungen gestützt wird.

f) Im Hinblick darauf, daß die in Prüfung gezogenen Vorschriften mit außer Kraft getreten sind (s.o. III.1.a), war gemäß Art 140 Abs 4 B-VG festzustellen, daß sie nicht verfassungswidrig waren. Die vom Verwaltungsgerichtshof gestellten Anträge waren - soweit sie nicht zurückzuweisen waren (s.o. II.1. und 2.) - abzuweisen.

4. Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 erster Satz VerfGG ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung getroffen werden.