VfGH vom 25.06.1992, g58/92
Sammlungsnummer
13135
Leitsatz
Aufhebung einer Bestimmung des EStG 1972 betreffs Unzulässigkeit der Erhöhung der Rücklage bei abweichender Gewinnermittlung aufgrund einer Wiederaufnahme des Verfahrens; Verstoß gegen den Gleichheitssatz infolge einseitiger Wirkung einer Wiederaufnahme im Hinblick auf die Bildung steuerfreier Rücklagen aus dem nicht entnommenen Gewinn bloß zum Nachteil des Steuerpflichtigen
Spruch
§ 11 Abs 5 Einkommensteuergesetz 1972, BGBl. Nr. 440, wird als verfassungswidrig aufgehoben.
Frühere gesetzliche Bestimmungen treten nicht wieder in Wirksamkeit.
Der Bundeskanzler ist zur unverzüglichen Kundmachung dieser Aussprüche im Bundesgesetzblatt verpflichtet.
Begründung
Entscheidungsgründe:
1. Beim Verfassungsgerichtshof ist ein Verfahren gegen einen im Instanzenzug ergangenen Bescheid der Finanzlandesdirektion für Tirol anhängig, dem folgender Sachverhalt zugrundeliegt:
Anläßlich einer Übergabe eines Unternehmens an den bis dahin als Angestellten im Unternehmen tätigen Sohn des Betriebsinhabers wurde dem Sohn ein als Abfertigung bezeichneter Betrag ausbezahlt, der in der Einkommensteuererklärung für 1983 gewinnmindernd in Ansatz gebracht wurde. In diesem Sinn erfolgte auch die Veranlagung zur Einkommensteuer.
In dem nach einer Lohnsteuerprüfung wiederaufgenommenen Verfahren wurde die Abfertigung nicht als Betriebsausgabe anerkannt. In der gegen diesen Bescheid erhobenen Berufung beantragte der Beschwerdeführer u.a. für den Fall der Nichtanerkennung der Abfertigungszahlung als Betriebsausgabe, die Rücklage aus dem nichtentnommenen Gewinn an die geänderten Einkünfte aus dem Gewerbebetrieb anzupassen. Diesem Antrag wurde unter Hinweis auf § 11 Abs 5 EStG 1972 keine Folge gegeben: Diese Bestimmung sehe ausdrücklich vor, daß eine Erhöhung der Rücklage nicht zulässig ist, wenn auf Grund einer Wiederaufnahme des Verfahrens der Gewinn abweichend vom aufgehobenen Bescheid ermittelt wird.
2. Aus Anlaß dieses Verfahrens leitete der Verfassungsgerichtshof gem. Art 140 Abs 1 B-VG von Amts wegen ein Verfahren zur Prüfung des § 11 Abs 5 EStG ein. Er nahm an, daß dem Verfahren Prozeßhindernisse nicht im Wege stehen und formulierte das Bedenken, daß die in Prüfung genommene Bestimmung dem Gleichheitsgrundsatz widerspreche.
3. § 11 Abs 5 EStG 1972 steht in folgendem normativen Zusammenhang:
Nach dem EStG 1972 in der für das Anlaßverfahren maßgeblichen Fassung vor der Novellierung durch das AbgÄG BGBl. 587/1983 besteht für bestimmte Steuerpflichtige, die den Gewinn durch Vermögensvergleich ermitteln, und weder die Investitionsbegünstigungen der §§8 bis 10 oder eine Investitionsprämie in Anspruch nehmen, noch eine Investitionsrücklage bestimmungsgemäß verwenden, die Möglichkeit, steuerfreie Rücklagen bis zu 50 % des nicht entnommenen Gewinnes, höchstens aber im Ausmaß von 15 % des Jahresgewinnes zu bilden.
Hinsichtlich der Höhe der Rücklage, die steuerfrei gebildet werden kann, bestimmt sodann der in Prüfung gezogene Abs 5 des § 11 EStG 1972:
"Wird auf Grund einer Wiederaufnahme des Verfahrens oder einer aufsichtsbehördlichen Maßnahme der Gewinn abweichend vom aufgehobenen Bescheid ermittelt, ist eine Erhöhung der Rücklage nicht zulässig."
4. Das Bedenken, daß diese Bestimmung dem auch den Gesetzgeber bindenden Gleichheitsgrundsatz widerspricht, umschrieb der Verfassungsgerichtshof im Einleitungsbeschluß folgendermaßen:
"Dem Verfassungsgerichtshof ist jedenfalls vorläufig nicht erkennbar, welcher sachliche Grund es rechtfertigen soll, daß eine Gewinnermittlung aufgrund eines wiederaufgenommenen Verfahrens als Basis für die Bildung steuerfreier Rücklagen aus dem nicht entnommenen Gewinn anders zu behandeln sein soll, als eine unmittelbar einem Einkommensteuerbescheid zugrundeliegende Gewinnermittlung. Wenn die belangte Behörde in ihrer Gegenschrift diese unterschiedliche Behandlung damit rechtfertigen will, daß die Vorschrift eben nur "wissentlich nicht entnommenen Gewinn begünstigen" wolle, dürfte sie übersehen, daß eine wissentliche Entscheidung über die Gewinnverwendung von der Kenntnis der Höhe des Gewinns abhängig sein dürfte, der Gewinn aber im Falle einer Wiederaufnahme des Verfahrens neu ermittelt wird.
Die Bestimmung des § 11 Abs 5 leg.cit. scheint überdies auch auf Grund ihrer einseitigen Wirkung verfassungsrechtlich bedenklich zu sein: Sie scheint zu bewirken, daß dann, wenn sich auf Grund eines wiederaufgenommenen Verfahrens der Gewinn gegenüber dem dem Einkommensteuerbescheid zugrundeliegenden Gewinn verringert, die steuerfrei gebildete Rücklage vermindert werden muß, aber dann, wenn das wiederaufgenommene Verfahren zu einer Erhöhung des Gewinns führt, eine Anpassung der Rücklage nicht zulässig ist. Damit scheint das Institut der Wiederaufnahme im Hinblick auf die Bildung steuerfreier Rücklagen aus dem nicht entnommenen Gewinn einseitig, nämlich lediglich zum Nachteil des Steuerpflichtigen zu wirken. Dies dürfte - wie sich aus der Judikatur des Verfassungsgerichtshofs zur Wiederaufnahme von Steuerverfahren zu ergeben scheint (vgl. mit Hinweisen auf Literatur und Vorjudikatur) - mit dem Gleichheitsgrundsatz nicht vereinbar sein."
5. Die Bundesregierung hat dem Verfassungsgerichtshof mitgeteilt, daß sie beschlossen hat, "im Hinblick auf das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom , B783/89, von der Erstattung einer meritorischen Äußerung Abstand zu nehmen". Auch sonst ist im Verfahren nichts hervorgekommen, was Zweifel an den Prozeßvoraussetzungen oder am Zutreffen der im Prüfungsbeschluß formulierten Bedenken erwecken könnte. Die in Prüfung genommene Bestimmung war daher aufzuheben.
6. Für die Festsetzung einer Frist für das Außerkrafttreten der aufgehobenen Bestimmung sah der Verfassungsgerichtshof keinen Anlaß, da die Notwendigkeit entsprechender legistischer Vorkehrungen nicht erkennbar ist.
Der Ausspruch, daß frühere gesetzliche Bestimmungen nicht wieder in Wirksamkeit treten, beruht auf Art 140 Abs 6 erster Satz B-VG. Die Verpflichtung des Bundeskanzlers zur Kundmachung der Aufhebung erfließt aus Art 140 Abs 5 erster Satz B-VG und § 64 Abs 2 VerfGG.
Diese Entscheidung konnte gem. § 19 Abs 4 erster Satz VerfGG ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung beschlossen werden.