VfGH vom 25.02.2016, G541/2015

VfGH vom 25.02.2016, G541/2015

Leitsatz

Verfassungswidrigkeit der undifferenzierten Ausnahme von Verfahren über die Kündigung von Mietverträgen und Räumung von Mietgegenständen von der Möglichkeit der Stellung eines Parteiantrags auf Normenkontrolle; keine Erforderlichkeit im Sinne einer Unerlässlichkeit der Regelung des VfGG zur Sicherung des Zwecks der Verfahren

Spruch

I. § 62a Abs 1 Z 5 Verfassungsgerichtshofgesetz 1953, BGBl Nr 85, idF BGBl I Nr 92/2014, wird als verfassungswidrig aufgehoben.

II. Frühere gesetzliche Bestimmungen treten nicht wieder in Kraft.

III. Die aufgehobene Bestimmung ist nicht mehr anzuwenden.

IV. Der Bundeskanzler ist zur unverzüglichen Kundmachung dieser Aussprüche im Bundesgesetzblatt I verpflichtet.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Anlassverfahren, Prüfungsbeschluss und Vorverfahren

1. Beim Verfassungsgerichtshof ist zur Zahl G363/2015 ein auf Art 140 Abs 1 Z 1 litd B VG gestützter Antrag anhängig, mit dem die Antragstellerin begehrt, die Wortfolge ", wenn es in die öffentlichen Bücher eingetragen ist," in § 1121 ABGB, JGS 946/1811, idF RGBl. 69/1916, als verfassungswidrig aufzuheben. Der Antrag wurde aus Anlass einer Berufung der Antragstellerin gegen ein Urteil des Bezirksgerichtes Bregenz gestellt. Mit dem Urteil wurde die Antragstellerin für schuldig befunden, das von ihr mit ihrem Ehegatten bewohnte und für landwirtschaftliche Zwecke genutzte Wohnhaus zu räumen.

2. Bei der Behandlung des Antrages nach Art 140 Abs 1 Z 1 litd B VG sind im Verfassungsgerichtshof Bedenken ob der Verfassungsmäßigkeit des § 62a Abs 1 Z 5 VfGG idF BGBl I 92/2014 entstanden. Der Verfassungsgerichtshof hat daher am beschlossen, diese Gesetzesbestimmung von Amts wegen auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu prüfen.

3. Der Verfassungsgerichtshof legte seine Bedenken, die ihn zur Einleitung des Gesetzesprüfungsverfahrens bestimmt haben, in seinem Prüfungsbeschluss wie folgt dar:

"2. Um die Zulässigkeit des Antrages beurteilen zu können, hat der Verfassungsgerichtshof § 62a Abs 1 VfGG anzuwenden. Die Bestimmung des § 62a Abs 1 Z 5 VfGG ist daher präjudiziell (vgl. VfSlg 8028/1977, 9912/1984, 16.631/2002, 18.014/2006; ).

3. Der Verfassungsgerichtshof hegt gegen die in Prüfung gezogene Bestimmung das Bedenken, dass sie gegen Art 140 Abs 1a erster Satz B VG verstoßen dürfte:

4. Der mit der Bundes-Verfassungsgesetz-Novelle BGBl I 114/2013 eingefügte Art 140 Abs 1a erster Satz B VG bestimmt, dass die Stellung eines Antrages gemäß Art 140 Abs 1 Z 1 litd B VG durch Bundesgesetz für unzulässig erklärt werden kann, wenn dies zur Sicherung des Zwecks des Verfahrens vor dem ordentlichen Gericht erforderlich ist. Die entsprechenden einfachgesetzlichen Ausführungsbestimmungen – darunter § 62a VfGG – wurden mit dem Bundesgesetz, mit dem das Verfassungsgerichtshofgesetz 1953, die Zivilprozessordnung, das Außerstreitgesetz und die Strafprozeßordnung 1975 geändert werden, BGBl I 92/2014, kundgemacht. In den Erläuterungen zur RV dieses Bundesgesetzes heißt es auszugsweise (263 BlgNR 25. GP, 2 f., 4):

'Zu den Ausnahmen der §§57a Abs 1 und 62a Abs 1 im Einzelnen:

Gemäß Art 139 Abs 1a erster Satz und Art 140 Abs 1a erster Satz B VG kann die Stellung eines Antrages gemäß Art 139 Abs 1 Z 4 bzw. Art 140 Abs 1 Z 1 litd B VG durch Bundesgesetz für unzulässig erklärt werden, wenn dies zur Sicherung des Zwecks des Verfahrens vor dem ordentlichen Gericht erforderlich ist. In der im Bericht des Verfassungsausschusses wiedergegebenen Begründung des im Verfassungsausschuss eingebrachten gesamtändernden Abänderungsantrages der Abgeordneten Dr. Peter Wittmann, Mag. Wolfgang Gerstl, Dr. Peter Fichtenbauer, Kolleginnen und Kollegen (AB 2380 d.B. XXIV. GP, 9) wird dazu ausgeführt, dass in bestimmten verfahrensrechtlichen Konstellationen (etwa in Provisorialverfahren) die Stellung eines Parteiantrages den Zweck des Verfahrens vor dem ordentlichen Gericht gefährden oder vereiteln könne. Dies gelte auch für Sachentscheidungen, etwa solche, die rasch zu ergehen hätten, oder für Rechtssachen, in welchen eine neuerliche Entscheidung auf faktische Unmöglichkeiten stoße (etwa im Insolvenz- oder Exekutionsverfahren). Wie in den vergleichbaren Bestimmungen des B VG sei der Begriff 'erforderlich' auch hier im Sinne von 'unerlässlich' zu verstehen.

[…]

Zu Z 4 (Verfahren gemäß § 37 Abs 1 MRG,§ 52 Abs 1 WEG 2002 und § 22 Abs 1 WGG) und Z 5 (Verfahren über die Kündigung von Mietverträgen und über die Räumung von Mietgegenständen):

Bei diesen Verfahren handelt es sich durchwegs um Verfahren, deren Zweck eine rasche Klärung der Rechtslage ist und die nach ihrer Konzeption keine Verzögerung dulden.' (Zitat ohne die Hervorhebungen im Original)

4.1. Die in den Erläuterungen zitierte Stelle des Berichts des Verfassungsausschusses, AB 2380 BlgNR 24. GP, 9, lautet – auszugsweise – wie folgt:

'In bestimmten verfahrensrechtlichen Konstellationen (zB im Provisorialverfahren) könnte die Stellung eines Parteiantrages den Zweck des Verfahrens vor dem ordentlichen Gericht gefährden oder vereiteln. Dies gilt auch für Sachentscheidungen, etwa solche, die rasch zu ergehen haben, oder für Rechtssachen, in welchen eine neuerliche Entscheidung auf faktische Unmöglichkeiten stößt (zB im Insolvenzrecht). Die Stellung eines Parteiantrages soll daher durch Bundesgesetz für unzulässig erklärt werden können, wenn dies zur Sicherung des Zwecks des Verfahrens vor dem ordentlichen Gericht erforderlich ist. Wie in den vergleichbaren Bestimmungen des B VG (vgl. insb. Art 11 Abs 2 sowie zuletzt Art 136 Abs 2 in der Fassung der Verwaltungsgerichtsbarkeits-Novelle 2012) ist der Begriff 'erforderlich' auch hier im Sinne von 'unerlässlich' zu verstehen (vgl. VfSlg 17.340/2004 mwH).'

4.2. Nach dem in diesen Zitaten deutlich werdenden Willen des (Verfassungs)Gesetzgebers und dem Wortlaut des Art 140 Abs 1a erster Satz B VG dürfte die Stellung eines Antrages nach Art 140 Abs 1 Z 1 litd B VG durch Bundesgesetz nach vorläufiger Auffassung des Verfassungsgerichtshofes nur in jenen Fällen für unzulässig erklärt werden, in denen dies 'unerlässlich' für die Sicherung des Zwecks des Verfahrens vor dem ordentlichen Gericht ist (vgl. zum Erfordernis der 'Unerlässlichkeit' die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes zu Art 11 Abs 2 B VG, beginnend mit VfSlg 8945/1980 und die Rechtsprechung zu Art 136 Abs 2 B VG, zB ua.; ; ; jeweils mwN).

5. Der Verfassungsgerichtshof hat in seinem Erkenntnis G346/2015-15 vom die Wortfolge '§37 Abs 1 MRG,' in § 62a Abs 1 Z 4 VfGG wegen Verstoßes gegen Art 140 Abs 1a erster Satz B VG aufgehoben.

Im Lichte dieses Erkenntnisses geht der Verfassungsgerichtshof vorläufig davon aus, dass die Bedenken, die ihn zur Aufhebung der Wortfolge '§37 Abs 1 MRG,' in § 62a Abs 1 Z 4 VfGG veranlasst haben, auch auf § 62a Abs 1 Z 5 VfGG zutreffen dürften."

4. Die Bundesregierung hat eine Äußerung erstattet, in der den im Prüfungsbeschluss dargelegten Bedenken wie folgt entgegengetreten wird:

"1. […]

Gemäß Art 140 Abs 1a erster Satz B VG kann die Stellung eines Antrages gemäß Art 140 Abs 1 Z 1 litd B VG durch Bundesgesetz für unzulässig erklärt werden, wenn dies zur Sicherung des Zwecks des Verfahrens vor dem ordentlichen Gericht erforderlich ist. Die in Prüfung gezogene Bestimmung sieht eine solche Unzulässigkeit der Stellung eines Antrages gemäß Art 140 Abs 1 Z 1 litd B VG vor.

Mit Erkenntnis vom , G346/2015-15, hat der Verfassungsgerichtshof in einem von Amts wegen eingeleiteten Prüfungsverfahren die Wortfolge '§37 Abs 1 MRG,' in § 62a Abs 1 Z 4 VfGG, die ebenfalls die Unzulässigkeit der Stellung eines Antrages gemäß Art 140 Abs 1 Z 1 litd B VG bewirkt hatte, als verfassungswidrig aufgehoben.

2. Der Verfassungsgerichtshof begründete diese Aufhebung im Wesentlichen damit, dass der Aspekt der Verfahrensverzögerung kein Grund sei, der den Bundesgesetzgeber berechtige, von der ihm durch Art 140 Abs 1a erster Satz B VG eingeräumten Ermächtigung in der Weise Gebrauch zu machen, dass er pauschal alle in § 37 Abs 1 des MietrechtsgesetzesMRG, BGBl Nr 520/1981, genannten Verfahren ausnehme. Der Zweck der Verfahren gemäß § 37 Abs 1 MRG weise keine Besonderheiten auf, die es erforderlich (im Sinne von 'unerlässlich') machten, zu seiner Sicherung die Stellung eines Antrages gemäß Art 140 Abs 1 Z 1 litd B VG durch Bundesgesetz für unzulässig zu erklären.

Der Beschluss des Verfassungsgerichtshofes, nun auch § 62a Abs 1 Z 5 VfGG von Amts wegen auf seine Verfassungsmäßigkeit zu prüfen, wird damit begründet, dass der Verfassungsgerichtshof vorläufig davon ausgehe, 'dass die Bedenken, die ihn zur Aufhebung der Wortfolge '§37 Abs 1 MRG,' in § 62a Abs 1 Z 4 VfGG veranlasst haben, auch auf § 62a Abs 1 Z 5 VfGG zutreffen dürften'.

Der Verfassungsgerichtshof geht demnach vorläufig davon aus, dass es für die Sicherung des Zwecks des Verfahrens nicht 'unerlässlich' ist, in Verfahren über die Kündigung von Mietverträgen und über die Räumung von Mietgegenständen die Stellung eines Parteiantrages auf Normenkontrolle für unzulässig zu erklären.

3. Aus folgenden Gründen ist die geforderte Unerlässlichkeit in den in § 62a Abs 1 Z 5 VfGG genannten Verfahren sehr wohl gegeben:

3.1. In den in § 62a Abs 1 Z 5 VfGG genannten Verfahren wird darüber entschieden, ob ein Mieter den Mietgegenstand weiter gebrauchen darf oder nicht: In Verfahren über die Kündigung von Mietverträgen (Fall 1 des § 62a Abs 1 Z 5 VfGG) ist die Frage verfahrensgegenständlich, ob eine Kündigung wirksam ist oder nicht, ob also der Mietvertrag aufrecht bleibt oder nicht. Im Fall einer wirksamen Kündigung wird der Mieter im Urteil auch zur Räumung des Mietgegenstandes verpflichtet. In Verfahren über die Räumung von Mietgegenständen (Fall 2 des § 62a Abs 1 Z 5 VfGG) ist nur die Räumungsverpflichtung verfahrensgegenständlich. In diesen Verfahren muss allenfalls als Vorfrage geklärt werden, ob das Mietverhältnis wirksam außergerichtlich beendet wurde. In beiden Fällen des § 62a Abs 1 Z 5 VfGG wird jedenfalls über den weiteren Gebrauch des Mietgegenstandes abgesprochen.

3.2. § 62a Abs 1 Z 5 VfGG ist auf Verfahren über die Kündigung von Mietverträgen und über die Räumung von Mietgegenständen beschränkt. Nicht erfasst sind Verfahren über die Kündigung von Pachtverträgen und Räumungsverfahren, die nicht mit einem Mietvertrag in Zusammenhang stehen.

Mietverträge sind deshalb erfasst, weil es sich bei den durch Mietverträge begründeten Rechtsverhältnissen – anders als dies bei Pachtverträgen, die zumeist geschäftlichen Zwecken dienen, der Fall ist – um typischerweise besonders sensible Rechtsverhältnisse handelt, die der Befriedigung elementarer (Wohn-)Bedürfnisse dienen. Es ist bei Mietverträgen von besonderer Bedeutung, dass der Mieter nicht länger als unbedingt erforderlich darüber im Unklaren gelassen wird, ob er den Mietgegenstand weiter gebrauchen kann oder nicht. Und auch der Vermieter muss rasch Klarheit gewinnen, ob er über den Mietgegenstand disponieren kann, zumal er ihn in der Praxis – zur Vermeidung eines Mietausfalls – oft schon wieder anderweitig vermietet hat.

3.3. Anders als bei sonstigen Verfahren kommen bei Kündigungs- und Räumungsverfahren auch keine einstweiligen Maßnahmen in Betracht, mit denen die mit einer längeren Verfahrensdauer verbundene Belastung abgefedert werden könnte. So ist beispielsweise eine 'Provisorialräumung' des Mietgegenstandes praktisch nicht denkbar und wäre auch keine Lösung für das aufgezeigte Problem. Die (für beide Vertragsparteien) belastende Situation kann erst durch die endgültige Entscheidung über den Verbleib oder Nichtverbleib des Mieters im Mietgegenstand aufgelöst werden.

Daher ist es in Verfahren über die Kündigung von Mietverträgen und über die Räumung von Mietgegenständen unerlässlich, die Stellung eines Parteiantrages auf Normenkontrolle für unzulässig zu erklären.

4. Zusammenfassend wird daher festgehalten, dass § 62a Abs 1 Z 5 VfGG nach Ansicht der Bundesregierung nicht verfassungswidrig ist."

Die Bundesregierung beantragt, die in Prüfung gezogene Wortfolge nicht als verfassungswidrig aufzuheben. Für den Fall der Aufhebung möge der Verfassungsgerichtshof eine Frist für das Außerkrafttreten von 18 Monaten bestimmen. Diese Frist erscheine erforderlich, um legistische Vorkehrungen zur Schaffung einer Nachfolgebestimmung zu ermöglichen.

5. Die Antragstellerin im Anlassverfahren erstattete eine Äußerung, in der sie vorbrachte, dass § 62a Abs 1 Z 5 VfGG als verfassungswidrig aufzuheben sei, da er sachlich nicht gerechtfertigt sei.

II. Rechtslage

Die im vorliegenden Fall maßgebliche Rechtslage des § 62a Abs 1 Verfassungsgerichtshofgesetz 1953 – VfGG, BGBl 85, idF BGBl I 92/2014, lautet auszugsweise wie folgt (die in Prüfung gezogene Wortfolge ist hervorgehoben):

"§62a. (1) Eine Person, die als Partei einer von einem ordentlichen Gericht in erster Instanz entschiedenen Rechtssache rechtzeitig ein zulässiges Rechtsmittel erhebt und wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes in ihren Rechten verletzt zu sein behauptet, kann gleichzeitig einen Antrag stellen, das Gesetz als verfassungswidrig aufzuheben (Art140 Abs 1 Z 1 litd B VG). Die Stellung eines solchen Antrages ist unzulässig:

1.-4. […]

5.

im Verfahren über die Kündigung von Mietverträgen und über die Räumung von Mietgegenständen;

6.-10. […]"

III. Erwägungen

A. Zur Zulässigkeit des Verfahrens

Im Verfahren hat sich nichts ergeben, was an der Präjudizialität der in Prüfung gezogenen Bestimmung zweifeln ließe. Da auch sonst keine Prozesshindernisse hervorgekommen sind, erweist sich das Gesetzesprüfungsverfahren insgesamt als zulässig.

B. In der Sache

1. Die im Prüfungsbeschluss dargelegten Bedenken des Verfassungsgerichtshofes konnten im Gesetzesprüfungsverfahren nicht zerstreut werden. Die vorläufige Annahme, die in Prüfung gezogene Wortfolge verstoße gegen Art 140 Abs 1a B VG, hat sich als zutreffend erwiesen.

1.1. Vorauszuschicken ist, dass Art 140 Abs 1a B VG (ebenso wie Art 139 Abs 1a B VG) – anders als bei Anträgen nach Art 140 Abs 1 Z 1 lita B VG – eine nicht nach der Qualität des Anfechtungsobjekts, sondern eine nach den Verfahren differenzierende Beschränkung der Zuständigkeit des Verfassungsgerichtshofes bildet. Sie wurde gleichzeitig mit der Erweiterung der Zuständigkeit des Verfassungsgerichtshofes im Bereich der Normenkontrolle durch die B VG-Novelle BGBl I 114/2013 in das B VG aufgenommen. Die Schaffung des Art 140 Abs 1 Z 1 litd B VG und die Ausweitung des Kreises der antragsbefugten ordentlichen Gerichte ergänzt das System der verfassungsgerichtlichen Normenkontrolle im Interesse des Rechtsschutzes (näher , Pkt. 2.1.). Die Verpflichtung der (ordentlichen) Gerichte, bei Bedenken betreffend die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes einen Antrag an den Verfassungsgerichtshof zu stellen (Art89 Abs 2 iVm Art 140 Abs 1 Z 1 lita B VG) und die den Parteien eines Verfahrens vor den ordentlichen Gerichten zustehende Befugnis, diese Bedenken allenfalls von sich aus an den Verfassungsgerichtshof heranzutragen, stehen in engem historischen und systematischen Zusammenhang.

1.2. Der Verfassungsgesetzgeber war, wie sich aus den Materialien ergibt, davon bestimmt, Verfahrensverzögerungen durch Parteianträge auf Gesetzesprüfung möglichst hintanzuhalten. Zu diesem Zweck wurde eine an Art 144 Abs 2 B VG angelehnte Befugnis zur Ablehnung von Parteianträgen eingefügt, wenn sie keine hinreichende Aussicht auf Erfolg haben (Art140 Abs 1b B VG; vgl. ). In einer vom Verfassungsausschuss vorgeschlagenen, am Tag der Beschlussfassung über die Novellierung des Art 140 B VG angenommenen Entschließung zur Vermeidung mutwilliger Verfahrensverzögerungen kommt zum Ausdruck, dass der Verfassungsgerichtshof über die Ablehnung von "Gesetzesbeschwerden" entscheidet und das Gerichtsverfahren nur im Einzelfall unterbrochen wird. Daneben werden die Schaffung von Ausnahmen in Angelegenheiten des Exekutions- und Insolvenzrechts als vorzusehende Ausnahmen ausdrücklich genannt, für Angelegenheiten der öffentlichen Bücher die Sicherstellung des Vertrauens in diese gefordert; schließlich wird formuliert, dass – ganz allgemein und nicht beschränkt auf bestimmte Materien – eine "Inanspruchnahme der verfassungsrechtlichen Ausnahmen […] nur [stattfinden soll], sofern […] die Ausnahme zur Sicherung des Verfahrenszwecks erforderlich (d.h. unerlässlich) ist." (Entschließung vom , 310/E 24. GP).

1.3. Vor diesem Hintergrund ist die Bestimmung des Art 140 Abs 1a B VG als eine eng begrenzte Ausnahme von der grundsätzlich gegen alle Bundes- und Landesgesetze offen stehenden Anfechtungsberechtigung anzusehen, die durch die Erforderlichkeit des Ausschlusses des Rechtsbehelfs im Hinblick auf den Zweck des (gerichtlichen) Verfahrens bestimmt wird, wobei den mit dem zeitlichen Aspekt zusammenhängenden Elementen der Sicherung des Verfahrenszwecks wenigstens auch durch andere verfahrensrechtliche Vorkehrungen Rechnung getragen werden sollte (vgl. Art 140 Abs 1b B VG, Art 140 Abs 8 B VG, § 62a Abs 6 VfGG, § 80a Abs 2 AußStrG).

2. Der Verfassungsgerichtshof ging in seinem (oben bei I.3 . wiedergegebenen) Prüfungsbeschluss unter Hinweis auf den Wortlaut des Art 140 Abs 1a erster Satz B VG und die Erläuterungen zur Regierungsvorlage des Bundesgesetzes BGBl I 92/2014 (263 BlgNR 25. GP) vorläufig davon aus, dass die Stellung eines Antrages nach Art 140 Abs 1 Z 1 litd B VG durch Bundesgesetz nur in jenen Fällen für unzulässig erklärt werden dürfte, in denen dies "unerlässlich" für die Sicherung des Zwecks des Verfahrens vor dem ordentlichen Gericht ist.

2.1. Zur Auslegung des Erfordernisses der "Unerlässlichkeit" verweisen die Gesetzesmaterialien ausdrücklich auf die Judikatur des Verfassungsgerichtshofes zu Art 11 Abs 2 B VG (AB 2380 BlgNR 24. GP, 9) und auf Art 136 Abs 2 B VG in der Fassung der Verwaltungsgerichtsbarkeits-Novelle 2012:

"In bestimmten verfahrensrechtlichen Konstellationen (zB im Provisorialverfahren) könnte die Stellung eines Parteiantrages den Zweck des Verfahrens vor dem ordentlichen Gericht gefährden oder vereiteln. Dies gilt auch für Sachentscheidungen, etwa solche, die rasch zu ergehen haben, oder für Rechtssachen, in welchen eine neuerliche Entscheidung auf faktische Unmöglichkeiten stößt (zB im Insolvenzrecht). Die Stellung eines Parteiantrages soll daher durch Bundesgesetz für unzulässig erklärt werden können, wenn dies zur Sicherung des Zwecks des Verfahrens vor dem ordentlichen Gericht erforderlich ist. Wie in den vergleichbaren Bestimmungen des B VG (vgl. insb. Art 11 Abs 2 sowie zuletzt Art 136 Abs 2 in der Fassung der Verwaltungsgerichtsbarkeits-Novelle 2012) ist der Begriff 'erforderlich' auch hier im Sinne von 'unerlässlich' zu verstehen (vgl. VfSlg 17.340/2004 mwH)."

2.2. Zu Art 11 Abs 2 B VG hat der Verfassungsgerichtshof unter anderem ausgesprochen, dass sich die "Unerlässlichkeit" einer abweichenden Regelung in einem Materiengesetz aus "besonderen Umständen" oder aus dem Regelungszusammenhang mit den materiellen Vorschriften ergeben kann (vgl. VfSlg 19.787/2013 mwN). Von den allgemeinen Bestimmungen der Verfahrensgesetze abweichende Regelungen sind nur dann zulässig, wenn sie nicht anderen Verfahrensbestimmungen, etwa dem Rechtsstaatsprinzip und dem daraus abgeleiteten Grundsatz der Effektivität des Rechtsschutzes widersprechen (vgl. VfSlg 15.218/1988, 17.340/2004; vgl. zu Art 136 Abs 2 B VG zB VfSlg 19.992/2014; ).

2.3. Die Kriterien der Erforderlichkeit in Art 11 Abs 2 B VG und in Art 136 Abs 2 B VG verfolgen im Hinblick auf die Begrenzung der Ermächtigungen das Ziel der Wahrung einer Einheitlichkeit im Verfahrensrecht vor Verwaltungsbehörden bzw. Verwaltungsgerichten. Damit sind sie gleich dem Art 140 B VG, der eine möglichst umfassende Kontrolle der Gesetze am Maßstab der Bundesverfassung bezweckt, auf die Verwirklichung der durch das Siebente Hauptstück maßgeblich ausgeformten Rechtsstaatlichkeit gerichtet.

2.4. Eine an diesem Regelungszweck ausgerichtete historisch-systematische Auslegung des Art 140 Abs 1a B VG führt daher zum Ergebnis, dass die in dieser Bestimmung mit dem Kriterium der Erforderlichkeit beschränkte Ermächtigung an den Gesetzgeber, den Zugang zum Verfassungsgerichtshof zu begrenzen, eng im Sinne einer "Unerlässlichkeit" zu verstehen ist. Unerlässlich ist die Ausnahme der Möglichkeit, eine Gesetzesbeschwerde zu erheben, in Verfahren, in denen die Stellung eines Antrages nach Art 140 Abs 1 Z 1 litd B VG und die nachfolgende Durchführung eines Verfahrens vor dem Verfassungsgerichtshof den Zweck des Verfahrens vereiteln würde (zB in Provisorialverfahren). Im Hinblick auf Rechtssachen, für die der Ausschluss der Stellung eines Antrages nach Art 140 Abs 1 Z 1 litd B VG nicht unerlässlich ist, ist gegebenenfalls nach Art 140 Abs 8 B VG durch Bundesgesetz zu bestimmen, dass das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes, mit dem das Gesetz als verfassungswidrig aufgehoben wird, eine neuerliche Entscheidung der Rechtssache vor dem ordentlichen Gericht ermöglicht.

3. Die im Prüfungsbeschluss vorläufig getroffene Annahme, dass es in Verfahren über die Kündigung von Mietverträgen und über die Räumung von Mietgegenständen nicht unerlässlich sein dürfte, die Stellung eines Antrages nach Art 140 Abs 1 Z 1 litd B VG durch Bundesgesetz für unzulässig zu erklären, hat sich im Gesetzesprüfungsverfahren bestätigt.

3.1. § 62a Abs 1 Z 5 VfGG sieht vor, dass in Verfahren über die Kündigung von Mietverträgen und über die Räumung von Mietgegenständen die Stellung eines Antrages nach Art 140 Abs 1 Z 1 litd B VG unzulässig ist.

3.2. Die Materialien zur B VG Novelle BGBl I 114/2013 enthalten keinen Hinweis darauf, dass der Verfassungsgesetzgeber die Verfahren über die Kündigung von Mietverträgen und über die Räumung von Mietgegenständen als solche ansieht, anlässlich derer die Stellung eines Antrages nach Art 140 Abs 1 Z 1 litd B VG jedenfalls unzulässig sein soll.

3.3. Die Bundesregierung versucht darzutun, weshalb es bei Verfahren über die Kündigung von Mietverträgen und über die Räumung von Mietgegenständen im Gegensatz zu Verfahren nach "§37 Abs 1 MRG" unerlässlich sei, Verfahrensverzögerungen durch einen Parteiantrag hintanzuhalten. Mietverträge seien deshalb von der Ausnahme erfasst, da es sich bei solchen Rechtsverhältnissen typischerweise um besonders sensible handle, die der Befriedigung elementarer (Wohn-)Bedürfnisse dienen würden. Der Bundesregierung zufolge haben sowohl der Mieter als auch der Vermieter ein Interesse an der schnellen Klärung der Rechtsstreitigkeit. Bei Mietverträgen sei es von besonderer Bedeutung, dass der Mieter nicht länger als unbedingt erforderlich darüber im Unklaren gelassen werde, ob er den Mietgegenstand weiter gebrauchen könne. Auch der Vermieter müsse rasch Klarheit gewinnen, ob er über den Mietgegenstand disponieren könne, zumal er ihn in der Praxis oft schon wieder anderweitig vermietet habe, um Mietausfälle zu vermeiden.

3.4. Es kämen auch keine einstweiligen Maßnahmen in Betracht, mit denen bei Kündigungs- und Räumungsverfahren die Belastung durch längere Verfahrensdauer abgefedert werden könnte. Eine "Provisorialräumung" des Mietgegenstandes sei praktisch nicht denkbar. Die – nach Ansicht der Bundesregierung – für beide Vertragsparteien belastende Situation könne erst durch die endgültige Entscheidung über den Verbleib oder Nichtverbleib des Mieters im Mietgegenstand aufgelöst werden. Deshalb sei es unerlässlich, die Stellung eines Parteiantrages auf Normenkontrolle in den Fällen des § 62a Abs 1 Z 5 VfGG für unzulässig zu erklären.

3.5. Der Bundesregierung ist zwar insoweit beizupflichten, dass ein Interesse des Vermieters an rascher Beendigung von Verfahren besteht, insbesondere bei Schädigung des Bestandobjektes oder Zahlungsverzug, aber auch bei Eigenbedarf. Umgekehrt hat der Mieter in den meisten Fällen auch ein dringendes Wohnbedürfnis. § 30 Abs 2 MRG bestimmt Kündigungsgründe, die aus Sicht des Vermieters gerade nicht dringlich sind, zB die Weitergabe des Mietgegenstandes an Personen, die nicht eintrittsberechtigt sind (§30 Abs 2 Z 4 MRG).

3.6. Alleine der zeitliche Aspekt der "Verfahrensverzögerung" durch die Stellung eines Antrages nach Art 140 Abs 1 Z 1 litd B VG ist für sich genommen kein Grund, der es rechtfertigt, dass der Bundesgesetzgeber von der ihm durch Art 140 Abs 1a erster Satz B VG eingeräumten Ermächtigung in der Weise Gebrauch macht, dass er Kündigungs- und Räumungsverfahren von Mietgegenständen undifferenziert ausnimmt. Im Hinblick auf besonders dringliche Angelegenheiten werden gegebenenfalls andere Maßnahmen erforderlich sein bzw. wird das Gericht im Einklang mit § 62 Abs 6 VfGG Handlungen vorzunehmen und Anordnungen zu treffen haben, die im Sinne dieser Bestimmung keinen Aufschub dulden. Im Übrigen liegt es im rechtspolitischen Gestaltungsspielraum des Bundesgesetzgebers, entsprechende Vorkehrungen auf Grundlage des Art 140 Abs 1a zweiter Satz B VG zu treffen (vgl. in diesem Zusammenhang zB § 80a Abs 2 AußStrG und die Erläuterungen zur RV dieser Bestimmung, 263 BlgNR 25. GP, 8) (vgl. ).

3.7. Das Argument der Bundesregierung, eine längere Verfahrensdauer durch die Stellung eines Antrages nach Art 140 Abs 1 Z 1 litd B VG müsse abgefedert werden, schlägt mit Blick auf die Konstruktion der Kündigung und der Räumung von Mietgegenständen nicht durch. Im Verfahren über die Kündigung von Mietverträgen und die Räumung von Mietgegenständen ist die Revision an den OGH nämlich nach § 502 Abs 5 Z 2 ZPO unabhängig vom Streitwert möglich. Die Folge dessen ist die Möglichkeit einer weiteren Verfahrensverzögerung. In solchen Verfahren besteht daher im zivilgerichtlichen Verfahren besonderes Interesse an einer richtigen Entscheidung. Der einfache Gesetzgeber nimmt dabei eine potentielle Verfahrensverzögerung in Kauf (vgl. Brugger, Einschränkung des Parteiantrags auf Normenkontrolle ist teilweise verfassungswidrig, AnwBl 2015, 651 [652]).

3.8. Das Vorbringen der Bundesregierung, für Mieter wie Vermieter würde durch den Parteiantrag auf Normenkontrolle eine belastende Situation entstehen, trifft insbesondere auf den Mieter nicht zu. Da es sich für einige Mieter um existenzielle Rechtsstreitigkeiten handelt, hat der Gesetzgeber in Verfahren, die dem MRG unterliegen, sogar Sonderregelungen vorgesehen, etwa den Räumungsaufschub (§34 MRG) oder die Aufschiebung der Räumungsexekution (§35 MRG). Damit ist der rasche Abschluss des Verfahrens aber auch nicht "unerlässlich", um die weitere Verwendung des Mietgegenstandes zu gewährleisten.

3.9. Der Zweck der Verfahren allein über die Kündigung von Mietverträgen und über die Räumung von Mietgegenständen weist somit keine Besonderheiten auf, die es erforderlich (im Sinne von "unerlässlich") machten, undifferenziert zu seiner Sicherung die Stellung eines Antrages nach Art 140 Abs 1 Z 1 litd B VG durch Bundesgesetz für unzulässig zu erklären.

3.10. Die Prüfung der Ausnahme von Verfahren über die Kündigung von Mietverträgen und Räumung von Mietgegenständen erbringt daher das Ergebnis, dass diese nicht erforderlich zur Sicherung des Verfahrenszwecks ist. § 62a Abs 1 Z 5 VfGG verstößt daher gegen Art 140 Abs 1a erster Satz B VG.

IV. Ergebnis

1. § 62a Abs 1 Z 5 VfGG ist daher wegen Verstoßes gegen Art 140 Abs 1a erster Satz B VG als verfassungswidrig aufzuheben.

2. Der Ausspruch, dass frühere gesetzliche Bestimmungen nicht wieder in Kraft treten, beruht auf Art 140 Abs 6 erster Satz B VG.

3. Der Verfassungsgerichtshof sieht sich veranlasst, von der ihm durch Art 140 Abs 7 zweiter Satz B VG eingeräumten Ermächtigung Gebrauch zu machen und auszusprechen, dass die aufgehobene Bestimmung nicht mehr anzuwenden ist.

4. Die Verpflichtung des Bundeskanzlers zur unverzüglichen Kundmachung der Aufhebung und der damit im Zusammenhang stehenden sonstigen Aussprüche erfließt aus Art 140 Abs 5 erster Satz B VG und § 64 Abs 2 VfGG iVm § 3 Z 3 BGBlG.

5. Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

European Case Law Identifier

ECLI:AT:VFGH:2016:G541.2015