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VfGH vom 09.06.1999, g53/99

VfGH vom 09.06.1999, g53/99

Sammlungsnummer

15506

Leitsatz

Aufhebung einer Regelung des AlVG betreffend Notstandshilfe ua für Ausländer wegen Verstoßes gegen den Gleichheitssatz und das Diskriminierungsverbot der Menschenrechtskonvention; Zugehörigkeit der Notstandshilfe zur Sozialversicherung; Erfordernis einer stärkeren oder schwächeren Verbundenheit mit Österreich keine sachliche Unterscheidung für die Gewährung einer durch Beiträge aller Versicherten finanzierten Versicherungsleistung

Spruch

§ 34 Abs 1 Arbeitslosenversicherungsgesetz 1977, BGBl. Nr. 609, in der Fassung der Novelle BGBl. I Nr. 78/1997, wird als verfassungswidrig aufgehoben.

Die aufgehobene Bestimmung ist nicht mehr anzuwenden.

Frühere Vorschriften treten nicht wieder in Wirksamkeit.

Der Bundeskanzler ist zur unverzüglichen Kundmachung dieser Aussprüche im Bundesgesetzblatt I verpflichtet.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. Am entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, daß die Verweigerung eines Pensionsvorschusses in Form der Notstandshilfe an einen türkischen Staatsangehörigen mangels österreichischer Staatsbürgerschaft (§33 Abs 2 lita Arbeitslosenversicherungsgesetz 1977) das in Art 14 EMRK in Verbindung mit Art 1 seines (1.) Zusatzprotokolls gewährleistete Gebot verletzt, den Genuß der in der Konvention festgelegten Rechte ohne Benachteiligung insbesondere der nationalen Herkunft wegen zu gewährleisten. Das Recht auf diese Sozialleistung sei an die Zahlung von Beiträgen an den Arbeitslosenversicherungs-Fonds geknüpft und es fehle an einer objektiven und vernünftigen Rechtfertigung für eine unterschiedliche Behandlung ausschließlich aufgrund der Staatsangehörigkeit (Fall Gaygusuz gegen Österreich, Nr. 39/1995/545/631).

Mit Bundesgesetz I 78/1997 wurden hierauf unter anderem die §§33 Abs 2 und 34 des Arbeitslosenversicherungsgesetzes (AlVG) geändert. Nach § 33 Abs 2 neuer Fassung ist Notstandshilfe nur zu gewähren, wenn der (die) Arbeitslose der Vermittlung zur Verfügung steht, die Voraussetzungen gemäß § 34 erfüllt und sich in Notlage befindet.

§ 34 neuer Fassung lautet:

"§34. (1) Voraussetzung für den Anspruch auf Notstandshilfe ist, daß der (die) Arbeitslose

1. in den letzten zehn Jahren vor Geltendmachung des Anspruches auf Arbeitslosengeld oder Karenzurlaubsgeld bzw. Karenzgeld arbeitslosenversicherungspflichtige Beschäftigungen von 416 Wochen nachweist oder

2. bei Geltendmachung des Anspruches auf Arbeitslosengeld oder Karenzurlaubsgeld bzw. Karenzgeld vor Vollendung des 25. Lebensjahres die Schulpflicht zumindest zur Hälfte im Bundesgebiet erfüllt und auch beendet hat oder

3. in Österreich geboren wurde oder

4. vor Geltendmachung des Anspruches auf Arbeitslosengeld oder Karenzurlaubsgeld bzw. Karenzgeld zumindest die halbe Lebenszeit den Hauptwohnsitz bzw. ordentlichen Wohnsitz im Sinne der jeweils geltenden Vorschriften in Österreich gehabt hat.

(2) Bei der Anwendung des Abs 1 Z 1 sind anwartschaftsbegründende Zeiten gemäß § 14 Abs 4 und 5 wie arbeitslosenversicherungspflichtige Beschäftigungszeiten zu behandeln."

§ 79 Abs 40 idF der Novelle 1997 verfügte jedoch, daß die §§33 Abs 2 und 34 in der Neufassung erst mit in Kraft treten und für Fälle gelten (sollten), deren Arbeitslosengeld- oder Karenz(urlaubs)geldanspruch frühestens mit Ablauf des erschöpft "war" (gemeint wohl: sein würde).

Die Erläuterungen der Regierungsvorlage zu dieser Novelle (689 BlgNR 20.GP, 10) beschränken sich auf den Satz:

"Beim Anspruch auf Notstandshilfe soll primär auf acht Jahre Beschäftigung, zugleich aber wie bei den Voraussetzungen für den Befreiungsschein auf die Dauer der Schulpflicht bzw. des Aufenthaltes in Österreich Bedacht genommen werden."

Mit Erkenntnis vom , G363-365/97 ua., hob der Verfassungsgerichtshof die das Erfordernis der österreichischen Staatsbürgerschaft normierende lita des noch in Kraft gestandenen § 33 Abs 2 AlVG 1977 sowie die auf dieses Erfordernis bezugnehmenden Abs 3 und 4 des § 34 (idF BGBl. 416/1992) als verfassungswidrig auf und verfügte, daß die aufgehobenen Bestimmungen nicht mehr anzuwenden sind.

Diese Aussprüche wurden im Bundesgesetzblatt I 1998 unter Nr. 54 kundgemacht.

Mit der unter Nr. 55 kundgemachten Novelle zum AlVG wurde in § 79 Abs 40 der Ausdruck durch den Ausdruck und der Ausdruck durch den Ausdruck ersetzt.

Zu dieser Novelle 1998 findet sich im Antrag der Abgeordneten Reitsamer, Dr. Feurstein und Genossen lediglich folgender Satz:

"Dadurch soll das Problem, das aufgrund des Erkenntnisses des Verfassungsgerichtshofes vom , mit dem die derzeit geltende Fassung der entsprechenden Paragraphen ohne Übergangsfrist aufgehoben worden ist, (zu ergänzen wohl: entstanden ist,) behoben werden."

Beide Stücke des Bundesgesetzblattes wurden am herausgegeben.

II. Aus Anlaß von acht beim Verfassungsgerichtshof anhängigen Beschwerden - den ersten durch Abschluß des Vorverfahrens entscheidungsreif gewordenen Fällen aus einer größeren Anzahl -, in denen Berufungsbescheide bekämpft werden, welche die beantragte Gewährung von Notstandshilfe (Sondernotstandshilfe) mangels Vorliegens der Voraussetzungen des § 34 Abs 1 AlVG ("idF BGBl. I 55/1998") ablehnen, hat der Verfassungsgerichtshof, ausgehend von der vorläufigen Annahme, daß er diese Gesetzesstelle bei ihrer Erledigung anzuwenden hätte, die Verfassungsmäßigkeit des (anscheinend eine untrennbare Einheit bildenden) § 34 Abs 1 AlVG idF BGBl. I 78/1997 zu prüfen beschlossen:

Die Beschwerdeführerin zu B1240/98 ist in Rumänien geboren und wohnt seit 1990 in Österreich; 1991 war sie kurzfristig, seit September 1992 regelmäßig beschäftigt und zuletzt im Karenzurlaub.

Die Beschwerdeführerin zu B1410/98 bezeichnet sich als Konventionsflüchtling rumänischer Herkunft; sie lebe seit 1990 in Österreich, sei 1992 und 1993 beschäftigt gewesen und habe anschließend Karenzgeld bezogen.

Die Beschwerdeführerin zu B1412/98 ist italienische Staatsangehörige und lebt seit 1992 in Österreich, wird als Filmschaffende mit akademischer Ausbildung einer italienischen Kunsthochschule im Rahmen von Zeitdienstverträgen im Zusammenhang mit (Fernseh-)Filmprojekten beschäftigt und war über ein Jahr lang im Rahmen eines Angestelltendienstvertrages tätig.

Die Beschwerdeführerin zu B1432/98 ist in der Slowakei geboren, hat dort das Doktorat der Rechtswissenschaften erworben und war Fachlektorin; sie ist seit 1988 in Österreich und seit 1992 österreichische Staatsbürgerin und hat seit diesem Zeitpunkt mit Unterbrechungen als Büroangestellte gearbeitet, teilweise auch Arbeitslosengeld und einmal Notstandshilfe bezogen und Kurse des Arbeitsmarktservice absolviert.

Der Beschwerdeführer zu B1444/98 ist Staatsangehöriger Bosniens und war laut Versicherungsdatenauszug 1991 bis 1997 jeweils längere Zeit im Jahr als Arbeiter beschäftigt, hat gelegentlich Arbeitslosengeld und zuletzt seit einen Pensionsvorschuß bezogen.

Die Beschwerdeführerin zu B1453/98, in Ungarn geboren, ist seit 1991 österreichische Staatsbürgerin und ging nach dem angefochtenen Bescheid in den letzten zehn Jahren vor Antragstellung (im Oktober 1997) durch 822 Tage (2 Jahre, 13 Wochen und 1 Tag) arbeitslosenversicherungspflichtigen Beschäftigungen nach.

Die Beschwerdeführerin zu B1464/98 ist in der Türkei geboren, wohnt und arbeitet seit 1988 in Österreich, war aber zwischen 1995 und 1997 im Karenzurlaub.

Die Beschwerdeführerin zu B1528/98, geboren in Erfurt und seit Dezember 1996 Österreicherin, war in den letzten zehn Jahren vor Antragstellung nur durch rund 50 Wochen beschäftigt und bezog bis Karenzurlaubsgeld (sie begehrt Sondernotstandshilfe).

Im Prüfungsbeschluß sind die Bedenken, daß die Regelung nicht nur - wie schon die §§33 Abs 2 lita und 34 Abs 3 und 4 der vorangegangenen Fassung - Art 14 EMRK iVm Art 1 ihres (1.) Zusatzprotokolls, sondern auch dem Gleichheitssatz widerspricht, wie folgt formuliert:

"Geht man mit dem Erkenntnis vom davon aus, daß die Notstandshilfe ungeachtet gewisser Elemente der Fürsorge als Leistung der Arbeitslosenversicherung im großen und ganzen aus den Beiträgen der Versicherten bestritten wird, dürfte die Regelung unsachlich sein und die benachteiligten Personengruppen, wenn auch nicht mehr nach der Staatsangehörigkeit, so doch gleichfalls ohne rechtfertigenden Grund diskriminieren. Zwar bestehen keine verfassungsrechtlichen Bedenken dagegen, daß ein Anspruch auf Unterstützung durch Notstandshilfe erst nach einer längeren Dauer der Beschäftigung und Beitragsleistung eingeräumt wird. Bei gleicher, nur nach dem Einkommen gestaffelter Beitragsleistung durch die Vesicherten scheint es aber unsachlich zu sein, die Notstandshilfe auch ohne diese Voraussetzungen all jenen zuzubilligen, die entweder in Österreich geboren wurden oder die Schulpflicht überwiegend im Bundesgebiet erfüllt und beendet oder aber die halbe Lebenszeit ihren Hauptwohnsitz in Österreich gehabt haben. Da es nur ausnahmsweise Österreicher geben wird, die keine dieser drei Voraussetzungen erfüllen, während ihnen ausländische Staatsangehörige meist erst nach längerer Aufenthaltsdauer nachkommen können, wenn die betreffende Voraussetzung - wie der Ort der Geburt oder auch die Beendigung der Schulpflicht - nicht überhaupt vom Zufall abhängt, läuft die Regelung praktisch darauf hinaus, daß Inländer Notstandshilfe sofort, Ausländer aber erst nach achtjähriger Beschäftigung erhalten. Im großen und ganzen entspricht also die Regelung - was ihre Auswirkungen betrifft - anscheinend der bereits als verfassungswidrig aufgehobenen.

Zwar hat die Entscheidung des EGMR (Fall Gaygusuz) nur die unterschiedliche Behandlung von Österreichern und Nichtösterreichern in bezug auf die Notstandshilfe als konventionswidrig befunden (weil sie sich auf keinerlei 'objektive und vernünftige Rechtfertigung' gründen könne), und auch die Bedenken des Verfassungsgerichtshofs, die zur Aufhebung der alten Fassung geführt haben, waren in Übereinstimmung mit diesem Vorwurf des EGMR formuliert worden. Für beide Gerichtshöfe war jedoch nicht etwa ausschlaggebend, daß die Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit als solche verpönt wäre - was die Neuregelung in der Tat vermeidet -, sondern daß in einem durch Beiträge der Versicherten gespeisten System diese Unterscheidung keine sachliche Rechtfertigung finde.

Demgemäß hat der Verfassungsgerichtshof im Erkenntnis vom es unter anderem für möglich gehalten, die Dauer oder Höhe der Notstandshilfe (nicht nur von der Versicherungsdauer, sondern) beispielsweise auch vom rechtmäßigen Aufenthalt im Bundesgebiet während der Anspruchsdauer oder der Bedürftigkeit abhängig zu machen, und es dürfte auch das im System der Arbeitslosenversicherung unbedenkliche Erfordernis der Vermittelbarkeit (§33 Abs 2 AlVG in der Neufassung) erlauben, den Zweck der einem Fremden erteilten Aufenthaltserlaubnis auf den Anspruch auf Notstandshilfe durchschlagen zu lassen, es scheint aber weder die Absolvierung des größeren Teils oder die Beendigung der Schulpflicht im Ausland noch auch ein ausländischer Hauptwohnsitz durch mehr als die halbe Lebenszeit und erst recht nicht die Geburt außerhalb von Österreich ein Grund zu sein, bei gleicher Beitragsleistung die Gewährung von Notstandshilfe mittels des Erfordernisses einer achtjährigen Beschäftigung in den letzten 10 Jahren zu versagen. Jedenfalls ist vorläufig nicht erkennbar, inwiefern diese Umstände mit dem versicherten Risiko zusammenhängen könnten.

Der Einwand der Bundesministerin, durch die Kriterien der Unbegrenztheit und Bedürftigkeit gehe der Anspruch auf Notstandshilfe weit über eine Versicherungsleistung hinaus und unterliege den Grundsätzen einer Fürsorgeleistung - wobei die Unbegrenztheit im europäischen Raum einzig dastehe -, dürfte dagegen nicht greifen: Abgesehen davon, daß sich im Verfahren G363-365/97 ua. gezeigt hat, daß die Leistungen der Arbeitslosenversicherung insgesamt im großen und ganzen aus den Versicherungsbeiträgen bestritten werden, leuchtet es vorläufig nicht ein, was der höhere oder niedrigere Grad der Integration als solcher mit allfälligen Zuschüssen staatlicher Mittel zu tun haben soll. Würde es sich freilich um Maßnahmen der staatlichen Fürsorge handeln (für die allerdings dem Bund keine Zuständigkeit eingeräumt sein dürfte), stünde nach vorläufiger Einschätzung des Verfassungsgerichtshofs einer Beschränkung auf österreichische Staatsbürger ebensowenig entgegen wie einer Einbeziehung bedürftiger Ausländer; dann wäre wohl auch eine Ausdehnung bloß auf Fälle stärkerer Verankerung in Österreich nicht unsachlich. Handelt es sich aber schwerpunktmäßig - wie vorläufig noch immer anzunehmen - um eine Versicherungsleistung, so dürfte die stärkere oder schwächere Verbundenheit mit Österreich als solche keine sachliche Unterscheidung sein. Allenfalls könnte der fehlende Beitrag zur Aufbringung der zugeschossenen staatlichen Mittel dann als Grund für eine Differenzierung nach dem Anteil am Aufkommen herangezogen werden, aber weder die Erfüllung des größeren Teiles der Schulpflicht und deren Vollendung in Österreich noch die Geburt in Österreich noch wohl auch eine nach Maßgabe der Lebenszeit bemessene längere Dauer eines inländischen Hauptwohnsitzes erlaubt anscheinend die Annahme eines höheren Beitrages zur Aufbringung der staatlichen Mittel im Verhältnis zu Arbeitnehmern, die bloß hinter dem Erfordernis einer achtjährigen Beschäftigung zurückbleiben.

Die Bedenken werden anscheinend auch nicht dadurch entkräftet, daß nach der Behauptung der zuständigen Bundesministerin rund ein Drittel der mangels Erfüllung der in § 34 Abs 1 enthaltenen Voraussetzungen abgewiesenen Anträge auf Gewährung von Notstandshilfe (Sondernotstandshilfe) ohnedies österreichische Staatsbürger betrifft. Ist nämlich der Ausschluß von einer Versicherungsleistung bei gleicher Beitragsleistung unsachlich gestaltet, kann es nichts daran ändern, daß nicht nur Fremde, sondern zu einem im Verhältnis zur Gesamtzahl der Ausgeschlossenen nennenswerten Teil auch eigene Staatsbürger betroffen sind."

Die Bundesregierung verteidigt die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes, indem sie sich - wie im wesentlichen schon die Bundesministerin für Arbeit, Gesundheit und Soziales in den Anlaßverfahren - auf den "ausgeprägten Fürsorgecharakter" beruft, der die Notstandshilfe von anderen sozialversicherungsrechtlichen Leistungen unterscheide:

"Die Notstandshilfe wird anders als eine reine Versicherungsleistung bereits nach Vorliegen von nur 52 Wochen Beschäftigung, bei Personen bis zum 25. Lebensjahr von nur 26 Wochen oder 20 Wochen Beschäftigung im Anschluß an einen mit dieser Beschäftigung erworbenen Arbeitslosengeld- oder Karenz(urlaubs)geldanspruch grundsätzlich unbegrenzt gewährt, solange die Notlage vorliegt (§14 Abs 1 AlVG,§ 3 Karenzgeldgesetz, BGBl. I Nr. 47/1997, § 33 Abs 1,§ 35 Abs 1 und § 36 AlVG). Bei der Beurteilung der Notlage sind die gesamten wirtschaftlichen Verhältnisse des/der Arbeitslosen selbst sowie des mit dem Arbeitslosen/der Arbeitslosen im gemeinsamen Haushalt lebenden Ehepartners (des Lebensgefährten bzw. der Lebensgefährtin) zu berücksichtigen. Notstandshilfe ist nur zu gewähren, wenn das zur Beurteilung zugrundeliegende Einkommen nicht ausreicht, um die Befriedigung der notwendigen Lebensbedürfnisse des Arbeitslosen sicherzustellen (§33 Abs 3 und § 36 Abs 2 AlVG).

Der Fürsorgecharakter der Notstandshilfe wird auch in den Fällen der Z 2 bis 4 des § 34 Abs 1 AlVG deutlich, die einen im Vergleich zu Z 1 leichteren Zugang zum Bezug der Notstandshilfe bewirken. Leistungen mit Fürsorgecharakter unterscheiden sich dabei von 'reinen' sozialversicherungsrechtlichen Leistungen dadurch, daß sie bereits bei Erfüllung geringer Anforderungen in Anspruch genommen werden können."

Davon ausgehend hält die Bundesregierung den Bedenken des Gerichtshofes folgendes entgegen:

"Nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (vgl. VfSlg. 7047/1973, 12739/1991) zu sozialversicherungsrechtlichen Leistungen gilt in der Sozialversicherung nicht der Grundsatz der Äquivalenz von Beitragsleistung und Versicherungsleistung, sodaß auch in Kauf genommen werden muß, daß es in manchen Fällen trotz Leistung von Pflichtbeiträgen zu keiner Versicherungsleistung kommt. Im Erkenntnis VfSlg. 14842/1997 hat der Verfassungsgerichtshof es als nicht unsachlich erachtet, daß in einem unkündbaren Dienstverhältnis stehende ÖBB-Bedienstete der Arbeitslosenversicherungspflicht unterliegen, obwohl ein Leistungsbezug nur in den seltensten Fällen zum Tragen kommt.

Wenn allerdings selbst bei 'rein' sozialversicherungsrechtlichen Ansprüchen eine Beitragspflicht ohne entsprechenden Leistungsbezug keinen verfassungsrechtlichen Bedenken begegnet, muß dies nach Ansicht der Bundesregierung wohl auch bei einer Leistung mit ausgeprägtem Fürsorgecharakter wie der Notstandshilfe gelten. Die vom Verfassungsgerichtshof als unsachlich erachtete Differenzierung der Voraussetzungen für den Leistungsbezug (also zwischen der Z 1 und den Z 2 bis 4 des § 34 Abs 1 AlVG) ist gerade Ausfluß des Fürsorgecharakters der Notstandshilfe, dessen Entsprechung in der Integration bestimmter Personengruppen in Österreich liegt. Im Hinblick auf den Gedanken der Integration in Österreich wurden aber sachliche Kriterien gewählt.

Die Integration in Österreich wird beurteilt:


Tabelle in neuem Fenster öffnen
-
nach der Dauer der Beschäftigung in Österreich oder
-
bei Jugendlichen bis zum 25. Lebensjahr durch den Schulbesuch und Schulabschluß in Österreich oder
-
durch die Aufenthaltsdauer in Österreich oder
-
durch die Geburt in Österreich, zumal der Gesetzgeber hinsichtlich dieses Kriteriums davon ausgeht, daß in Österreich geborene Personen in der Regel im Inland bleiben und somit deren Integration anzunehmen ist.

Das Verhältnis der Leistungsvoraussetzungen zueinander stellt sich wie folgt dar:

Primärer Anknüpfungspunkt für die Regelungen des § 34 Abs 1 bleibt das Vorliegen einer bestimmten Beschäftigungsdauer, jedoch wurden im Sinne des oben angesprochenen Fürsorgecharakters, der der Notstandshilfe nach wie vor zukommt, auch weitere Kriterien geschaffen, die diesbezüglich wesentlich auf die Integration in den österreichischen Arbeitsmarkt abstellen. Bei diesen drei Kriterien kann man im Regelfall davon ausgehen, daß dieser Personenkreis auch schon längere Zeit in die österreichische Gesellschaft integriert ist und auch beschäftigt war, diese Beschäftigungszeiten jedoch auch schon längere Zeit zurückliegen können bzw. noch nicht die in § 34 Abs 1 Z 1 geforderte Dauer erreichen.

Die Kriterien des § 34 Abs 1 Z 2 bis 4 AlVG (Schulbesuch, Geburt und Aufenthalt in Österreich) sind alternative Voraussetzungen zur Notstandshilfe, die als Erleichterungen gegenüber dem Hauptkriterium nach Z 1 dieser Gesetzesstelle die Feststellung der Integration in Österreich insbesondere für jüngere Arbeitslose (Ausländer, aber auch Österreicher) darstellen. Diesen Personen, die noch nicht lange beschäftigt waren, soll nach dem Willen des Gesetzgebers ebenfalls die Notstandshilfe gebühren. Gleiches gilt für die Familienangehörigen eines Dienstnehmers, die mehr als die halbe Lebenszeit in Österreich verbracht haben und nach einer Beschäftigung die Voraussetzung der acht Jahre nicht erfüllen. Liegen diese Alternativkriterien aber auch nicht vor, so soll im Hinblick auf den dargelegten Fürsorgecharakter der Notstandshilfe diese nicht gebühren.

Zusammenfassend ist also festzuhalten, daß sich die Notstandshilfe, was die Ausgestaltung der Voraussetzungen zum Leistungsbezug betrifft, von anderen sozialversicherungsrechtlichen Leistungen unterscheidet und an diese Unterscheidung auch bestimmte Rechtsfolgen geknüpft werden dürfen. Ausfluß dieser Unterscheidung sind vor dem Hintergrund des ausgeprägten Fürsorgecharakters der Notstandshilfe die Kriterien des § 34 Abs 1 AlVG, an Hand derer das Erfordernis der Integration in Österreich ablesbar ist. Nach Ansicht der Bundesregierung stellt das Abstellen auf die Integration in Österreich unter Heranziehung der dafür maßgeblichen Kriterien eine ausreichende sachliche Rechtfertigung dar, sodaß § 34 Abs 1 AlVG nicht im Widerspruch zu Art 14 MRK iVm Art 1 1. ZP MRK und zum Gleichheitssatz steht."

Der Verfassungsgerichtshof hat die Bundesregierung eingeladen, genaue Zahlen über den Anteil der Notstandshilfe an den gesamten Leistungen der Arbeitslosenversicherung und den Anteil der staatlichen Mittel an der Finanzierung der Arbeitslosenversicherung vorzulegen. Dazu führt die Budesregierung in ihrer Äußerung aus:

"Ein Teil der Aufwendungen zur Notstandshilfe wird zur Schonung der Steuermittel aus den Beiträgen zur Arbeitslosenversicherung gedeckt, jedoch sind auf Grund der durch die Wirtschaftssituation steigenden Zahl der Notstandshilfebezieher Bundeszuschüsse zur Abgangsdeckung der Gebarung Arbeitsmarktpolitik erforderlich, die 1997 rund 802 Mio. S und 1998 349 Mio. S betrugen.

Die Finanzierung der gesamten Arbeitsmarktpolitik des Bundes und somit indirekt auch der Notstandshilfe erfolgt aufgrund der Regelungen des Arbeitsmarktpolitik-Finanzierungsgesetzes (AMPFG), BGBl. Nr. 315/1994. Die Gebarung der Arbeitsmarktpolitik stellt einen Teil der Bundesgebarung dar und ist als solche voll in den Bundeshauhalt integriert. Aus den Einnahmen werden sowohl die Personal- und Sachausgaben des Arbeitsmarktservice als auch die arbeitsmarktpolitischen Förderungsmaßnehmen und auch die passiven Leistungen, wie Arbeitslosengeld und Notstandshilfe, aber auch der Kostenersatz an die Träger der Krankenversicherung für die Vollziehung des Karenzgeldesgesetzes und der entsprechende 30%ige Anteil zu den Kosten des Karenzgeldes bestritten. Der Anteil der Ausgaben für die Notstandshilfe und der Anteil der staatlichen Mittel an der Finanzierung der Arbeitsmarktpolitik sind in der beigeschlossenen Tabelle angeführt.

1998 Anteile in %

Angabe in Mrd S

Ausgaben Notstandshilfe (TP912) 12,288 der Nh an Ge-

samtleistungen

Ausgaben passive Leistungen 41,932 29,3 %

(1/15557+1/15547)

Gesamtausgaben 58,271 21,1 %

der Einnahmen

an der Finan-

zierung

AlV-Beitragseinnahmen (2/15580) 47,674 81,8 %

Bundesbeitrag (2/15591) 2,849 4,9 %

Gesamteinnahmen 58,271

1998 betrugen die Ausgaben und Einnahmen der zweckgebundenen Gebarung Arbeitsmarktpolitik 58,271 Mrd. Schilling.

An Notstandshilfe wurden dabei 12,288 Mrd. Schilling (inkl. der SV-Beiträge) ausbezahlt; dies entspricht einem Anteil von rd. 21 % an den Gesamtausgaben der Gebarung Arbeitsmarktpolitik (bzw. von rd. 29 % an den passiven Leistungen der Gebarung Arbeitsmarktpolitik (AlVG und SUG).

Der Anteil der staatlichen Mittel an der Finanzierung der Arbeitsmarktpolitik betrug 1998 rd. 5 % (Bundesbeitrag von 2,5 Mrd. S und Abgang von 0,349 Mrd. S).

Der Anteil der staatlichen Mittel, die direkt aus dem Bundesbudget erfolgen, läßt sich jedoch nicht einzelnen Ausgabenpositionen zuordnen."

Für den Fall der Aufhebung beantragt die Bundesregierung die Bestimmung einer Frist von 18 Monaten zu deren Inkrafttreten, um die erforderlichen legistischen Vorkehrungen zu ermöglichen.

Eine Äußerung hat auch die Beschwerdeführerin im Anlaßverfahren B1528/98 erstattet. Sie bekräftigt die Bedenken des Verfassungsgerichtshofs.

III. Die Gesetzesprüfungsverfahren

sind zulässig.

Es ist nichts hervorgekommen, was daran zweifeln ließe, daß die Anlaßbeschwerden zulässig sind und der Gerichtshof bei ihrer Erledigung die in Prüfung gezogene Bestimmung anzuwenden hätte. Die Regelung bildet auch ein Ganzes, aus dem nicht einzelne bedenkliche Teile entfernt werden könnten, ohne ihren Sinn insgesamt entscheidend zu verändern.

IV. Die geäußerten Bedenken treffen zu. § 34 Abs 1 AlVG in der Fassung des Jahres 1997 widerspricht Art 14 EMRK iVm Art 1 ihres (1.) Zusatzprotokolls und dem Gleichheitssatz der österreichischen Bundesverfassung.

1. Zunächst trifft die Annahme des Verfassungsgerichtshofs weiterhin zu, daß die Notstandshilfe als Leistung der Arbeitslosenversicherung im großen und ganzen aus den Beiträgen der Versicherten bestritten wird. Beträgt nämlich der Anteil der staatlichen Mittel an der Finanzierung der gesamten Arbeitsmarktpolitik rund 5 % (gegenüber rund 82 % an Arbeitslosenversicherungsbeiträgen) und der Anteil der Notstandshilfe an den Gesamtausgaben unter dem Titel der Arbeitsmarktpolitik rund 21 % - sodaß der Bundesbeitrag zur Arbeitsmarktpolitik von insgesamt 2,849 Mrd S nur zu einem kleineren Teil zur Bedeckung des Aufwandes von 12,288 Mrd S an Notstandshilfe dient -, so kann nicht davon die Rede sein, daß dies den Charakter der Notstandshilfe derart prägt, daß nicht von einer Versicherungsleistung, sondern nur von einer der Versicherung akzessorischen Fürsorgeleistung gesprochen werden könnte.

Dabei geht der Verfassungsgerichtshof freilich davon aus, daß nicht die zufälligen aktuellen, sich stets ändernden Verhältnisse ausschlaggebend sind, sondern das sich aus längerfristigen Erfahrungswerten ergebende Gesamtbild eines Arbeitslosenversicherungssystems mit gewissen Elementen der Fürsorge. Bloß theoretisch mögliche Entwicklungen, wie etwa ein unverhältnismäßiges Anwachsen von allenfalls nötigen staatlichen Zuschüssen, müssen aber außer Betracht bleiben, zumal die Erfahrung zeigt, daß dann auch die Leistungsseite nicht unangetastet bleibt.

2. Handelt es sich aber um eine Sozialversicherungsleistung, so muß ungeachtet möglicher Abweichungen im grundsätzlichen der Kreis der Beitragsleistenden mit dem Kreis der Leistungsempfänger übereinstimmen. Zwar gilt in der Sozialversicherung nicht der Grundsatz der Äquivalenz von Beitragsleistung und Versicherungsleistung im Einzelfall, sodaß auch in Kauf genommen werden muß, daß es in manchen Fällen trotz Leistung von Pflichtbeiträgen zu keiner Versicherungsleistung kommt (vgl. VfSlg. 12739/1991 Pensionsbezieher, 14842/1997 ÖBB-Bedienstete), wie umgekehrt in gewissen Fällen auch Personen in den Genuß von Versicherungsleistungen kommen können, die (noch) keine Beiträge geleistet haben. Im großen und ganzen muß sich der Kreis der Anspruchsberechtigten aber mit dem Kreis der Versicherten decken.

In bezug auf die Notstandshilfe kehrt die in Prüfung gezogene Bestimmung die Verhältnisse aber um. Es bedarf keiner statistischen Erhebungen, um zu erkennen, daß die Notstandshilfe nicht etwa regelmäßig erst nach längerer Wartefrist und nur ausnahmsweise schon früher gewährt wird, sondern jeder in Österreich Geborene und daher nahezu sämtliche Österreicher erhalten die Notstandshilfe nach Erschöpfen des Anspruchs auf Arbeitslosengeld, alle anderen Personen hingegen nur ausnahmsweise: wenn sie - unter 25jährig - mindestens die Hälfte der Schulpflicht im Bundesgebiet erfüllt und auch beendet haben, die letzten 10 Jahre durch 416 Wochen arbeitslosenversicherungspflichtig beschäftigt waren oder zumindest die halbe Lebenszeit den Hauptwohnsitz in Österreich nehmen konnten. Das überhaupt nur durch die Absicht möglichst vollständiger Erfassung der Österreicher (ohne förmliches Abstellen auf die Staatsbürgerschaft) erklärliche Erfordernis der Geburt in Österreich nimmt demgegenüber sogar in Kauf, daß Personen, die außer ihrem zufälligen Geburtsort nichts mit Österreich verbindet, den Anspruch auf Notstandshilfe ohne weitere Voraussetzung erwerben. Eine solche Regelung ist auch im Verein mit den alternativen Voraussetzungen um nichts sachlicher als die alte, nach der Staatsbürgerschaft unterscheidende war.

Es ist der Bundesregierung einzuräumen, daß das Erfordernis der überwiegenden Erfüllung der Schulpflicht in Österreich (für junge Arbeitslose) zusammen mit jenem des österreichischen Hauptwohnsitzes durch zumindest die halbe Lebenszeit ihr Anliegen verwirklicht, jüngeren Arbeitslosen regelmäßig dann ohne weiteres auch Notstandshilfe zukommen zu lassen, wenn sie in Österreich integriert sind (und daher das eine oder das andere der genannten beiden Erfordernisse zutrifft; die Geburt in Österreich erwähnt selbst die Bundesregierung in diesem Zusammenhang - zurecht - nicht). Wie der Verfassungsgerichtshof jedoch schon im Prüfungsbeschluß in Übereinstimmung mit seiner Vorjudikatur und der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte dargelegt hat, ist das (durch das Genügen der Geburt in Österreich verschleierte) Erfordernis der österreichischen Staatsangehörigkeit oder einer (durch die Z 2 und 4 des § 34 Abs 1 vorausgesetzten) stärkeren oder schwächeren Verbundenheit mit Österreich keine sachliche Unterscheidung für die Gewährung einer durch Beiträge aller Versicherten finanzierten Versicherungsleistung. Daß die eine oder andere die Verbundenheit mit Österreich sichernde Voraussetzung (mit Ausnahme jener der langdauernden Beschäftigung in Z 1) etwa auch eine höhere Beitragsleistung zur Aufbringung zugeschossener staatlicher Mittel darstellen und solcherart dem Versicherungsgedanken entsprechen könnte, ist von der Bundesregierung nicht behauptet worden und auch nicht erkennbar geworden.

Die Regelung wird auch nicht dadurch sachlich und dem Diskriminierungsverbot der EMRK entsprechend, daß von den mangels der Erfüllung der Voraussetzungen von der Notstandshilfe (Sondernotstandhilfe) Ausgeschlossenen rund ein Drittel ohnedies Österreicher sind. Daß auch solche benachteiligt werden, rechtfertigt die Benachteiligung von nicht in Österreich Geborenen (insbesondere Ausländern) nicht.

Auch in ihrer vorliegenden Gestalt ist die Regelung folglich als verfassungswidrig aufzuheben.

V. Im Erkenntnis vom hat der Verfassungsgerichtshof keinen Grund gesehen, für das Außerkrafttreten der aufgehobenen Vorgängerbestimmung eine Frist zu setzen. Er hat sich vielmehr aus den dort näher bezeichneten Gründen für verpflichtet gehalten, die weitere Nichtanwendung der aufgehobenen Gesetzesbestimmung (auch auf bereits verwirklichte Fälle) zu verfügen. Gleiches gilt auch diesmal.

Die Aussprüche über das Nichtinkrafttreten früherer Vorschriften und die Kundmachung stützen sich auf Art 140 Abs 5 und 6 B-VG.

Eine mündliche Verhandlung war entbehrlich (§19 Abs 4 Satz 1 VerfGG).