VfGH vom 10.10.2001, g47/99
Sammlungsnummer
16320
Leitsatz
Aufhebung einer Bestimmung im AVG über die Zulässigkeit einer Berufung gegen die Verhängung einer Ordnungsstrafe an den UVS auch im Fall der Verhängung durch eine Gemeinde im Zuge eines in ihren eigenen Wirkungsbereich fallenden Verfahrens infolge Ausschaltung der verfassungsgesetzlich vorgesehenen Vorstellung zugunsten eines Rechtsmittels an eine andere Behörde außerhalb der Gemeinde
Spruch
I. In § 36 Abs 2 des Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetzes 1991 - AVG, BGBl. Nr. 51/1991 in der Fassung des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 158/1998, wird die Wortfolge "Ordnungs- oder" als verfassungswidrig aufgehoben.
Die Aufhebung tritt mit Ablauf des in Kraft.
Frühere gesetzliche Bestimmungen treten nicht wieder in Wirksamkeit.
Der Bundeskanzler ist zur unverzüglichen Kundmachung dieser Aussprüche im Bundesgesetzblatt I verpflichtet.
II. Im übrigen werden die Anträge zurückgewiesen.
Begründung
Entscheidungsgründe:
I. 1. Beim Unabhängigen Verwaltungssenat im Land Niederösterreich (im folgenden: UVS Niederösterreich) sind Berufungen gegen Bescheide des Magistrates der Stadt Wiener Neustadt bzw. der Bundespolizeidirektion St. Pölten anhängig, mit denen über die Berufungswerber jeweils eine Ordnungsstrafe wegen beleidigender Schreibweise in Fax-Mitteilungen an die genannten Behörden verhängt wurde. Den Berufungsverfahren, die Anlaß zu den zu G47/99 und G74/99 protokollierten Anträgen gaben, liegen Ordnungsstrafen zugrunde, die im Zusammenhang mit baupolizeilichen Verfahren verhängt wurden. Gegenstand des dem Antrag zu G158/99 zugrundeliegenden Verfahrens ist die Verhängung einer Ordnungsstrafe im Rahmen eines fremdenpolizeilichen Verfahrens.
Gemäß § 36 Abs 2 AVG idF BGBl. I 158/1998 ist gegen einen Bescheid, mit dem eine Ordnungs- oder Mutwillensstrafe verhängt wird, Berufung an den Unabhängigen Verwaltungssenat zulässig. Aus Anlaß der genannten Verfahren entstanden beim UVS Niederösterreich Bedenken ob der Verfassungsmäßigkeit des § 36 Abs 2 AVG in der genannten Fassung.
Gestützt auf Art 140 Abs 1 B-VG iVm. Art 129a Abs 3 und Art 89 Abs 2 B-VG stellte der UVS Niederösterreich daher die zu G47/99, G74/99 und G158/99 protokollierten Anträge, § 36 Abs 2 AVG idF BGBl. I 158/1998, in eventu die in dieser Vorschrift enthaltene Wortfolge "Ordnungs- oder", als verfassungswidrig aufzuheben.
2. § 36 Abs 2 AVG idF BGBl. I 158/1998 lautet:
"(2) Gegen den Bescheid, mit dem eine Ordnungs- oder Mutwillensstrafe verhängt wird, ist Berufung an den unabhängigen Verwaltungssenat zulässig, der durch Einzelmitglied zu entscheiden hat."
3. Seine Bedenken gegen diese Bestimmung legte der UVS Niederösterreich in seinem zu G47/99 protokollierten Antrag wie folgt dar (die beiden anderen Anträge sind im wesentlichen gleichlautend):
"Gemäß § 36 Abs 2 AVG, BGBl. Nr. 51/1991, i.d.F. BGBl.I Nr. 158/1998, ist gegen den Bescheid, mit dem eine Ordnungs- oder Mutwillensstrafe verhängt wird, Berufung an den unabhängigen Verwaltungssenat zulässig, der durch Einzelmitglied zu entscheiden hat.
Die Verhängung der Ordnungsstrafe ist im gegenständlichen Fall dem eigenen Wirkungsbereich der Gemeinde in einer Angelegenheit der Landesvollziehung zuzurechnen.
Den Gemeinden ist durch Art 118 Abs 3 Z 9 B-VG die Besorgung der örtlichen Baupolizei, soweit sie nicht bundeseigene Gebäude, die öffentlichen Zwecken dienen, zum Gegenstand hat, im eigenen Wirkungsbereich gewährleistet.
Die Gemeinde hat gemäß Art 118 Abs 4 B-VG die Angelegenheiten des eigenen Wirkungsbereiches frei von Weisungen und - vorbehaltlich der Bestimmungen des Art 119 a Abs 5 - unter Ausschluß eines Rechtsmittels an Verwaltungsorgane außerhalb der Gemeinde zu besorgen.
Wer durch den Bescheid eines Gemeindeorganes in Angelegenheiten des eigenen Wirkungsbereiches in seinen Rechten verletzt zu sein behauptet, kann zufolge Art 119 a Abs 5 B-VG nach Erschöpfung des Instanzenzuges (Art118 Abs 4) innerhalb von zwei Wochen nach Erlassung des Bescheides dagegen Vorstellung bei der Aufsichtsbehörde erheben (im vorliegenden Fall findet gemäß § 75 Abs 1 des Wiener Neustädter Stadtrechtes 1977, LGBl. 1025, in Angelegenheiten der Landesvollziehung eine Vorstellung an die Aufsichtsbehörde gegen Bescheide eines Organes der Stadt in Angelegenheiten des eigenen Wirkungsbereiches nicht statt).
Die Zuständigkeitsregelung des § 36 Abs 2 AVG stützt sich auf Art 129a Abs 1 Z 3 B-VG, wonach die unabhängigen Verwaltungssenate nach Erschöpfung des administrativen Instanzenzuges, sofern ein solcher in Betracht kommt, 'in sonstigen Angelegenheiten, die ihnen durch die die einzelnen Gebiete der Verwaltung regelnden Bundes- oder Landesgesetze zugewiesen werden', erkennen. Mayer vertritt zu dieser Regelung in seinem Manzschen Kurzkommentar zum B-VG (2. Auflage, Seiten 353 f) die Auffassung, daß ein UVS auch dazu berufen werden kann, in Angelegenheiten des eigenen Wirkungsbereiches der Gemeinde zu entscheiden, Art 129a Abs 1 Z 3 B-VG derogiere insoweit Art 118 Abs 2 und 3 B-VG materiell; folgt man dieser Auffassung, dann ist die angefochtene Bestimmung verfassungskonform.
Walter-Thienel (Die Verwaltungsverfahrensnovellen 1998, Manz 1999, Seiten 18 ff) sind dagegen der Ansicht, daß § 36 Abs 2 AVG verfassungswidrig ist, weil er die verfassungsgesetzlich vorgesehene Vorstellung an die Aufsichtsbehörde ausschließt.
Verfassungsrechtliche Probleme sehen die beiden Autoren auch in jenen Fällen, in denen der UBAS, der Oberste Agrarsenat sowie der Unabhängige Umweltsenat verfassungsgesetzlich als letztinstanzliche Behörden vorgesehen sind, weil durch § 36 Abs 2 AVG die Berufung an diese Behörden einfachgesetzlich ausgeschlossen wird. Verfassungsrechtlich bedenklich sei auch, daß von diesen letztinstanzlichen Behörden verhängte Ordnungs- und Mutwillensstrafen bei den UVS angefochten werden können. Da der Unabhängige Verwaltungssenat im Land NÖ im Lichte dieser Ausführungen Bedenken gegen die Anwendung des § 36 Abs 2 AVG aus dem Grund der Verfassungswidrigkeit hat, sieht er sich zur Anfechtung dieser Bestimmung veranlaßt. Der Alternativantrag wurde vorsorglich gestellt, weil Gegenstand des ha. anhängigen Verfahrens lediglich die Verhängung einer Ordnungsstrafe und nicht auch einer Mutwillensstrafe ist."
4. Die Bundesregierung erstattete eine Äußerung, in der sie beantragt, die angefochtene Bestimmung nicht als verfassungswidrig aufzuheben. Ihre Auffassung begründet die Bundesregierung wie folgt:
"2.1. Das Verhältnis der Bestimmung des Art 129a Abs 1 Z 3 B-VG zu Art 118 Abs 4 B-VG, wonach die Gemeinde die Angelegenheiten des eigenen Wirkungsbereiches - vorbehaltlich der Möglichkeit einer Vorstellung nach Art 119a Abs 5 B-VG - unter Ausschluß eines Rechtsmittels an Verwaltungsorgane außerhalb der Gemeinde zu besorgen hat, wurde in der Lehre vielfach erörtert (vgl. ua. Aichlreiter, Unabhängige Verwaltungssenate als Berufungsinstanz?, ZfV 1990, 20 ff.; Grabenwarter, Zwingt Straßburg zur Änderung des österreichischen Raumplanungs- und Baurechts?, ZfV 1992, 605 ff., Mayer, Die unabhängigen Verwaltungssenate in den Ländern, in: Walter (Hrsg.), Verfassungsänderungen 1988 (1989), 83 ff.; derselbe, Das österreichische Bundes-Verfassungsrecht2 (1997), 353f, 356 (I.4. bzw. II.3 zu Art 129a B-VG); Mayer/Stöberl, Die unabhängigen Verwaltungssenate im Rechtsschutzsystem, ÖJZ 1991, 257 ff.; Messiner,
Der Instanzenzug im AVG-Verfahren nach der StVO und dem KFG, ZVR 1990, 267 ff.; Moritz, Unabhängige Verwaltungssenate und eigener Wirkungsbereich der Gemeinde, ÖGZ 6/1992, 6 ff.; Thienel, Das Verfahren der Verwaltungssenate2 (1992), 23 ff.; Walter/Thienel, Verwaltungsverfahrensnovellen 1998, 19 ff; dieselben, Verwaltungsverfahrensgesetze13 (1998), Rz 2 ff. zu § 36 AVG). Diesen Überlegungen liegen zwei diametral entgegengesetzte Rechtsauffassungen zugrunde:
2.2. Thienel (Verwaltungssenate, 23 ff.) vertritt die Auffassung, daß in Angelegenheiten des eigenen Wirkungsbereiches der Gemeinde der unabhängige Verwaltungssenat, sofern dieser nach Art 129a Abs 1 Z 3 B-VG durch einfaches Gesetz dafür zuständig gemacht wird, erst nach Erhebung der Vorstellung an die Aufsichtsbehörde gemäß Art 119a Abs 5 B-VG angerufen werden könne. Dies sei dem klaren Wortlaut des Art 129a Abs 1 erster Satz B-VG zu entnehmen, der die Anrufung des UVS erst 'nach Erschöpfung des administrativen Instanzenzuges, sofern ein solcher in Betracht kommt,' vorsehe. Zu der in Art 131 Abs 1 bzw. Art 144 Abs 1 B-VG genannten - vergleichbaren - Prozeßvoraussetzung der 'Erschöpfung des Instanzenzuges' gehöre aber nach ständiger Rechtsprechung des Verfassungs- bzw. des Verwaltungsgerichtshofes nicht nur die Geltendmachung aller ordentlichen Rechtsmittel, sondern auch die Ergreifung allfälliger außerordentlicher Rechtsmittel wie der Vorstellung nach Art 119a Abs 5 B-VG (vgl. ua. VfSlg. 5.353/1966, 5.505/1967, 6.073/1969, 6.513/1971, , VfSlg. 8641/1979, 8.773/1980, 9.770/1983, 12.992/1992, 14.181/1995; VwSlg. 6.966 A/1966, Zl. 96/17/0077; Zl. 98/16/0037). Dieser Ansicht folgen auch Aichlreiter (ZfV 1990, 20 ff.), der sich gegen die Einbindung der UVS als Berufungsinstanz nach dem AVG ausspricht, bzw. Grabenwarter (ZfV 1992, 616) sowie Messiner (ZVR 1990, 267 ff.).
2.3. Nach Mayer können hingegen die in Art 129a Abs 1 Z 3 B-VG vorgesehenen 'sonstigen Angelegenheiten' vom einfachen Gesetzgeber in die Zuständigkeit des UVS als Berufungsbehörde übertragen werden (vgl. Mayer, B-VG2, 355 f. (II.3 zu Art 129a); vgl. auch VfSlg. 13.987/1994). Demnach könne der unabhängige Verwaltungssenat aufgrund des Art 129a Abs 1 Z 3 B-VG auch dazu berufen werden, in einer Angelegenheit des eigenen Wirkungsbereiches der Gemeinde als Berufungsbehörde zu entscheiden, er trete diesfalls an die Stelle der Aufsichtsbehörde nach Art 119a Abs 5 B-VG. Dieser Auffassung nach derogierte daher Art 129a Abs 1 Z 3 B-VG insoweit 'Art118 Abs 2 und 3 B-VG' (vgl. Mayer aaO, 354; wohl richtig: 'Art118 Abs 4 B-VG') materiell. Mayer argumentiert hiebei, daß es erklärte Absicht des Verfassungsgesetzgebers der B-VG-Novelle 1988 gewesen sei, eine in Übereinstimmung mit der EMRK stehende Organisationsstruktur von 'Tribunalen' zu schaffen, die den mit der Ratifikation der EMRK eingegangenen Verpflichtungen voll entspricht (vgl. RV 132 BlgNR 17. GP bzw. AB 817 BlgNR 17. GP). Zum Ergebnis der materiellen Derogation des Art 118 Abs 4 B-VG durch Art 129a Abs 1 Z 3 B-VG gelangt auch Moritz (ÖGZ 6/1992, 11). Während Thienel und Grabenwarter den Ausschluß der Vorstellung als weitgehenden - vom Verfassungsgesetzgeber angesichts der fehlenden Ausführungen in den Materialien nicht intendierten - Eingriff in das System der gemeindlichen Selbstverwaltung und der staatlichen Aufsicht werten, heißt es bei Moritz (...):
'Art129 B-VG beruft die UVS ausdrücklich zur Sicherung der Gesetzmäßigkeit der gesamten öffentlichen Verwaltung, was eindeutig gegen ein verfassungsrechtliches Gebot der unbedingten Erhaltung des Art 118 Abs 4 B-VG spricht. Die Materialien schließlich erwähnen den eigenen Wirkungsbereich der Gemeinde im gegebenen Zusammenhang gar nicht und lassen ganz im Gegenteil erkennen, daß Art 129a Abs 1 Z 3 B-VG weit verstanden werden soll, indem sie uneingeschränkt von 'anderen Entscheidungskompetenzen in Verwaltungsmaterien' sprechen, durch deren einfachgesetzliche Übertragung 'insbesondere die Möglichkeit geschaffen werden (soll), die Zuständigkeit der unabhängigen Verwaltungssenate in Fällen zu begründen, bei denen es um die Entscheidung über 'civil rights and obligations' im Verwaltungswege geht.' Es soll also der eigene Wirkungsbereich der Gemeinde ganz sicher nicht im Wege stehen, wenn infolge der weiten Judikatur der Straßburger Instanzen zu Art 6 Abs 1 MRK der einfache Gesetzgeber den UVS zur Entscheidung beruft, und auch im übrigen ist eine Einsetzung des UVS in diesen Angelegenheiten möglich.'
2.4. Für die gegenständlichen Gesetzesprüfungsverfahren bedeutet dies:
Folgt man der Auffassung Thienels, so wäre die Bestimmung des § 36 Abs 2 AVG in der Fassung des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 158/1998 im Hinblick auf den nach Art 118 Abs 4 B-VG in Angelegenheiten des eigenen Wirkungsbereiches der Gemeinde - vorbehaltlich der Vorstellung nach Art 119a Abs 5 B-VG - ausgeschlossenen Rechtszug an Verwaltungsorgane außerhalb der Gemeinde wohl als verfassungswidrig anzusehen. Im Hinblick auf die bloß kassatorische Entscheidungsbefugnis der Vorstellungsbehörde (Art119a Abs 5 B-VG) könnte der unabhängige Verwaltungssenat, sofern er erst nach Erhebung einer Vorstellung angerufen werden kann, ungeachtet der von Art 6 EMRK - wenn man aus dieser Bestimmung einen Anspruch auf meritorische Entscheidung in Straf- und Zivilsachen durch ein Tribunal ableitet (vgl. ua. VfSlg. 11.500/1987, 11.506/1987, 11.760/1988, 11.762/1988) gestellten Anforderungen nicht eine meritorische Entscheidung in der Sache selbst treffen, sondern eine bestätigende Entscheidung der Aufsichtsbehörde nur durch eine kassatorische ersetzen. Den Anforderungen des Art 6 EMRK - auch wenn dessen Anwendbarkeit auf Ordnungsstrafen nach der ZPO durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte bisher verneint wurde (vgl. EGMR , Fall Putz v. Austria) - wäre hiedurch wohl nicht Genüge getan. Davon abgesehen, haben der Verfassungsgerichtshof bzw. der Verwaltungsgerichtshof in ihrer bisherigen Judikatur die Vorstellung an die Gemeindeaufsichtsbehörde bloß als 'Instanzenzug im Sinne des Art 144 Abs 1 B-VG' bzw. als 'Instanzenzug im Sinne des Art 131 Abs 1 B-VG' bezeichnet (vgl. ua. VfSlg. 5.353/1966, 5.505/1967, 6.073/1969, 6.513/1971, , VfSlg. 8641/1979, 8.773/1980, 9.770/1983, 12.992/1992, 14.181/1995; Zl. 96/17/0077; Zl. 98/16/0037), die Notwendigkeit der Erhebung der Vorstellung zur 'Erschöpfung des administrativen Instanzenzuges' im Sinne des Art 129a Abs 1 B-VG ergibt sich hieraus nicht zwingend.
Folgt man hingegen der von Mayer bzw. Moritz vertretenen Auffassung, so ist davon auszugehen, daß in Angelegenheiten des eigenen Wirkungsbereiches der Gemeinde die Vorstellung an die Aufsichtsbehörde durch § 36 Abs 2 AVG in verfassungsrechtlich zulässiger Weise ausgeschlossen wird. Die Bundesregierung neigt dieser Auffassung zu.
...
3.3.4 Auf den ersten Blick mag es verwundern oder gar befremdlich anmuten, wenn § 36 Abs 2 AVG für den Fall der Verhängung von Ordnungs- und Mutwillensstrafen durch alle Behörden (mit Ausnahme der unabhängigen Verwaltungssenate selbst) eine Berufung an die unabhängigen Verwaltungssenate selbst vorsieht, während sich bei allen anderen verfahrensrechtlichen Bescheiden derselben Behörden der Instanzenzug (in Ermangelung einer Sonderregelung im AVG) nach jenem in der Hauptsache richtet. Diese Entscheidung des Gesetzgebers wird jedoch verständlich, wenn man bedenkt, daß Ordnungs- und Mutwillensstrafen ungeachtet ihres Charakters als Disziplinarmittel gewisse strukturelle Ähnlichkeiten mit den wegen (gerichtlich oder verwaltungsbehördlich) strafbarer Handlungen verhängten Strafen aufweist (vgl. die in den Erläuterungen zu Art 1 Z 9 zitierte Abhandlung von Grabenwarter/Geppert, Die Bedeutung des Art 6 MRK für die Verhängung von Ordnungs- und Mutwillensstrafen, JBl. 1996, 159, 227).
Um verfassungsrechtlichen Bedenken unter dem Gesichtspunkt des Art 6 EMRK den Boden zu entziehen, hätte es zwar ausgereicht, wenn der Gesetzgeber die unabhängigen Verwaltungssenate zur Entscheidung über Ordnungs- und Mutwillensstrafen nur in solchen Angelegenheiten berufen hätte, in denen die Entscheidung Behörden ohne 'Tribunalqualität' im Sinne des Art 6 EMRK zukam. Mit § 36 Abs 2 AVG hat der Gesetzgeber jedoch nicht nur dieses Ziel, sondern erkennbar auch das Ziel verfolgt, die Zuständigkeit zur Entscheidung über Ordnungs- und Mutwillensstrafen bei den unabhängigen Verwaltungssenaten zu zentralisieren und sie dadurch als 'Ordnungsstrafgerichte' einzurichten. So gesehen ist die Durchbrechung des für den Instanzenzug bei verfahrensrechtlichen Bescheiden im allgemeinen geltenden Grundsatzes nur konsequent; hätte sich der Gesetzgeber darauf beschränkt, im § 36 Abs 2 AVG die Zuständigkeit der unabhängigen Verwaltungssenate zur Entscheidung über Ordnungs- und Mutwillensstrafen vorzusehen, die von Behörden ohne 'Tribunalqualität' im Sinne des Art 6 EMRK verhängt worden sind, wäre er gewissermaßen auf halbem Weg stehen geblieben.
3.4. Die gegen die in Prüfung
gezogene Bestimmung erhobenen Bedenken treffen daher nach Ansicht der Bundesregierung auch unter dem Gesichtspunkt eines Eingriffes in die verfassungsrechtliche Stellung bestimmter Berufungsbehörden nicht zu."
II. Die zur Beurteilung der vorliegenden Fälle insbesondere maßgeblichen Bestimmungen des B-VG lauten:
"Artikel 118. (1) Der Wirkungsbereich der Gemeinde ist ein eigener und ein vom Bund oder vom Land übertragener.
(2) ...
(3) Der Gemeinde sind zur Besorgung im eigenen Wirkungsbereich die behördlichen Aufgaben insbesondere in folgenden Angelegenheiten gewährleistet:
1. ...
9. örtliche Baupolizei, soweit sie nicht bundeseigene Gebäude, die öffentlichen Zwecken dienen (Artikel 15 Absatz 5) zum Gegenstand hat; ...
10. ...
(4) Die Gemeinde hat die Angelegenheiten des eigenen Wirkungsbereiches im Rahmen der Gesetze und Verordnungen des Bundes und des Landes in eigener Verantwortung frei von Weisungen und - vorbehaltlich der Bestimmungen des Artikels 119a Absatz 5 - unter Ausschluß eines Rechtsmittels an Verwaltungsorgane außerhalb der Gemeinde zu besorgen. Dem Bund und dem Land kommt gegenüber der Gemeinde bei Besorgung ihres eigenen Wirkungsbereiches ein Aufsichtsrecht (Artikel 119a) zu. ...
(5) ..."
"Artikel 119a. (1) ...
(5) Wer durch den Bescheid eines Gemeindeorgans in Angelegenheiten des eigenen Wirkungsbereiches in seinen Rechten verletzt zu sein behauptet, kann nach Erschöpfung des Instanzenzuges (Artikel 118 Absatz 4) innerhalb von zwei Wochen nach Erlassung des Bescheides dagegen Vorstellung bei der Aufsichtsbehörde erheben. Diese hat den Bescheid, wenn Rechte des Einschreiters durch ihn verletzt werden, aufzuheben und die Angelegenheit zur neuerlichen Entscheidung an die Gemeinde zu verweisen. Für Städte mit eigenem Statut kann die zuständige Gesetzgebung (Absatz 3) anordnen, daß die Vorstellung an die Aufsichtsbehörde nicht stattfindet.
(6) ..."
"Artikel 129a. (1) Die unabhängigen Verwaltungssenate erkennen nach Erschöpfung des administrativen Instanzenzuges, sofern ein solcher in Betracht kommt,
1. ...
3. in sonstigen Angelegenheiten, die ihnen durch die die einzelnen Gebiete der Verwaltung regelnden Bundes- oder Landesgesetze zugewiesen werden,
4. ..."
III. Der Verfassungsgerichtshof hat über die gemäß den §§187 und 404 ZPO iVm. § 35 Abs 1 VerfGG 1953 zur gemeinsamen Beratung und Entscheidung verbundenen Anträge erwogen:
1. Zur Zulässigkeit:
1.1. Wie der Verfassungsgerichtshof in seiner bisherigen Judikatur ausgesprochen hat, ist der Umfang der zu prüfenden und im Falle ihrer Rechtswidrigkeit aufzuhebenden Bestimmung derart abzugrenzen, daß einerseits nicht mehr aus dem Rechtsbestand ausgeschieden wird, als Voraussetzung für den Anlaßfall ist, andererseits aber der verbleibende Teil keine Veränderung seiner Bedeutung erfahren soll (vgl. VfSlg. 8155/1977). Es ist dabei in jedem Einzelfall abzuwägen, ob und welchem dieser Ziele der Vorrang gebührt (VfSlg. 7376/1974, 7786/1976, 13.701/1994). Die Grenzen einer (möglichen) Aufhebung müssen so gezogen werden, daß der verbleibende Gesetzesteil keinen völlig veränderten Inhalt bekommt, aber auch die mit der aufzuhebenden Gesetzesbestimmung in einem untrennbaren Zusammenhang stehenden Bestimmungen erfaßt werden. Der Verfassungsgerichtshof hält an diesen Grundsätzen, die sowohl auf von Amts wegen als auch auf auf Antrag eingeleitete Gesetzesprüfungsverfahren zutreffen (so VfSlg. 8155/1977, 13.701/1994), fest.
1.2. In den vorliegenden Fällen bezieht sich jeweils nur die Wortfolge "Ordnungs- oder" auf die den Anträgen zugrunde liegenden Sachverhalte. Die Hauptanträge auf Aufhebung des gesamten Abs 2 des § 36 AVG erweisen sich daher als zu weit gefaßt und sind zurückzuweisen.
1.3. Die Eventualanträge auf Aufhebung der in § 36 Abs 2 AVG enthaltenen Wortfolge "Ordnungs- oder" sind zulässig.
2. In der Sache:
2.1. In den den Anträgen zu G47/99 und G74/99 zugrunde liegenden Verfahren handelt es sich um Angelegenheiten der Baupolizei, die gemäß Art 118 Abs 3 Z 9 B-VG in den eigenen Wirkungsbereich der Gemeinden fallen. Die im Zusammenhang mit einem baupolizeilichen Verfahren zu verhängenden Ordnungsstrafen sind Maßnahmen der Verfahrenspolizei und nach ständiger Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes (zB VwSlg. 15.049 (A)/1927, 15.960 (A)/1930, 8457 (A)/1973, 12.429 (A)/1987) Disziplinarmittel, für deren Anordnung das AVG gilt (vgl. auch VfSlg. 4772/1964). Im Sinne des Adhäsionsprinzips ist daher die Gemeinde im Rahmen des von ihr im eigenen Wirkungsbereich zu besorgenden baupolizeilichen Verfahrens ebenfalls zuständig, allfällige Ordnungs- oder Mutwillensstrafen zu verhängen.
2.2. § 36 Abs 2 AVG sah bis zur Novelle BGBl. I 158/1998 vor, daß gegen Bescheide, mit welchen eine Ordnungs- oder Mutwillensstrafe verhängt wird, die Berufung ohne aufschiebende Wirkung an die vorgesetzte Behörde zulässig ist, die endgültig entscheidet (zum Begriff der vorgesetzten Behörde vgl. VfSlg. 4772/1964). Mit der genannten Novelle wurde § 36 Abs 2 AVG dahingehend geändert, daß gegen Bescheide, mit welchen eine Ordnungs- oder Mutwillensstrafe verhängt wird, die Berufung an den UVS zulässig ist, der durch Einzelmitglied zu entscheiden hat.
2.3. § 36 Abs 2 AVG ermöglicht somit die Berufung an den UVS und gilt auch dann, wenn die Ordnungs- oder Mutwillensstrafe von einer Gemeinde im Zuge eines in ihren eigenen Wirkungsbereich fallenden Verfahrens verhängt wurde. Diese Bestimmung des AVG führt daher im Ergebnis dazu, daß die gemäß Art 119a Abs 5 B-VG verfassungsgesetzlich vorgesehene Vorstellung an die Aufsichtsbehörde zu Gunsten einer Berufung an den UVS ausgeschaltet wird. Im Effekt wird somit ein Rechtsmittel von der Gemeinde an eine Verwaltungsbehörde außerhalb der Gemeinde eröffnet, was gemäß Art 118 Abs 4 B-VG nur im Rahmen des Aufsichtsrechts in Form des in Art 119a Abs 5 B-VG geregelten Vorstellungsverfahrens zulässig wäre.
§ 36 Abs 2 AVG ermächtigt den UVS somit auch zu Sachentscheidungen in Angelegenheiten, die in den eigenen Wirkungsbereich der Gemeinde fallen. Der Verfassungsgerichtshof hat bereits in seiner Entscheidung VfSlg. 14.950/1997 dargetan, unter welchen Voraussetzungen von Verfassungs wegen eine derartige Regelung einfachgesetzlich erfolgen kann. Keiner der beiden Fälle - der des Art 118 Abs 7 B-VG oder der des Art 119a Abs 7 B-VG - ist hier gegeben. Auch der Umstand, daß die Vorstellung durch eine gemäß Art 119a Abs 5, letzter Satz, B-VG ergangene Bestimmung - nämlich § 75 Abs 1 des Wiener Neustädter Stadtrechts 1977, LGBl. 1025 - ausgeschlossen wurde, vermag an der verfassungsrechtlichen Beurteilung des § 36 Abs 2 AVG nichts zu ändern.
2.4. Entscheidend zur Beantwortung der Frage, ob § 36 Abs 2 AVG einer verfassungsrechtlichen Prüfung standhalten kann, ist, in welchem Verhältnis die Bestimmung des Art 129a Abs 1 Z 3 B-VG zu Art 118 Abs 4 B-VG steht. In der Literatur wird einerseits - so etwa Thienel, Verfassungsrechtliche Probleme der derzeitigen Ausgestaltung der unabhängigen Verwaltungssenate, in: Pernthaler (Hrsg.), Unabhängige Verwaltungssenate und Verwaltungsgerichtsbarkeit (1993) 5 (8 f.); Grabenwarter, Zwingt Straßburg zur Änderung des österreichischen Raumplanungs- und Baurechts? ZfV 1992, 605 (617 ff.); Messiner, Der Instanzenzug im AVG-Verfahren nach der StVO und dem KFG, ZVR 1990, 267; Walter/Thienel, Die Verwaltungsverfahrensnovellen 1998 (1999) 18 ff.; Köhler, Art 129a B-VG, in: Korinek/Holoubek (Hrsg.), Bundes-Verfassungsrecht (1999) Rz. 25 - die Auffassung vertreten, daß eine Anrufung des UVS erst nach Erschöpfung des administrativen Instanzenzuges, soferne ein solcher in Betracht kommt, möglich sei. Der Ausschluß der Vorstellung durch einfaches Gesetz sei verfassungswidrig.
Andererseits vertritt Mayer, Das Österreichische Bundes-Verfassungsrecht2 (1997) 353 f., die Auffassung, daß die in Art 129a Abs 1 Z 3 B-VG vorgesehenen "sonstigen Angelegenheiten" vom einfachen Gesetzgeber in die Zuständigkeit des UVS als Berufungsbehörde übertragen werden können, da Art 129a B-VG die UVS ausdrücklich zur Sicherung der Gesetzmäßigkeit der gesamten öffentlichen Verwaltung eingerichtet hat. Mayer, wie auch Moritz, Unabhängige Verwaltungssenate und eigener Wirkungsbereich der Gemeinde, ÖGZ 1992, 6 (11 f.), deren Ansicht sich die Bundesregierung im Ergebnis anschließt, vertreten somit den Standpunkt, daß der einfachgesetzlichen Übertragung von Zuständigkeiten an die UVS "der eigene Wirkungsbereich der Gemeinde ganz sicher nicht im Wege stehen" soll.
2.5. Der Verfassungsgerichtshof ist der Ansicht, daß dem Verfassungsgesetzgeber des Jahres 1988 bei der Beschlußfassung über die Einführung der UVS nicht unterstellt werden kann, daß in der Formulierung des Art 129a Abs 1 Z 3 B-VG ("in sonstigen Angelegenheiten, ...") eine pauschale Ermächtigung an den einfachen Gesetzgeber enthalten sein soll, entgegen Art 118 Abs 4 B-VG Entscheidungen über Rechtsmittel in Angelegenheiten des eigenen Wirkungsbereichs der Gemeinde an eine Behörde außerhalb der Gemeinde - den UVS - zu übertragen. In den Materialien zu Art 129a B-VG (132 BlgNR, XVII. GP) findet sich auch kein derartiger Hinweis.
Vielmehr ist darauf hinzuweisen, daß der Verfassungsgesetzgeber gerade mit dem Aufsichtsmittel der Vorstellung die Möglichkeit der Aufhebung gemeindlicher Verwaltungsakte, die den bestehenden Gesetzen oder Verordnungen widerstreiten, und somit eine - dem den Gemeinden von der Verfassung zugewiesenen Raum freier Betätigung entsprechende - spezifische Gesetzmäßigkeitskontrolle, vorgesehen hat.
2.6. Da § 36 Abs 2 AVG die Berufung an den UVS auch dann ermöglicht, wenn die Ordnungs- oder Mutwillensstrafe von einer Gemeinde im Zuge eines in ihren eigenen Wirkungsbereich fallenden Verfahrens verhängt wurde, ist die hier präjudizielle Wortfolge "Ordnungs- oder" wegen Verstoßes gegen Art 118 Abs 4 B-VG als verfassungswidrig aufzuheben.
3. Daß die Ordnungsstrafe in dem dem Antrag zu G158/99 zugrunde liegenden Fall im Zuge eines fremdenpolizeilichen Verfahrens - und somit nicht im eigenen Wirkungsbereich der Gemeinde - verhängt wurde, ist für das Gesetzesprüfungsverfahren nicht von Bedeutung, da eine zulässigerweise angefochtene Bestimmung vom Verfassungsgerichtshof unabhängig von ihrer Wirkung auf das Ausgangsverfahren auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu prüfen ist.
IV. Die Bestimmung einer Frist für das Außerkrafttreten der aufgehobenen Gesetzesstelle gründet sich auf Art 140 Abs 5 dritter und vierter Satz B-VG.
Der Ausspruch, daß frühere gesetzliche Bestimmungen nicht wieder in Wirksamkeit treten, beruht auf Art 140 Abs 6 erster Satz
Die Verpflichtung des Bundeskanzlers zur unverzüglichen Kundmachung der Aufhebung erfließt aus Art 140 Abs 5 erster Satz B-VG und § 64 Abs 2 VerfGG.