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VfGH vom 28.02.2011, g47/10

VfGH vom 28.02.2011, g47/10

Sammlungsnummer

19323

Leitsatz

Kein Verstoß der Ermächtigung zur Abstandnahme von der Anordnung der Schubhaft bzw Anwendung gelinderer Mittel im Fremdenpolizeigesetz gegen das Bestimmtheitsgebot; verfassungskonforme Interpretation möglich

Spruch

Der Antrag des unabhängigen Verwaltungssenates des Landes Oberösterreich wird abgewiesen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. Anlassverfahren, Antragsvorbringen und Vorverfahren

1. Der unabhängige Verwaltungssenat des Landes Oberösterreich (im Folgenden: UVS) hat aus Anlass zweier bei ihm anhängiger Schubhaftbeschwerden den auf Art 140 B-VG gestützten Antrag "auf Aufhebung des ersten Satzes des § 77 Abs 1 des Fremdenpolizeigesetzes, BGBl. Nr. I 100/2005" gestellt.

2. Diesem Antrag liegen folgende Sachverhalte zu Grunde:

2.1. Mit Bescheid der Bezirkshauptmannschaft Linz-Land vom wurde B.d.C. (alias J.P.S.), ein Staatsangehöriger von Guinea-Bissau, in Schubhaft genommen.

Der dagegen an den UVS erhobenen Schubhaftbeschwerde gab dieser mit Bescheid vom Folge und stellte die Anhaltung in Schubhaft als rechtswidrig fest, was damit begründet wurde, dass gelindere Mittel den Sicherungszweck in gleicher Weise erfüllt hätten.

Nachdem B.d.C. (alias J.P.S.) dem daraufhin aufgetragenen gelinderen Mittel (Unterkunftnahme an einer näher bestimmten Adresse und regelmäßige Meldung bei der Polizeistation Traun) nicht nachgekommen war, wurde er mit Bescheid der Bezirkshauptmannschaft Linz-Land erneut in Schubhaft genommen.

Die dagegen erhobene Schubhaftbeschwerde wies der UVS mit Bescheid vom insofern ab, als sie den Zeitraum der Anhaltung bis zur Bescheiderlassung des UVS betraf (Spruchpunkt I). Im Übrigen (Spruchpunkt II) wurde festgestellt, dass die für die weitere Anhaltung maßgeblichen Voraussetzungen nicht mehr vorlägen; angeordnet wurde zugleich, dass der Fremde an einer näher bezeichneten Adresse Unterkunft zu nehmen, sich jeden Tag bei der Polizeiinspektion Traun zu melden und binnen gesetzter Frist die allgemeine gesetzliche Meldepflicht zu erfüllen habe.

2.2. Gegen beide zuvor genannten Entscheidungen des UVS erhob die Sicherheitsdirektion für das Bundesland Oberösterreich Amtsbeschwerde gemäß § 10 des Fremdenpolizeigesetzes, BGBl. I 100/2005, (im Folgenden: FPG) an den Verwaltungsgerichtshof.

Der Verwaltungsgerichtshof hob mit Erkenntnis vom , 2009/21/0276, den Bescheid des UVS vom wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes auf. Begründend führte der Verwaltungsgerichtshof - zusammengefasst - aus, dass die Anwendung eines gelinderen Mittels auf Grund der Umstände des Falles nicht in Betracht gezogen hätte werden dürfen. Darüber hinaus führte der Verwaltungsgerichtshof aus:

"Im Hinblick auf die allgemeinen Bemerkungen im angefochtenen Bescheid zu § 77 Abs 1 FPG und die Deutung der diesbezüglichen Ausführungen im Erkenntnis vom , Zl. 2007/21/0542, in der Amtsbeschwerde ist noch Folgendes klar zu stellen:

In diesem (schon mehrfach erwähnten) Erkenntnis hat der Verwaltungsgerichtshof dargelegt, dass die Entscheidung über die Anwendung gelinderer Mittel im Sinn des § 77 Abs 1 FPG eine Ermessensentscheidung ist. Weiters wurde darauf hingewiesen, dass auch die Anwendung gelinderer Mittel das Vorliegen eines Sicherungsbedürfnisses voraussetzt. Fehlt ein Sicherungsbedarf, dann darf weder Schubhaft noch ein gelinderes Mittel verhängt werden. Insoweit besteht kein Ermessensspielraum. Der Behörde kommt aber auch dann kein Ermessen zu, wenn der Sicherungsbedarf im Verhältnis zum Eingriff in die persönliche Freiheit nicht groß genug ist, um die Verhängung von Schubhaft zu rechtfertigen. Das ergibt sich schon daraus, dass Schubhaft immer ultima ratio sein muss (siehe dazu schon das Erkenntnis vom , Zl. 2007/21/0043). Mit anderen Worten: Kann das zu sichernde Ziel auch durch die Anwendung gelinderer Mittel erreicht werden, dann wäre es rechtswidrig, Schubhaft zu verhängen; in diesem Fall hat die Behörde lediglich die Anordnung des gelinderen Mittels vorzunehmen (siehe idS bereits das Erkenntnis vom , Zl. 2007/21/0246). Der Ermessenspielraum besteht also für die Behörde nur insoweit, als trotz eines die Schubhaft rechtfertigenden Sicherungsbedarfs davon Abstand genommen und bloß ein gelinderes Mittel angeordnet werden kann. Diesbezüglich läge eine Rechtswidrigkeit nur dann vor, wenn - wie im vorliegenden Fall - die eingeräumten Grenzen des Ermessens überschritten wurden, also nicht vom Ermessen im Sinne des Gesetzes Gebrauch gemacht wurde."

Mit Erkenntnis vom selben Tag, 2009/21/0281, wurde ebenso Spruchpunkt II des Bescheides des UVS vom - soweit damit festgestellt wurde, dass die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen nicht mehr vorlägen - wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufgehoben; auch hier führte der Verwaltungsgerichtshof aus, dass im konkreten Fall die Anwendung von gelinderen Mitteln nicht in Betracht hätte gezogen werden dürfen. Soweit dem Fremden unter Spruchpunkt II des Bescheides des UVS als gelinderes Mittel bestimmte Aufträge erteilt wurden, wurde dies vom Verwaltungsgerichtshof wegen Rechtswidrigkeit infolge Unzuständigkeit der Behörde aufgehoben.

3.1. Zur Antragslegitimation führt der UVS in seinem vorliegenden Antrag auf Aufhebung des § 77 Abs 1 erster Satz FPG aus:

"Im fortgesetzten Verfahren ist der Oö. Verwaltungssenat gemäß § 63 Abs 1 VwGG an die zuvor dargestellte Rechtsanschauung des VwGH gebunden; er hat daher u.a. auch die Bestimmung des § 77 Abs 1 erster Satz FPG, und zwar mit dem ihr vom VwGH zugeschriebenen Inhalt, anzuwenden."

3.2. Inhaltlich bringt der UVS - zusammengefasst - vor, dass sich aus § 77 Abs 1 erster Satz FPG im Ergebnis eine formalgesetzliche Delegation auf die Vollzugsebene ergebe, was sowohl dem Bundesverfassungsgesetz vom über den Schutz der persönlichen Freiheit, BGBl. 684, idgF (im Folgenden: PersFrSchG) als auch Art 18 Abs 1 B-VG widerspreche.

4.1. Die Bundesregierung verneinte in ihrer Äußerung vom die korrekte Abgrenzung des Aufhebungsbegehrens und trat dem Antrag des UVS auch inhaltlich entgegen.

4.2. Der UVS replizierte mit Schreiben vom auf diese Äußerung.

II. Rechtslage

§ 77 Abs 1 FPG lautet (der angefochtene erste Satz ist hervorgehoben):

"Gelinderes Mittel

§77. (1) Die Behörde kann von der Anordnung der Schubhaft Abstand nehmen, wenn sie Grund zur Annahme hat, dass deren Zweck durch Anwendung gelinderer Mittel erreicht werden kann. Gegen Minderjährige hat die Behörde gelindere Mittel anzuwenden, es sei denn, sie hätte Grund zur Annahme, dass der Zweck der Schubhaft damit nicht erreicht werden kann."

III. Erwägungen

1. Der Antrag des UVS ist zulässig:

Der Verfassungsgerichtshof ist nicht berechtigt, durch seine Präjudizialitätsentscheidung den antragstellenden unabhängigen Verwaltungssenat an eine bestimmte Rechtsauslegung zu binden, weil er damit indirekt der Entscheidung dieser Behörde in der Hauptsache vorgreifen würde. Gemäß der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes darf daher ein Antrag iSd Art 140 B-VG bzw. des Art 139 B-VG nur dann wegen mangelnder Präjudizialität zurückgewiesen werden, wenn es offenkundig unrichtig (denkunmöglich) ist, dass die - angefochtene - generelle Norm eine Voraussetzung der Entscheidung des antragstellenden unabhängigen Verwaltungssenates im Anlassfall bildet (vgl. etwa VfSlg. 14.464/1996, 15.293/1998, 16.632/2002, 16.925/2003).

Dass der UVS - wie er in seinem Antrag ausführt - bei den seinem Antrag zu Grunde liegenden Verfahren jedenfalls auch den angefochtenen ersten Satz in § 77 Abs 1 FPG anzuwenden hat, ist zumindest denkmöglich. Da auch sonst alle notwendigen Prozessvoraussetzungen vorliegen, ist der Antrag zulässig.

2. Der Antrag ist jedoch im Ergebnis nicht begründet:

2.1. Seine Bedenken, § 77 Abs 1 erster Satz FPG verstoße gegen das Bestimmtheitsgebot, begründete der UVS wie folgt:

Wenn § 77 Abs 1 erster Satz FPG festlege, "dass der Fremdenpolizeibehörde eine Wahlmöglichkeit dahin zukommt, ob sie in einem konkreten Anlassfall entweder eine Freiheitsentziehung (in Form der Verhängung von Schubhaft) oder gelindere Mittel (z.B.:

periodische Meldung bei einer Sicherheitsdienststelle, Aufenthalt an einem bestimmten Ort) anordnet", werde die Bestimmung den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht gerecht. Denn:

"Insoweit fehlt es nämlich schon an dem aus Art 1 PersFrSchG resultierendem Erfordernis, dass eine derartige Wahlmöglichkeit zum einen einer expliziten gesetzlichen Verankerung bedürfe und zum anderen, dass die hierfür maßgeblichen materiellen Determinanten ebenfalls bereits unmittelbar aus dem Gesetz ableitbar sein müssten.

Allein von seiner Textierung her besehen scheint § 77 Abs 1 FPG zwar die Möglichkeit, dass die Behörde dann, wenn sie Grund zur Annahme hat, dass der mit der Schubhaft verfolgte Zweck auch durch die Anwendung gelinderer Mittel erreicht werden kann, entweder von einer Schubhaftverhängung Abstand nehmen kann oder nicht, jedenfalls auszuschließen: Reichen auch gelindere Mittel dazu hin, den Zweck zu erreichen, dann ist eine Schubhaftverhängung von vornherein unzulässig - eine dementsprechende Wahlmöglichkeit und ein darauf bezügliches Ermessen scheidet somit aus, wie sich auch aus § 77 Abs 4 FPG zu ergeben scheint.

Dass § 77 Abs 1 erster Satz FPG hingegen in der Weise zu verstehen ist, dass selbst dann, wenn die Voraussetzungen für die Verhängung von Schubhaft vorliegen, eine Wahlmöglichkeit der Behörde dahin, stattdessen bloß gelindere Mittel anzuordnen, besteht, ergibt sich aus dem Gesetz selbst weder explizit noch lässt sich Derartiges auf Grund hinreichend deutlicher Anhaltspunkte für eine ausschließlich in diese Richtung gebotene Interpretation erschließen."

Das Erfordernis inhaltlicher Determinierung sieht der antragstellende UVS "ganz besonders für den Bereich des Fremdenrechts".

2.2. Diesen verfassungsrechtlichen Bedenken ist entgegenzuhalten, dass § 77 Abs 1 erster Satz FPG - auch im Lichte des PersFrSchG - einer verfassungskonformen Interpretation zugänglich ist:

Wie der Verfassungsgerichtshof bereits in seinem Erkenntnis VfSlg. 17.891/2006 zur Schubhaftbestimmung des § 76 Abs 2 Z 4 FPG festgehalten hat, ist keine Verfassungswidrigkeit darin zu erblicken, dass "es der Gesetzgeber - im Wissen um die Verpflichtung der Behörden, von der Anordnung der Schubhaft jedenfalls Abstand zu nehmen, wenn sie im Einzelfall nicht notwendig und verhältnismäßig ist (zur entsprechenden Verpflichtung der unabhängigen Verwaltungssenate vgl. auch VfSlg. 14.981/1997 und 17.288/2004, wonach 'im Einzelfall eine Prüfung der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit der Schubhaft erforderlich ist') - den vollziehenden Behörden (unter der nachprüfenden Kontrolle der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts) überlässt, die verfassungsrechtlich gebotene Abwägung zwischen dem öffentlichen Interesse an der Sicherung des Verfahrens und der Schonung der persönlichen Freiheit des Betroffenen vorzunehmen".

Nichts anderes gilt für die Regelung des § 77 Abs 1 FPG, dessen Ermächtigung in der dargelegten verfassungsrechtlich gebotenen Form auszuüben ist.

In diesem Sinn versteht im Übrigen auch der Verwaltungsgerichtshof, wie die unter Punkt I.2.2. zitierten Erkenntnisse zeigen (vgl. insbesondere die wörtlich wiedergegebenen Ausführungen des Verwaltungsgerichtshofes zu 2009/21/0276), diese Norm.

IV. Ergebnis und damit zusammenhängende Ausführungen

1. Der Antrag war daher abzuweisen.

2. Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nicht öffentlicher Sitzung getroffen werden.