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VfGH vom 11.03.1987, g36/87

VfGH vom 11.03.1987, g36/87

Sammlungsnummer

11295

Leitsatz

In § 31 Abs 1 lita GGG unabhängig vom Verschulden vorgesehene Gebührenerhöhung für den Fall, daß eine Gebühr nicht oder nicht vollständig entrichtet wurde; Überschreitung des rechtspolitischen Spielraumes; Verstoß der Buchstaben "a," und "e," der Regelung gegen den Gleichheitssatz; Herbeiführung der Anlaßfallwirkung für weitere Beschwerdefälle gem. Art 140 Abs 7 zweiter Satz B-VG

Spruch

Die Buchstaben "a," und "e," in § 31 Abs 1 lita des BG vom über die Gerichts- und Justizverwaltungsgebühren (Gerichtsgebührengesetz-GGG), BGBl. Nr. 501, werden als verfassungswidrig aufgehoben.

Frühere gesetzliche Bestimmungen treten nicht wieder in Wirksamkeit.

Die Aufhebung tritt mit Ablauf des in Kraft.

Der (aufgehobene) Buchstabe "e," ist auf jenen Tatbestand nicht mehr anzuwenden, der der beim VfGH zu G73/87, der (aufgehobene) Buchstabe "a," ist auf jenen Tatbestand nicht mehr anzuwenden, der der beim VfGH zu G74/87 anhängigen Rechtssache zu Grunde liegt.

Der Bundeskanzler ist zur unverzüglichen Kundmachung der Aufhebung im Bundesgesetzblatt verpflichtet.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Beim VfGH sind neun Beschwerden (protokolliert zu B 675 und 696/85 sowie zu B 61, 170, 233, 664 und 914-916/86) gegen Bescheide von Präsidenten von Landesgerichten anhängig, mit welchen Berichtigungsanträgen gegen Zahlungsaufträge von Kostenbeamten betreffend gerichtliche Mehrgebühren nicht Folge gegeben worden war.

2. Der VfGH hat aus Anlaß dieser neun Beschwerden beschlossen, die Buchstaben "a," und "e," in § 31 Abs 1 lita des Gerichtsgebührengesetzes (GGG), BGBl. 501/1984, gemäß Art 140 Abs 1 B-VG von Amts wegen auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu prüfen.

3. Die Bundesregierung hat in den Gesetzesprüfungsverfahren von Äußerungen in der Sache abgesehen und die Setzung einer Frist gemäß Art 140 Abs 5 B-VG beantragt.

II. Der VfGH hat in den - zur gemeinsamen Entscheidung verbundenen - Gesetzesprüfungsverfahren erwogen:

1. Die Anlaßfälle betreffen Pauschalgebühren nach § 2 Z 1 GGG, und zwar die Beschwerden zu B675/85, B61/86, B233/86, B664/86 und zu B914-916/86 solche nach deren lita (bei Einbringung von Klagen) und die Beschwerden zu B696/85 und zu B170/86 solche nach deren lite (bei Einbringung von Exekutionsanträgen).

§ 31 Abs 1 GGG lautet wie folgt (die in Prüfung gezogenen Buchstaben sind hervorgehoben):

"Wird der Anspruch des Bundes auf eine Gebühr mit der Überreichung der Eingabe (§2 Z 1 lita bis c, e, h, Z 2 und 7) begründet und ist die Gebühr nicht oder nicht vollständig beigebracht worden, so haben die zur Zahlung der Gebühr verpflichteten Personen den fehlenden Gebührenbetrag

a) in den Fällen des § 2 Z 1 lita, b, e, h Z 2 und 7 im Ausmaß von 150 % des jeweiligen Tarifansatzes,

b) in den Fällen des § 2 Z 1 litc im Ausmaß von 125 % des jeweiligen Tarifansatzes

zu entrichten."

Der VfGH geht auf Grund dessen davon aus, daß die Vorschreibung des Mehrbetrages nach dieser Gesetzesstelle in den Anlaßfällen, in denen Klagen eingebracht worden waren, auf die Zitierung der lita des § 2 Z 1 und in jenen Anlaßfällen, in denen Exekutionsanträge eingebracht worden waren, auf die Zitierung der lite des § 2 Z 1 in § 31 Abs 1 lita GGG

gestützt worden ist. Diese Gesetzesstellen (Buchstaben) sind daher präjudiziell.

Da auch die übrigen Prozeßvoraussetzungen gegeben sind, sind die Gesetzesprüfungsverfahren zulässig.

2. Der VfGH hat seine Bedenken gegen die in Prüfung gezogenen Stellen des § 31 Abs 1 lita GGG im Beschluß vom , B675/85 ua., wie folgt dargelegt:

"Der VfGH hat in seiner jüngsten Rechtsprechung zu den Folgen verspäteter oder unterlassener Gebührenanzeigen nach § 9 Gebührengesetz ( u.a., G146/85 u.a., G8/86 u.a.) ausgesprochen, daß eine gesetzliche Regelung, die einem Gebührenschuldner eine 50 %ige Erhöhung einer Abgabe ohne Berücksichtigung der Entschuldbarkeit seiner Versäumnis oder ihres sonstigen Gewichtes auferlegt, eine überschießende (exzessive) Reaktion auf die Unterlassung des Abgabepflichtigen darstellt, die den rechtspolitischen Spielraum des Gesetzgebers überschreitet und gegen den Gleichheitsgrundsatz verstößt. Im letztgenannten dieser Erkenntnisse hat der VfGH insbesondere hervorgehoben, daß diese Bedenken bei - der Höhe nach unbegrenzten - Hundertsatzgebühren Platz greifen.

Die in Prüfung gezogene Regelung sieht für den Fall, daß eine Gebühr nicht oder nicht vollständig entrichtet wurde, eine Erhöhung um 50 % des jeweiligen Tarifansatzes vor. Diese Gebührenerhöhung scheint unabhängig vom Vorwurf eines Verschuldens und von einer Bedachtnahme auf besondere Umstände des Einzelfalles einzutreten. Es scheinen daher dieselben verfassungsrechtlichen Bedenken zu bestehen, wie sie in den oben genannten Erkenntnissen zur Aufhebung der Bestimmungen des § 9 Gebührengesetz geführt haben. Die in den Tarifposten 1 und 4 festgelegten Pauschalgebühren für das zivilgerichtliche Verfahren erster Instanz nach lita und für das Exekutionsverfahren nach lite des § 2 Z 1 GGG sind nämlich - anders als zB die an sich niedrigen, festen Eingabengebühren nach der Z 2 des § 2 (s. dazu das Erkenntnis des ) - der Höhe nach nicht begrenzte Hundertsatzgebühren.

Den - vorläufigen - Bedenken des VfGH scheint nicht entgegenzustehen, daß das gerichtliche Gebührenrecht anders als das allgemeine Abgabenrecht keinen Verspätungszuschlag und keinen Säumniszuschlag vorsieht, welche die Funktion von Verzugszinsen erfüllen, wobei zumindest der Verspätungszuschlag offenbar auch den mit der Ermittlung der Besteuerungsgrundlagen verbundenen zusätzlichen Verwaltungsaufwand abdecken soll (s. hiezu u.a.). Das Fehlen dieser Zuschläge, deren Höhe bis zu 10 % (§135 BAO) und 2 % (§219 BAO) beträgt, dürfte nämlich einen Mehrbetrag im Ausmaß von 50 % wohl nicht rechtfertigen. Es scheint somit eine - der Höhe nach unbegrenzte - zwingende Mehrgebühr von 50 % der jeweiligen Gebührenschuld auch nicht (mehr) der pauschalen Abgeltung des durch die Nichtentrichtung entstandenen Verwaltungsaufwandes zu dienen. Ebensowenig scheint das Ausmaß der Gebührenerhöhung dadurch zu rechtfertigen zu sein, daß hier besondere Regelungen über die Rechtzeitigkeit des Einlangens von Gerichtsgebühren (§31 Abs 3 GGG) vorhanden sind.

Auch die in § 9 Abs 2 des Gerichtlichen

Einbringungsgesetzes 1962, BGBl. 288, vorgesehene - im Ermessen der

Behörde stehende ("Gebühren . . . können auf Antrag nachgesehen

werden . . .") - Möglichkeit eines Gebührennachlasses in besonderen

Fällen scheint an der Unsachlichkeit der in Prüfung gezogenen Regelung nichts zu ändern."

3. In den Gesetzesprüfungsverfahren ist nichts vorgebracht worden und auch sonst nichts hervorgekommen, was gegen die Richtigkeit der oben wiedergegebenen Bedenken spräche.

Es ist daher auszusprechen, daß die Buchstaben "a," und "e," in § 31 Abs 1 lita GGG als verfassungswidrig aufgehoben werden.

III. 1. Beim VwGH sind zwei Beschwerden gegen Bescheide von Präsidenten von Gerichtshöfen I. Instanz anhängig, denen Gebührenvorschreibungen gemäß § 31 GGG zugrundeliegen.

Aus Anlaß dieser Beschwerdefälle begehrt der VwGH in dem beim VfGH zu G73/87 protokollierten Antrag, den Buchstaben "e," in § 31 Abs 1 lita GGG, und in dem beim VfGH zu G74/87 protokollierten Antrag, den Buchstaben "a," in der genannten Gesetzesbestimmung als verfassungswidrig aufzuheben.

Diese Anträge sind beim VfGH am eingelangt.

2. Eine formelle Einbeziehung dieser Anträge in das Gesetzesprüfungsverfahren war im Hinblick auf das fortgeschrittene Prozeßgeschehen nicht mehr möglich.

Der VfGH hat jedoch beschlossen, von der ihm gemäß Art 140 Abs 7 zweiter Satz B-VG eingeräumten Befugnis Gebrauch zu machen und (mit dem vorletzten Absatz des Spruches) die Anlaßfallwirkung auch für diese beim VwGH anhängigen Beschwerdesachen herbeizuführen.

3. Damit erübrigt sich eine weitere Erledigung der vom VwGH gestellten Gesetzesprüfungsanträge.

IV. Die übrigen Aussprüche beruhen auf Art 140 Abs 5 und 6

B-VG.

Im Hinblick darauf, daß die für eine allfällige Ersatzregelung maßgeblichen Fragen im wesentlichen dieselben sind wie im Falle der (bereits mit den oben unter Pkt. II.2. angeführten Erkenntnissen) aufgehobenen Bestimmungen des § 9 Gebührengesetz und daß somit die erforderlichen legistischen Arbeiten voraussichtlich keinen längeren Zeitraum mehr in Anspruch nehmen sollten, hat der VfGH bei Bestimmung der Frist gemäß Art 140 Abs 5 B-VG nicht den gesamten hiefür zur Verfügung stehenden Zeitraum ausgeschöpft.

Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 erster Satz VerfGG in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.